MDR: Hand­werks­be­trie­be wur­den ten­den­zi­ell vergessen

Die europäische Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, MDR) beschäftigt die Branche zwei Jahre nach Geltungsbeginn immer noch sehr. Seit 2017 sind die – meisten – Rahmenbedingungen zumindest auf dem Papier bekannt. Wie sich das europäische Recht auf die nationalen Gesetze auswirkt und was es für die OT-Betriebe bedeutet, wurde in den vergangenen Jahren von Verbänden und Fachgesellschaften ausgearbeitet. Ist damit alles klar? Nein, meint Roland Weghorn.

Der Audi­tor mit lan­ger Berufs­er­fah­rung im Bereich des Qua­li­täts­ma­nage­ments berät Unter­neh­men und hält Vor­trä­ge zur MDR. Er kennt die Pro­ble­me und Fra­gen der Bran­che und hat sich inten­siv damit aus­ein­an­der­ge­setzt. Des­halb über­rascht sein Urteil nicht, dass die MDR für Gesund­heits­hand­wer­ke eine gro­ße Auf­ga­be dar­stellt, die noch lan­ge nicht abge­schlos­sen ist. Ver­än­de­run­gen bei Fris­ten und Rah­men­be­din­gun­gen zwin­gen die Betrie­be stets, sich mit dem The­ma aus­ein­an­der­zu­setz­ten. Im Gespräch mit der OT-Redak­ti­on erklärt Roland Weg­horn, wo der Schuh bei den Betrie­ben drückt.

OT: Wel­che Vor­tei­le haben OT-Betrie­be, wenn sie die MDR rich­tig umsetzen?

Roland Weg­horn: Da die MDR ein Gesetz dar­stellt, heißt das, dass die­se Betrie­be im Rah­men des Geset­zes agie­ren und nicht ille­gal unter­wegs sind. Ein wei­te­rer Vor­teil liegt dar­in, dass die Bran­che über die Betrie­be zeigt, dass sie „up to date“ ist und sich den Her­aus­for­de­run­gen stellt.

OT: Wenn es Schwie­rig­kei­ten bei der Umset­zung gab bzw. gibt, wel­che Fak­to­ren waren dann dafür aus­schlag­ge­bend aus Ihrer Sicht?

Weg­horn: Aus mei­ner Sicht ist die größ­te Schwie­rig­keit die Unüber­blick­bar­keit der MDR. Mit 175 Sei­ten in Schrift­grö­ße 9,5, 123 Arti­keln, 17 Anhän­gen, 71 Begriffs-Defi­ni­tio­nen und allein 13 Sei­ten mit 101 Grün­den, war­um es die MDR braucht, ist es für Hand­werks­be­trie­be schwer, zu durch­bli­cken, wel­che Rege­lun­gen über­haupt gel­ten – geschwei­ge denn, inhalt­lich rich­tig zu begrei­fen, was eigent­lich gefor­dert ist. Beginnt man die MDR zu lesen, schläft man nach weni­gen Sei­ten tief und fest – ein gutes Mit­tel gegen Schlaf­pro­ble­me, aber schwe­re Kost. Sie ver­zei­hen mei­ne Iro­nie, aber jeder, der sich ernst­haft mit der MDR aus­ein­an­der­setzt, wird bestä­ti­gen, dass Hand­werks­be­trie­be bei der Umset­zung der MDR ten­den­zi­ell ver­ges­sen wurden.

OT: Wel­che Rol­le spiel­te die Grö­ße des Betriebs bei der Umsetzung?

