Bevor Gastgeber Peter Hartmann die Gäste begrüßte, blieb genügend Zeit für die Teilnehmenden zum Austausch beim Get-together. Dort wurden aktuelle Themen aus Bundes- und Landespolitik diskutiert und aktuelle Informationen ausgetauscht. Im Vortragssaal war dagegen der Fokus auf die jeweiligen Vortragenden gerichtet. Peter Hartmann war die Freude darüber, dass so viele Beteiligte den Weg nach Hamm gefunden hatten, anzumerken. Er erzählte zunächst etwas über den Tagungsort und führte die Gäste auf diese Weise gelungen in den Tag ein.
Dass das Thema Digitalisierung auf dem Programm zu finden war, sorgte für keine große Überraschung. Schließlich steht die Branche derzeit an der Schwelle zu verschiedenen digitalen Herausforderungen. Dr. Jan Helmig, Opta Data, nahm sich die Zeit und führt die Gäste in die Grundzüge der Telematikinfrastruktur (TI), Fachdienste wie Kommunikation im Medizinwesen (KIM) und das Pilotprojekt E‑Verordnung ein. „Digitalisierung im Hilfsmittelbereich ist ein Begriff mit zahlreichen Facetten“, lautete daher das Fazit Helmigs. Besonders das Pilotprojekt, dass neben Opta Data auch der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) und viele weitere Partner aus der Software-Branche und Leistungserbringer auf den Weg gebracht haben, stieß auf großes Interesse bei den Zuhörer:innen. Die Fragen aus dem Publikum konnte Helmig zur Zufriedenheit aller beantworten, beispielsweise erwartet der Digitalisierungs-Experte, dass die Gematik sich nun mit den Spezifikationen zur E‑Verordnung auseinandersetzen wird. „Erfahrungsgemäß tut die Gematik dies zwei bis drei Jahre vor dem Roll-Out“, so Helmig, der diese Einschätzung auf die Erfahrungen bei der Einführung des E‑Rezepts stützt. Auch die Bedenken, dass für die TI-Anbindung weitere Überprüfungen von Leistungserbringern nötig seien, konnte er zerstreuen. Statt eines Prüfverfahrens ist der Anschluss an die Datenautobahn des Gesundheitswesens viel mehr ein Antragsverfahren, das die Leistungserbringer in Zukunft durchlaufen müssen.
Apropos Zukunft! Wie diese im Bereich des deutschen Gesundheitswesens aussehen wird, hat Prof. Dr. David Matusiewicz bereits vor Augen, denn der IST-Zustand ist aus seiner Sicht nicht hinnehmbar. „Das Gesundheitswesen ist abstrus krank“, erklärte der Gesundheitsökonom. Diese Aussage unterfütterte er mit seinen aktuellen Erfahrungen – als Praktikant in einer Apotheke. Das dort Erlebte lässt ihn verzweifeln, denn viele Dokumentationspflichten und Medienbrüche sorgen für eine Versorgungsverschlechterung bzw. ‑verzögerung auf Kosten der Patient:innen. Die aus seiner Forschung stammenden Erkenntnisse und das Wissen aus vielen Kooperationen mit diversen Playern im Gesundheitsmarkt teilte Matusiewicz mit den Anwesenden. Dabei fehlte auch nicht der Hinweis auf seine aktuellen Buchprojekte, die sich – wie könnte es anders sein – mit dem smarten Patienten beschäftigen. Der Essener Professor erwartet in der Zukunft ein hybrides Gesundheitswesen, das analoge mit digitalen Diensten verknüpft und auch eine teilweise Verschiebung auf lokaler Ebene – weg von Kliniken, Praxen oder Sanitätshäusern hin zu den eigenen vier Wänden – passieren wird. Eine weitere These: „In Zukunft wird KI dafür sorgen, dass wir weniger Zeit im Büro sind“, so Matusiewicz, der daraus folgert, dass durch die gewonnene Freizeit eine familienbasierte Pflege wieder praktikabler wird und so den Mangel an Fachkräften ein wenig abmildern wird. Ein wenig ratlos wirkte Matusiewicz bei der Frage von Vereinbarung von Cloud und Gesundheitswesen. „Ich frage mich, warum überall die Cloud funktioniert und warum im Gesundheitswesen nicht?“ so Matusiewicz. Schließlich würden auch andere Branchen – wie zum Beispiel der Finanzwirtschaft – mit sensiblen Daten arbeiten und auf eine eigene Datenautobahn verzichten.
Einen Überblick über den IST-Zustand der Hilfsmittelbranche und die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft gaben Peter Hartmann und Markus Wendler, Geschäftsführer PVM. Dabei wurden sowohl juristische als auch politische Problematiken in den Fokus genommen. Das Fazit von Peter Hartmann lautet: „Wir müssen gemeinsam Probleme lösen, statt Bashing zu betreiben.“ Ähnlich sieht es auch Wendler. „Das IST macht mir massive Sorgen“, gibt der gelernte Orthopädiemechaniker zu. Er stellte exemplarisch am Beispiel eines Toilettenstuhls vor, wie wenig Praxis und Anspruch wirtschaftlich zusammenpassen. Die geringe Entlohnung entspricht nicht dem Gegenwert der erbrachten Leistung. Dabei gab Wendler zu bedenken, dass insgesamt darüber diskutiert werden muss, ob man sich in dieser Form sein Gesundheitswesen leisten kann und will. Sein Credo: „Weg von der All-Inclusive-Mentalität“.
