Einleitung
Erleidet ein Mensch im Laufe seines Lebens den Verlust einer Extremität, stehen die Wiederherstellung bzw. der Erhalt der Mobilität und der äußerlichen Integrität im Vordergrund der Versorgung. Insbesondere der Verlust einer unteren Extremität schränkt die Mobilität ein, hier verbessert ein passender Prothesenschaft nebst individuell abgestimmten Passteilen die Lebensqualität und gesellschaftliche Teilhabe.
Für den Schaft bedeutet dies, dass er das Volumen des Stumpfes aufnehmen und axiale und horizontale Kräfte übertragen muss; um dies gewährleisten zu können, ist eine hinreichende Haftung notwendig.
Dem Orthopädie-Techniker stehen hierzu im Wesentlichen zwei verschiedene Methoden zu Verfügung: zum einen die ältere Schaftform, der Haftschaft, und demgegenüber der Schaft mit einem Linersocket. Sowohl die Haftschäfte als auch die Linerschäfte sind weiter nach verschiedenen Kriterien unterteilbar, so etwa nach der Form der Schafteintrittsebene, dem möglichen Vorhandensein eines Endkontaktes, den verwendeten Materialien oder der Form der Arretierung.
In der hier beschriebenen intraindividuellen Vergleichsstudie wurden Haftschäfte mit Endkontakt und Linerschäfte mit Rastenpin verglichen.
Die möglichen Vorteile eines Liners scheinen auf den ersten Blick einleuchtend: Insbesondere für Betagte wird das An- und Ablegen des Schaftes erleichtert, Probleme mit Hypertranspiration treten mit einer Linerversorgung seltener auf als mit einem Haftschaft, Volumenschwankungen können besser ausgeglichen werden, Scherkräfte werden besser übertragen als mit einem Haftschaft 1 und nicht zuletzt verspricht es dem Hersteller eine sichere Einnahmequelle, da es sich um ein Verschleißteil handelt, das regelmäßig ersetzt werden muss. Probleme hingegen können hinsichtlich mangelnder Hygiene auftreten 2 3.
Versorgungsstatistik
Von 63 im Jahr 2007 in der Klinischen Prüfstelle für orthopädische Hilfsmittel untersuchten Patienten waren 49 mit einem Haftschaft versorgt, nur 14 mit einem Linerschaft, sodass nur eine Minderheit von 22 % mit der „neuen“, der Linermethode, versorgt war (Diagramm 1).
Betrachtet man die Patienten allerdings näher und untergliedert sie in junge Amputierte (zum Zeitpunkt der Untersuchung < 60 Jahre alt) und alte Betroffene (> 60 Jahre), fällt auf, dass bei den älteren nur vier von 30 (13 %) mit einem Liner versorgt waren, wohingegen bei der jüngeren Vergleichsgruppe schon zehn von 33 (30 %) einen Liner tragen.
Betrachtet man diesen auffallenden Unterschied nicht nur bezogen auf das Lebensalter bei Amputation, sondern auf den Zeitpunkt der Amputation, wird der Effekt noch deutlicher: Die Gruppe der Älteren war im Durchschnitt vor 33 Jahren amputiert worden, also in den siebziger und achtziger Jahren. Die Gruppe der Jungen war im Mittel nur elf Jahre amputiert, hier lag der Eingriff also in den späten neunziger Jahren.
Junge Amputierte, die ab den späten Neunzigern amputiert wurden, werden also deutlich häufiger mit einem Liner versorgt als ältere Amputierte, bei denen der Eingriff zwanzig Jahre eher erfolgte.
Daraus könnte man den provokanten Schluss ziehen, dass Liner nur eine Trenderscheinung sind. Deutlich wird, dass es an klaren Indikationskriterien mangelt 2 3.
Studiendesign
An dieser vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales geförderten intraindividuellen Cross-over-Studie nahmen fünf Probanden teil, von denen zwei jedoch wegen Hypertranspiration vorzeitig ausschieden. Alle Probanden bekamen eine Doppelversorgung, zum einen einen Haftschaft mit Endkontakt und zum anderen einen Linerschaft mit Rastenpin. Die Vorversorgung bestand bei einem Teil der Gruppe aus dem Haftschaft, bei dem anderen Teil aus dem Linerschaft, sodass Umversorgungen in beide Richtungen stattfanden.
Die drei Probanden, von denen in der Folge berichtet wird, waren alle posttraumatisch amputiert, zwischen 44 und 69 Jahre alt und zwischen 10 und 47 Jahren amputiert, es wurden also nur Langzeitversorgte untersucht.
Die Fragen, die sich zu Beginn der Studie stellten, waren:
- Ist eine Umversorgung in eine bestimmte Richtung leichter?
- Können allgemeine Indikationskriterien erarbeitet werden?
- Sind die bisherigen „Indikationskriterien“, die sich mehr auf Erfahrung und Gefühl des verordnenden Arztes und behandelnden Technikers stützen, möglicherweise schon richtig gewesen?
- Gibt es biomechanisch messbare Unterschiede? Hier waren Prothesenhub und Rotationsstabilität von besonderer Bedeutung.
Das Prüfprotokoll umfasste eine Vicon-/Kistleranalyse zur Erfassung kinematischer und kinetischer Daten in der Ebene, die Gaitrite-Gangmatte zur Erfassung allein kinematischer Daten auch auf der Rampe, des Weiteren klinische Tests, wie z. B. den Timedup-and-go-Test, und einen Fragebogen zur Evaluierung der subjektiven Beurteilung hinsichtlich Komfort im Sitzen, Stehen, Gehen, der Passform, des An- und Ablegens, der Haftung, der Beweglichkeit etc.