Weg­horn: Bezüg­lich der Umset­zung spielt die Unter­neh­mens­grö­ße weni­ger oder gar kei­ne Rol­le, denn die Anfor­de­run­gen zie­len auf das Medi­zin­pro­dukt ab und sol­len den Schutz bei der Anwen­dung bezie­hungs­wei­se die Ver­mei­dung unnö­ti­ger Risi­ken gewähr­leis­ten und rich­ten sich nach der Rol­le, die Unter­neh­men ein­neh­men. Die hier gestell­ten Anfor­de­run­gen gel­ten damit immer unab­hän­gig von einer Unter­neh­mens­grö­ße. Posi­tio­niert sich ein Sani­täts­haus aus­schließ­lich als Händ­ler, so gilt Arti­kel 14 mit sei­nen Anfor­de­run­gen. Tritt das Unter­neh­men auch als Her­stel­ler auf – und das sind die OT-Betrie­be ja in aller Regel als „Son­der­an­fer­ti­ger“ –, so gilt Arti­kel 10 mit all sei­nen For­de­run­gen inklu­si­ve der Über­prü­fung und Erklä­rung der Kon­for­mi­tät ihrer Pro­duk­te. Kommt jetzt auch noch Ver­ein­ze­lung ins Spiel, was im Care-Bereich häu­fig anzu­tref­fen ist, dann folgt mit Arti­kel 16 ein Anfor­de­rungs­rei­gen, der alles ande­re in den Schat­ten stellt. Und dann gibt es noch die Rol­le des Impor­teurs und die des Bevoll­mäch­tig­ten, die auch nicht ohne sind. Ten­den­zi­ell wür­de ich sagen, je grö­ßer der Betrieb, des­to schwer­fäl­li­ger und in der Regel auch kom­ple­xer wird die Umset­zung. Je klei­ner, des­to fle­xi­bler kann auf die Anfor­de­run­gen reagiert wer­den. Aller­dings fal­len in klei­ne­ren Betrie­ben dann bis­he­ri­ge Ange­bo­te wie die Ver­ein­ze­lung auch ein­fach weg, denn das ist in dem gefor­der­ten Maße gar nicht zu stemmen.

OT: Gibt es wei­ter­hin Bedarf an Hil­fe­stel­lung bezüg­lich der MDR?

Weg­horn: Unbe­dingt. Zum einen hat allein der Wech­sel von der bis­he­ri­gen Richt­li­nie in Ver­bin­dung mit dem MPG (Medi­zin­pro­duk­te­ge­setz, Anm. d. Red.) zur MDR vie­les ver­än­dert. Zum ande­ren erschei­nen bei­na­he wöchent­lich „Inter­pre­ta­tio­nen“ der MDR durch zusätz­li­che Papie­re der Koor­di­nie­rungs­grup­pe Medi­zin­pro­duk­te (Medi­cal Device Coor­di­na­ti­on Group – kurz MDCG, Anm. d. Red.), die es schwer machen, einer­seits das Wis­sen aktu­ell zu hal­ten und das dann gege­be­nen­falls auch noch in die Pra­xis umzu­set­zen. An die­ser Stel­le sei im Beson­de­ren dar­auf hin­ge­wie­sen, dass gemäß Arti­kel 8 der euro­päi­schen Medi­zin­pro­duk­te­ver­ord­nung eine Kon­for­mi­tät mit der MDR „ver­mu­tet“ wird, wenn har­mo­ni­sier­te Nor­men umge­setzt wer­den. Das bedeu­tet im Klar­text, dass der Nach­weis einer ISO-13485-Zer­ti­fi­zie­rung für das Qua­li­täts­ma­nage­ment­sys­tem als indi­rek­ter Nach­weis für die Ein­hal­tung der MDR in Bezug auf die QM-For­de­run­gen gilt. Die ISO 13485 wird damit zu einer Art Leit­plan­ke bzw. Hil­fe­stel­lung bei der rechts­kon­for­men Umset­zung der MDR. Da das QM-Sys­tem gleich­zei­tig als Nach­weis für das Ein­hal­ten der Sorg­falts­pflich­ten gilt, bedeu­tet das im juris­ti­schen Sinn im Extrem­fall eine Beweis­last-Umkehr, wenn jemand der Mei­nung ist, ein Unter­neh­men hät­te nicht sorg­sam gear­bei­tet und bei­spiels­wei­se einen Scha­den ver­schul­det. Es ist in der Pra­xis ein gro­ßer Unter­schied, ob im Ein­zel­fall das Ein­hal­ten aller Pflich­ten aus der MDR nach­ge­wie­sen wer­den muss, oder im Umkehr­fall ein „Kla­gen­der“ genau nach­wei­sen muss, wo ein Unter­neh­men sei­ne Pflich­ten ver­letzt hat. Dabei ist auch wich­tig zu wis­sen, dass die­se Logik nicht für die Umset­zung einer ISO 9001 gilt. Die­se ist kei­ne mit der MDR har­mo­ni­sier­te Norm.

OT: An wel­chen Punk­ten gibt es den größ­ten Beratungsbedarf?

