Einleitung
Die biomechanische Wirksamkeit von Knieorthesen ist primär von der Kraft- bzw. Momentenübertragung zwischen Orthese und Weichteilgewebe sowie der Kongruenz zwischen der physiologischen Kniekinematik und der Orthesenkinematik abhängig 1. Studien belegen, dass selbst geringe Inkongruenzen über den Bewegungsverlauf erhebliche Zwangskräfte ins Knie einbringen, die zu einer zusätzlichen Belastung der Kniestrukturen führen und neben starken Schmerzen sogar bleibende Schäden verursachen können 2 3 4. Dabei werden die Zwangskräfte in größerem Maße durch eine falsche Positionierung des Orthesengelenks am Knie hervorgerufen als durch die Gelenkkinematik selbst 5, welche die physiologische Kniekinematik durch den Einsatz polyzentrischer Gelenke lediglich annähert. Eine unzureichende Passgenauigkeit der Orthesenspangen bewirkt dagegen eine schlechte Kraft- bzw. Momentenübertragung zwischen Orthese und Bein und verringert dadurch die intendierte Stützwirkung der Orthese. Die mangelhafte Passgenauigkeit ruft in der Folge eine Migration der Orthese hervor, die durch ihr Eigengewicht in Verbindung mit der konischen Form des Oberschenkels zusätzlich begünstigt wird 6. Dadurch wird die Inkongruenz der Gelenkachsen noch einmal verstärkt. In der Konsequenz korreliert die biomechanische Wirksamkeit von Knieorthesen in direkter Weise mit der korrekten, patientenindividuellen Passform der Orthese.
Standard-Hartrahmenorthesen, die in vorkonfektionierter Form in verschiedenen Größenabstufungen angeboten werden, gehen von einem normativen Größenverhältnis zwischen Ober- und Unterschenkelumfang aus. Diese Annahme mindert aber nicht nur die Formschlüssigkeit zwischen Orthese und Schenkel, sondern führt bei Abweichungen vom normativen Zusammenhang gleichzeitig zur Inkongruenz der Gelenkachsen, die es zu vermeiden gilt (Abb. 1). In einer Untersuchung der Ruhr-Universität Bochum (RUB) wurde aus diesem Grund das normative Verhältnis zwischen Unter- und Oberschenkelumfängen analysiert. Zur Feststellung des Größenverhältnisses wurde eine Studie mit 155 Patienten (69 männlich, 86 weiblich) im Alter zwischen 19 und 62 Jahren durchgeführt. Gemessen wurden Unter- und Oberschenkelumfänge an den Positionen, an denen die Orthesenspangen die Schenkel umschließen (Abb. 2). Das Verhältnis von Unterschenkel- zu Oberschenkelumfang lag im Mittel bei 66,8 % (Standardabweichung ± 7,7 %). Die größte Differenz zwischen den Schenkelumfängen zeigte sich bei einem Verhältnis von 41,5 %, die geringste Differenz bei einem Verhältnis von 94 %. Damit belegt die Studie, dass ein normativer Zusammenhang zwar grundsätzlich gegeben ist, dieser mit einem Korrelationskoeffizienten von 0,69 jedoch verhältnismäßig gering ist. Diese Erkenntnis lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Versorgung von Kniegelenksverletzungen mit Standardorthesen aus biomechanischer Sicht für eine Vielzahl von Patienten unzureichend oder zumindest unbefriedigend gelöst ist. Die Studie verdeutlicht den Bedarf für ein neues Versorgungskonzept, das eine individuelle Maßversorgung zu wirtschaftlich tragfähigen Konditionen erlaubt.
Individuelle Maßversorgung durch Knieorthesen-Modulsystem-Baukasten
Vorgeschlagen wird ein Modulorthesen-Baukasten, der eine patientenindividuelle Konfiguration der Orthese auf der Grundlage standardisierter Module zulässt. Das Konzept sieht zu diesem Zweck eine Teilung der Orthese in eine obere und untere Rahmenspange, eine linke und rechte Gelenkschiene sowie Verbindungselemente zur Kopplung von Gelenkschienen und Rahmenspangen vor. Die Rahmenspangen werden in verschiedenen Größen angeboten, sodass sie unabhängig von einem normativen Größenzusammenhang zwischen Unter- und Oberschenkel frei kombiniert werden können. Unterschiedlich vorgeformte Schienen ermöglichen zum einen die freie Kombination der Spangen, ohne die Parallelität der Orthesengelenke zu beeinträchtigen, zum anderen die Anpassung der Orthese an die individuelle Beinkontur des Trägers. Auf diese Weise lassen sich etwa auch Varus-/ Valgus-Fehlstellungen individuell versorgen. Durch Langlöcher in den Verbindungsenden der Ober- und Unterschenkelspangen ist eine Anpassung der Spangenweite möglich, durch die das Orthesengelenk in der Sagittalebene in Kongruenz mit der Kompromissdrehachse des Kniegelenks positioniert werden kann. In gleicher Weise erlauben Langlöcher in den Verbindungsenden der Schienen eine Höhenverstellung, die eine Anpassung der Orthese an unterschiedliche Beinlängen gestattet. Mit Hilfe einer Maßtabelle kann der Orthopädietechniker die Orthese zur sofortigen mobilen Versorgung selbst zusammenstellen oder beim Hersteller passgenau bestellen. Abbildung 3 veranschaulicht das propagierte Konzept des Modulorthesen-Baukastens, welches prototypisch im Rahmen eines Forschungsprojekts umgesetzt wurde.