Mit großer Spannung wurde der Beitrag von Andreas Brandhorst, Referatsleiter Hilfsmittel im Bundesgesundheitsministerium, erwartet. Aufgrund des Bahnstreiks aus Berlin mit Umweg über München und Dortmund nach Hamm gereist, gewährte der Experte einen Einblick in die aktuelle politische Lage in der Hauptstadt. Dabei gestand er, dass trotz der vielen Versorgungen die Hilfsmittelbranche kein öffentliches Aufregerthema sei. Er sehe dies aber durchaus positiv, so Brandhorst. „Es ist ein Qualitätsnachweis, dass nicht darüber gesprochen wird. Die Hilfsmittelversorgung in Deutschland ist gut“, so Brandhorst. In seinem Vortrag beleuchtete der Mann aus dem Gesundheitsministerium noch einmal die Entwicklung der aktuellen Rahmenbedingungen der Hilfsmittelversorgung. Vor allem den 2022 veröffentlichten Sonderbericht des Bundesamtes für Soziale Sicherung (BAS) hob er hervor als Auftakt einer neuen Reformwelle. Dass das Bundesgesundheitsministerium in Form des Versorgungsgesetzes II eine neue Initiative in die Gesetzgebung geben wird, bestätigte Brandhorst in Hamm. Allerdings: „Egal, was wir machen, wir werden es niemanden vollkommen recht machen!“, schob er überzogenen Forderungen direkt einen Riegel vor. Der Wunsch von Kostenträgern, dass Ausschreibungen bald wieder zurückkehren, erhielt einen Dämpfer. „Ich glaube nicht daran, dass es eine Wiedereinführung von Ausschreibungen gibt“, sagte Brandhorst. Er erwarte vielmehr intensive Diskussionen rund um die Festbeträge. Außerdem gibt es wohl Ideen, dass zukünftig Auffälligkeitsstichproben vom Medizinischen Dienst durchgeführt werden sollen. Brandhorst sieht in diesem Fall aber die Kompetenz bei den Kostenträgern, die teilweise schon jetzt vernünftig die Versorgungsqualität für ihre Versicherten überprüften.
In der anschließenden Fragerunde schwenkte die Gesprächsrunde auch auf das Thema Präqualifizierungsverfahren ein. Für die Hilfsmittelbranche erwartet Brandhorst, dass das PQ-Verfahren evaluiert wird. Dass die Apotheken einseitig aus der PQ entlassen worden sind, kommentierte der BMG-Referent nicht.
„Wir verwalten uns tot“, lautet ein Fazit von Alf Reuter, BIV-Präsident. Der Mann an der Verbandsspitze der Ortopädietechniker:innen brachte noch einmal eine Portion Praxis in die Gesprächsrunden. In seinem Vortrag ging er nicht nur auf die Evolution der regulatorischen Rahmenbedingungen der vergangenen Jahre ein, sondern schilderte die Konsequenzen dieser Entscheidungen für das Hier und Jetzt in der Versorgung.
Beispiel Kostenvoranschlag. „Ich kenne keinen Handwerker, der für seinen eigenen Kostenvorschlag selbst zahlen muss“, so Reuter. Dies sei aber unumgänglich, weil die Krankenkassen für die Kostenvoranschläge nicht eine genormte Schnittstelle zu Verfügung stellen, sondern auf eine eigene Lösung bauen. Bei fast 100 Krankenkassen ist damit im normalen Versorgungsalltag keine Chance gegeben, auf Support aus Reihen der Softwarefirmen und Abrechnungsgesellschaften zu verzichten.
Beispiel Fachkräftemangel: Auf 100 unbesetzte Stellen als Fachkraft in der Orthopädie-Technik gibt es nur 12 geeignete Bewerber:innen. Selbst im Bereich der Pflege, der in der öffentlichen Diskussion deutlich präsenter ist, sind die Chancen, eine geeignete Fachkraft zu finden, besser. Und was für Gesell:innen gilt, gilt noch mehr für Meister:innen. Für den Versorgungsalltag essenziell wichtig, gibt es zu wenig Menschen, die diesen Abschluss haben und auch noch im Bereich der Orthopädie-Technik ausüben. Deswegen drohen Versorgungslücken. Hinzu kommt, dass andere Branchen im Bereich der Gesundheitshandwerke aktiv auf Personalsuche gehen. Alf Reuter muss am eigenen Leib erfahren, wie zum Beispiel die Rüstungsindustrie die Fachkräfte mit hohen Gehältern aus den Betrieben „wie ein Staubsauger heraussaugt“. Es braucht deshalb neue Impulse – auch von der Politik –, um langfristig einer immer älter werdenden Gesellschaft gerecht zu werden.
Beispiel Präqualifizierung. Apotheker:innen und GKV-Spitzenverband haben sich darauf geeinigt, welche Hilfsmittel zukünftig als „apothekenüblich“ ohne Präqualifizierung in der Apotheke abgegeben werden dürfen. Auch für den Bereich der Hilfsmittelbranche erwartet Reuter, dass die PQ noch einmal beleuchtet wird. Sein Wunsch: „Weg von der Präqualifizierung hin zu einer Zulassung unter PQ-Kriterien.“
Für viele Problemlösungen braucht es Entscheidungen aus Verwaltung und Politik, die die Zukunft der Hilfsmittelbranche gestalten. Alf Reuter äußert sich deshalb deutlich: „Politik soll die verlässlichen Leitplanken schaffen und nicht auf dem Beifahrersitz sitzen und während der Fahrt ins Lenkrad greifen.“
Heiko Cordes
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