Weg­horn: In Bezug auf den Han­del wür­de ich sagen, die Prü­fung des Pro­dukt-Port­fo­li­os gemäß Arti­kel 14 berei­tet Schwie­rig­kei­ten und damit ver­bun­den die Logik, aktu­el­le und gül­ti­ge Kon­for­mi­täts­er­klä­run­gen der Her­stel­ler für die ver­trie­be­nen Pro­duk­te vor­zu­hal­ten. Bei der Her­stel­ler-Rol­le gemäß Arti­kel 10 (Son­der­an­fer­ti­ger, Anm. d. Red.) tun sich die Unter­neh­men bei der Umset­zung der Markt­be­ob­ach­tung, der soge­nann­ten Post Mar­ket Sur­veil­lan­ce, ein­schließ­lich der jetzt gefor­der­ten Berichts­pflicht schwer. Die Umset­zung des Arti­kels 16 in Bezug auf Ver­ein­ze­lung ist, wie schon erwähnt, ein völ­lig neu­es und unge­ahnt kom­ple­xes The­ma, das der­zeit so gut wie kein Unter­neh­men in Deutsch­land rechts­kon­form umsetzt. Aber hier­zu gibt es ja vie­le Hilfs­an­ge­bo­te sei­tens des Bun­des­in­nungs­ver­ban­des für Ortho­pä­die-Tech­nik wie Schu­lun­gen und Arbeitsmaterialien.

OT: Die MDR wur­de seit dem ver­bind­li­chen Gel­tungs­be­ginn dis­ku­tiert und ange­passt. Erga­ben sich dar­aus Ände­run­gen für OT-Betriebe?

Weg­horn: Ja, das sind die zur letz­ten Fra­ge ange­ris­se­nen The­men. Händ­ler sind jetzt für die Pro­duk­te, die sie ver­kau­fen – im MDR-Deutsch „am Markt bereit­stel­len“ – ver­ant­wort­lich. Stel­len sie aus irgend­ei­nem Grun­de eine Nicht-Kon­for­mi­tät mit der MDR fest, dür­fen die Pro­duk­te nicht mehr ver­kauft wer­den. Her­stel­ler bezie­hungs­wei­se Son­der­an­fer­ti­ger – der klas­si­sche OT-Betrieb – müs­sen jetzt einen Ent­wick­lungs­pro­zess und einen Bericht über die Pro­duk­te im Markt vor­hal­ten. Ver­ein­ze­lung von Pro­duk­ten ist nur noch mit einem Nach­weis einer Benann­ten Stel­le mög­lich. Wohl gemerkt – hier reicht eine ISO 13485 Manage­ment-Zer­ti­fi­zie­rung nicht aus – es muss eine Beschei­ni­gung einer Stel­le sein, die im Markt Pro­duk­te zulas­sen darf. Eini­ge Her­aus­for­de­run­gen lei­ten sich außer­dem aus den Frist­ver­län­ge­run­gen für Pro­duk­te ab Klas­se IIa und den damit ver­bun­de­nen Her­aus­for­de­run­gen für Händ­ler ab, wo zur­zeit immer wie­der Unklar­heit herrscht, ob Pro­duk­te mit einer Zulas­sung nach alter Richt­li­nie noch ver­kauft wer­den dür­fen oder nicht – Stich­wort „Lega­cy Devices“. Da es für Klas­se-I-Pro­duk­te kei­ne Über­gangs­re­ge­lung gibt, gilt, dass hier Pro­duk­te, für die der Her­stel­ler eine Kon­for­mi­täts­er­klä­rung nach Richt­li­nie lie­fert, kate­go­risch nicht mehr ver­kauft wer­den dür­fen, wäh­rend bei­spiels­wei­se ein Blut­druck­mess­ge­rät auf­grund der Über­gangs­re­ge­lung gege­be­nen­falls sehr wohl noch ver­kauft wer­den darf.

OT: Wel­che Ände­run­gen im EU-Recht bzw. auf natio­na­ler Ebe­ne könn­ten auf die Ortho­pä­die-Tech­nik zukünf­tig zukommen?