Schonende Rehabilitation durch Mobilisierungsfunktion
Nach Beendigung der Behandlung mit einer Hartrahmenorthese steigt das Risiko eines Rezidivs deutlich, sofern während der physiotherapeutischen Mobilisierung keine dem Therapieverlauf angepasste sich reduzierende Stützversorgung erfolgt. Bisher wird die Abschulung bei Standard-Hartrahmenorthesen in der Regel durch zeitreduziertes Tragen erreicht. Unbefriedigend erscheint dabei aus therapeutischer Sicht, dass der Patient ständig zwischen der höchstmöglichen Flexion und Ruhigstellung bzw. der höchstmöglichen Belastung und Entlastung wechselt. Alternativ stehen Orthesen mit verminderter Stützwirkung zur Verfügung, die jedoch einen mehrfachen Austausch der Orthese im Therapieverlauf erforderlich machen und hohe Kosten verursachen. Hier bietet der modulare Aufbau der Orthese in Weiterführung des propagierten Konzepts das Potenzial, eine Mobilisierung sukzessive über mehrere Versorgungsstufen zu bewirken:
- Im Anschluss an die Versorgung mit der passgenauen Hartrahmenorthese könnte eine stufenweise Abschulung z. B. in einer zweiten Versorgungsstufe durch den Umbau der Hartrahmenorthese in eine Knieführungsorthese mit 4‑Punkt-Prinzip und Extensions-/Flexionsbegrenzung erreicht werden.
- Hieran anschließen ließe sich in einer dritten Versorgungsstufe ein Umbau in eine Knieführungsorthese als Kombination aus einer Bandage mit seitlichen Gelenkschienen, wobei die Gelenkschienen in Abgrenzung zur Hartrahmenorthese nur noch durch unelastische Zugelemente verbunden sind.
- In der vierten Versorgungsstufe könnte nach einer letzten Modulreduktion eine Kompressionsbandage mit Silikonpelotten langfristig beim Patienten verbleiben.
Vergleichbare Konzepte für Wirbelsäulenorthesen zeigen, dass durch einen modularen Aufbau der Orthese mit Mobilisierungsfunktion sowohl eine signifikante Schmerzreduktion als auch eine Funktionsverbesserung erzielt werden kann 7. Das Prinzip des sukzessiven Abschulens erscheint dabei auch für Knieorthesen vorteilhaft, da durch die reduziert stabilisierenden Orthesen das unmittelbare Auftreten von Belastungsspitzen auf das operierte Kreuzband bzw. die vermehrte Translation mit Schwerbelastung nach Abnahme der stabilisierenden Hartrahmenorthese vermindert werden kann. Gerade bei der schweren Indikation einer vorderen Kreuzbandverletzung in Kombination mit einer oder mehreren weiteren Band- oder Meniskusverletzungen lässt eine stufenweise Mobilisierung eine schonendere Rückkehr zu einem gesunden und stabilen Kniegelenk erwarten. Zudem bietet ein modulares Orthesensystem die Möglichkeit, die Orthese erneut in einer der höheren Stufen aufzubauen, um vorübergehend für eine höhere Stabilisierung zu sorgen. Dies kann etwa bei einer sportbedingten stark vermehrten Belastung des Gelenks sinnvoll sein, z. B. beim Skifahren. Ebenso ist dieses Prinzip für die Wiedereingliederung in Berufe denkbar, die eine hohe körperliche Belastung erfordern. Die Modularität des Systems gestattet dabei dem Patienten, die Adaption der Orthese an die Belastungen oder auch bei Auftreten von Beschwerden nach einer Überlastung nach entsprechender Einweisung durch den Orthopädietechniker selbstständig vorzunehmen.
Fazit
Ein normativer Zusammenhang zwischen den Umfängen von Unter- und Oberschenkel ist zwar grundsätzlich gegeben, jedoch nur schwach ausgeprägt. Standard-Hartrahmenorthesen, die einen normativen Zusammenhang voraussetzen, weisen aus diesem Grund für eine Vielzahl von Patienten eine lediglich eingeschränkte Passgenauigkeit auf. Dadurch wird die biomechanische Wirkung der Orthese vermindert bzw. sogar konterkariert. Eine mangelhafte Passgenauigkeit der Rahmenspangen resultiert in einer verminderten Stützwirkung der Orthese und begünstigt eine Migration am Bein. Ein falscher Sitz bewirkt dagegen eine Inkongruenz der Achsen von Knie- und Orthesengelenk, in deren Folge Zwangskräfte ins Knie eingebracht werden, die zu einer zusätzlichen Belastung der Kniestrukturen führen und neben Schmerzen bleibende Schäden verursachen können. Im Rahmen des Beitrags wurde daher ein neuer Versorgungsansatz vorgeschlagen, der auf einem modularen Orthesensystem aufsetzt. Die Modularität des Systems verspricht nicht nur eine individuelle Maßversorgung zu wirtschaftlich tragfähigen Konditionen, sondern erlaubt gleichzeitig eine therapeutisch korrekte Abschulung über mehrere Mobilisierungsstufen mit sukzessiver reduzierter Stützwirkung.
Für die Autoren:
Maike Sauerhoff, M. Sc.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Lehrstuhl für Produktentwicklung
Gebäude IC 1/165
Ruhr-Universität Bochum
44780 Bochum
sauerhoff@lpe.ruhr-uni-bochum.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Sauerhoff M, Neumann M, Bender B. Knieorthesen-Modulsystem zur Verbesserung der individuellen Passgenauigkeit bei unterschiedlichen Schenkelumfängen. Orthopädie Technik, 2020; 71 (4): 48–51
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