Der Prothesenhub wurde mit Vicon gemessen, indem beim Gehen der Abstand des Spinenmarkers zu dem am Schaft befestigten zwei Mal gemessen wurde: einmal in Neutral-Null-Stellung des Hüftgelenks in der Standphase und einmal in der Schwungphase. Die Differenz wurde als Prothesenhub definiert.
Zur Messung der Rotationsstabilität gingen die Probanden über die Gaitrite-Matte, diese zeichnet die Fußabdrücke auf und gibt u. a. den Winkel des Sohlenabdrucks in Bezug zur Laufrichtung aus. Tritt der Fuß immer mit demselben Winkel auf, ist die Standardabweichung gering, rotiert die Prothese, ist die Streuung des Winkels groß.
Alle erhobenen Messwerte wurden klinisch hinsichtlich Sicherheit und Gangphysiologie interpretiert. Sicherheit, das Vermeiden von Sturzereignissen, hat absolute Priorität. Bei bestehender Sicherheit kommt insbesondere für jüngere, aktivere Probanden auch das zweite Ziel in den Vordergrund, die Gangphysiologie.
Als Indizien für eine erhöhte Sicherheit wurden gewertet: eine erhöhte (maximale) Geschwindigkeit, geringe Standardabweichungen der Knie- und Hüftwinkel und ‑momente sowie der Fußrotation (als Zeichen für eine hohe Reproduzierbarkeit des Gangbildes) und geringere extendierende bzw. höhere flektierende Momente auf der Prothesenseite in der frühen Standphase.
Als Indizien für eine verbesserte Gangphysiologie wurden gewertet: geringe Asymmetrien zwischen rechter und linker Seite der kinematischen wie kinetischen Parameter, eine höhere relative Belastung der Prothesenseite, verringerter Prothesenhub und eine erhöhte Ausdauer.
Ergebnisse
Proband 1 (44 Jahre alt, 10 Jahre amputiert, mit Liner vorversorgt) zeigte schwache Unterschiede in allen Parametern, die tendenziell mit der Linerversorgung besser waren. In der Befragung bewertete er beide Formen gleichermaßen gut, priorisierte letztendlich aber seine Vorversorgung, den Linerschaft.
Proband 2 (69 Jahre alt, 47 Jahre amputiert, mit Haftschaft vorversorgt) wies eindeutige Unterschiede auf, die alle zugunsten des Haftschaftes, seiner Vorversorgung, ausfielen; auch die subjektive Bewertung bestätigte dies. Allein das An- und Ablegen der Prothese fiel ihm mit dem Linerschaft leichter.
Proband 3 (68 Jahre alt, 45 Jahre amputiert, mit Haftschaft vorversorgt) zeigte wiederum nur gering ausgeprägte Unterschiede, die für den Haftschaft, seine Vorversorgung, sprachen. Als einziger von allen dreien entschied er sich allerdings in der persönlichen Evaluation für die Alternativversorgung, den Linerschaft. Der Komfort beim Gehen, insbesondere auf Treppe und Rampe, gab hierfür den Ausschlag. Proband 3 wich in seiner persönlichen Meinung als einziger von den objektiven Ergebnissen ab, die allerdings auch nur geringe Unterschiede aufwiesen.
Der Prothesenhub zeigte die deutlichsten Ergebnisse hinsichtlich einer bestimmten Versorgungsform: er war durchgehend geringer mit dem Haftschaft. Hier lag er bei 6 mm (Durchschnittswert) gegenüber 16 mm beim Linerschaft. Besonders stark ausgeprägt war dies bei Übergewichtigkeit des Probanden.
Die Rotationsstabilität zeigte hingegen keine Unterschiede zwischen den Versorgungsformen, sie ist offenbar unabhängig vom Linereinsatz.
Ein Haftschaft reduziert also die Bewegung parallel zum Femur, nicht aber die Torsion um das Femur.
Zusammenfassung der Ergebnisse
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass alle messbaren Unterschiede zwar nur gering ausfielen, jedoch alle für die Vorversorgung sprachen. Eine Ausnahme bildete hier der Prothesenhub, der mit dem Haftschaft durchweg geringer ausfiel. Dies bedeutet zum einen, dass die bisherige „Indikationsstellung“ richtig war und zum anderen, dass eine Umversorgung von einer zufriedenstellenden Haftschaftversorgung auf einen Liner als nicht generell indiziert zu betrachten ist.
Einschränkend muss unbedingt erwähnt werden, dass die Gruppe mit n = 3 zu klein ist für generelle Aussagen, darüber hinaus bestand die Gruppe ausschließlich aus posttraumatisch amputierten Langzeitversorgten. Für allgemeingültige Aussagen ist es erforderlich, die Studie mit einer größeren Fallzahl fortzusetzen.
Die Autorin:
Kerstin Tiemeyer
Klinik für Technische Orthopädie und
Rehabilitation
Klinische Prüfstelle für orthopädische
Hilfsmittel
Domagkstraße 3
48149 Münster
kerstin.tiemeyer@ukmuenster.de
Begutachteter Beitrag/Reviewed paper
Tiemeyer K, Hildebrandt M, Schüling S, Wetz HH. Intraindividuelle Vergleichsstudie zwischen Haftschaft und Silikonlinertechnik bei Oberschenkelamputierten. Orthopädie Technik, 2013; 64 (5): 20–23
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- Drerup B, Barsch K. Liner-Systeme – Der Aspekt von Haftung und Reibung. Med Orth Tech 2009; 129:7 ff
- Greitemann B. Linerversorgung. Med Orth Tech 2000; 120: 140 ff
- Wieners E. Verordnungskriterien für Oberschenkelschaftsysteme mit Schwerpunkt der Linerversorgung, Univ.-Diss., Münster, 2010