Weg­horn: Da die MDR als EU-Ver­ord­nung über dem natio­na­len Recht steht, kann natio­nal nur gere­gelt wer­den, was die MDR nicht expli­zit regelt oder was hier expli­zit auf natio­na­le Ebe­nen her­un­ter­ge­bro­chen wer­den kann. In Bezug auf die oben erwähn­ten und an die jewei­li­gen Rol­len gekop­pel­ten Arti­kel 10, 14 und 16 und ande­re wird sich hier wenig ändern – abge­se­hen von den „Inter­pre­ta­tio­nen“ der MDCG-Arbeits­grup­pen. Bei uns in Deutsch­land gibt es seit dem MPG 1998 die Rol­le des Medi­zin­pro­dukt­e­be­ra­ters. Die­se Rol­le ist in der MDR so nicht vor­ge­se­hen. Daher wur­de die­se Rol­le im Rah­men des MPDG (Medi­zin­pro­dukt­e­recht-Durch­füh­rungs­ge­setz, Anm. d. Red.) weit­ge­hend unver­än­dert in den § 83 des MPDG auf natio­na­ler Ebe­ne über­nom­men. In ande­ren Hand­werks­be­rei­chen, bei­spiels­wei­se in der Hör­akus­tik, ist man jetzt den Weg gegan­gen, die Rol­le des Son­der­an­fer­ti­gers nach MDR durch den „Anpas­ser“ zu erset­zen, um die Anfor­de­run­gen der MDR als Her­stel­ler zu umge­hen. Dazu wur­de im MPDG eine neue Rol­le defi­niert, die aus mei­ner Sicht höchst frag­wür­dig ist. Sinn­voll wäre es – und das ist mei­ne Hoff­nung –, dass lang­fris­tig Aus­le­gun­gen der MDR für Hand­werks­be­trie­be bezie­hungs­wei­se Son­der­an­fer­ti­ger ein­ge­führt wer­den, die sich an der Pra­xis ori­en­tie­ren und für die Betrie­be leist­bar sind.

OT: Wenn Sie zwei Ände­rungs­wün­sche an die MDR for­mu­lie­ren dürf­ten, wel­che wären das?

Weg­horn: Wunsch eins wäre die sofor­ti­ge Abschaf­fung der Anfor­de­rung aus Arti­kel 10 Absatz 9, nach der jeder Her­stel­ler – und damit auch jeder Son­der­an­fer­ti­ger – einen Ent­wick­lungs­pro­zess vor­wei­sen muss. Jemand, der drei Jah­re gelernt hat, eine Pro­the­se oder eine ande­re Son­der­an­fer­ti­gung her­zu­stel­len, macht das auf Basis stan­dar­di­sier­ter Pro­zes­se und Tätig­kei­ten, die erlernt wur­den. Hier gibt es kei­ne Ent­wick­lung, das ist völ­lig sinnfrei.
Wunsch Num­mer zwei ist eine Anpas­sung der Anfor­de­run­gen aus Arti­kel 16 hin­sicht­lich Ver­ein­ze­lung. Dass eine Eig­nung der vor­han­de­nen Ver­ein­ze­lungs­pra­xis nach­ge­wie­sen wer­den muss, sehe ich als legi­tim an. Aber von einer Benann­ten Stel­le? Hier wün­sche ich mir eine Neu­aus­le­gung der MDR für Hand­werks­be­trie­be über die Inte­gra­ti­on in ein vor­han­de­nes QM-Sys­tem. War­um soll ein Audi­tor im Rah­men einer ISO-13485-Begut­ach­tung nicht auch ein sach­ge­rech­tes Ver­ein­zeln mit­au­di­tie­ren und bestä­ti­gen kön­nen – und das mit nur klei­nem Auf­wand? Auch wenn es nicht pau­schal gilt, bei einem mei­ner gro­ßen Kun­den schlägt Stand heu­te die Audi­tie­rung nach Arti­kel 16, wo aus­schließ­lich im Care-Bereich Ver­ein­ze­lung statt­fin­det, mit mehr Audit­zeit zu Buche als die kom­plet­te ISO-13485-Audi­tie­rung des gesam­ten Betriebs. Das kann ich nie­man­dem ver­nünf­tig erklären.

Die Fra­gen stell­te Hei­ko Cordes.

MDR-Semi­na­re informieren
Roland Weg­horn infor­miert inter­es­sier­te Betrie­be im Rah­men der von der Con­fairm­ed GmbH ver­an­stal­te­ten MDR-Semi­na­re zu den The­men „Spe­zi­el­le Anfor­de­run­gen an Händ­ler, Impor­teu­re & Bevoll­mäch­tig­te“, am 19. Sep­tem­ber von 9 bis 12.30 Uhr, sowie „Spe­zi­el­le Anfor­de­run­gen an Her­stel­ler bzw. Son­der­an­fer­ti­ger“, am 19. Sep­tem­ber von 13.30 bis 17 Uhr. Wei­te­re Infor­ma­tio­nen sowie wei­te­re Semi­na­re gibt es auf der Web­site der Con­fairm­ed.

 

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