Intra­in­di­vi­du­el­le Ver­gleichs­stu­die zwi­schen Haft­schaft und Sili­kon­liner­tech­nik bei Oberschenkelamputierten

K. Tiemeyer, M. Hildebrandt, S. Schüling, H.H. Wetz
Bei der Versorgung Oberschenkelamputierter stehen dem Orthopädie-Techniker viele Alternativen zur Verfügung, bezogen auf den Schaft kann dies z. B. ein Haft- oder auch ein Linerschaft sein. Eindeutige Indikationskriterien hierzu fehlen. In dieser intraindividuellen Cross-over-Studie wurden drei Probanden mit einem Haft- und einem Linerschaft versorgt und wurden mit beiden Versorgungsformen klinisch wie biomechanisch untersucht und um subjektive Evaluierung gebeten.

Ein­lei­tung

Erlei­det ein Mensch im Lau­fe sei­nes Lebens den Ver­lust einer Extre­mi­tät, ste­hen die Wie­der­her­stel­lung bzw. der Erhalt der Mobi­li­tät und der äußer­li­chen Inte­gri­tät im Vor­der­grund der Ver­sor­gung. Ins­be­son­de­re der Ver­lust einer unte­ren Extre­mi­tät schränkt die Mobi­li­tät ein, hier ver­bes­sert ein pas­sen­der Pro­the­sen­schaft nebst indi­vi­du­ell abge­stimm­ten Pass­tei­len die Lebens­qua­li­tät und gesell­schaft­li­che Teilhabe.

Für den Schaft bedeu­tet dies, dass er das Volu­men des Stump­fes auf­neh­men und axia­le und hori­zon­ta­le Kräf­te über­tra­gen muss; um dies gewähr­leis­ten zu kön­nen, ist eine hin­rei­chen­de Haf­tung notwendig.

Dem Ortho­pä­die-Tech­ni­ker ste­hen hier­zu im Wesent­li­chen zwei ver­schie­de­ne Metho­den zu Ver­fü­gung: zum einen die älte­re Schaft­form, der Haft­schaft, und dem­ge­gen­über der Schaft mit einem Liner­so­cket. Sowohl die Haft­schäf­te als auch die Liner­schäf­te sind wei­ter nach ver­schie­de­nen Kri­te­ri­en unter­teil­bar, so etwa nach der Form der Schaft­ein­tritts­ebe­ne, dem mög­li­chen Vor­han­den­sein eines End­kon­tak­tes, den ver­wen­de­ten Mate­ria­li­en oder der Form der Arretierung.

In der hier beschrie­be­nen intra­in­di­vi­du­el­len Ver­gleichs­stu­die wur­den Haft­schäf­te mit End­kon­takt und Liner­schäf­te mit Ras­ten­pin verglichen.

Die mög­li­chen Vor­tei­le eines Liners schei­nen auf den ers­ten Blick ein­leuch­tend: Ins­be­son­de­re für Betag­te wird das An- und Able­gen des Schaf­tes erleich­tert, Pro­ble­me mit Hyper­tran­spi­ra­ti­on tre­ten mit einer Liner­ver­sor­gung sel­te­ner auf als mit einem Haft­schaft, Volu­men­schwan­kun­gen kön­nen bes­ser aus­ge­gli­chen wer­den, Scher­kräf­te wer­den bes­ser über­tra­gen als mit einem Haft­schaft 1 und nicht zuletzt ver­spricht es dem Her­stel­ler eine siche­re Ein­nah­me­quel­le, da es sich um ein Ver­schleiß­teil han­delt, das regel­mä­ßig ersetzt wer­den muss. Pro­ble­me hin­ge­gen kön­nen hin­sicht­lich man­geln­der Hygie­ne auf­tre­ten 2 3.

Ver­sor­gungs­sta­tis­tik

Von 63 im Jahr 2007 in der Kli­ni­schen Prüf­stel­le für ortho­pä­di­sche Hilfs­mit­tel unter­such­ten Pati­en­ten waren 49 mit einem Haft­schaft ver­sorgt, nur 14 mit einem Liner­schaft, sodass nur eine Min­der­heit von 22 % mit der „neu­en“, der Liner­me­tho­de, ver­sorgt war (Dia­gramm 1).

Betrach­tet man die Pati­en­ten aller­dings näher und unter­glie­dert sie in jun­ge Ampu­tier­te (zum Zeit­punkt der Unter­su­chung < 60 Jah­re alt) und alte Betrof­fe­ne (> 60 Jah­re), fällt auf, dass bei den älte­ren nur vier von 30 (13 %) mit einem Liner ver­sorgt waren, wohin­ge­gen bei der jün­ge­ren Ver­gleichs­grup­pe schon zehn von 33 (30 %) einen Liner tragen.

Betrach­tet man die­sen auf­fal­len­den Unter­schied nicht nur bezo­gen auf das Lebens­al­ter bei Ampu­ta­ti­on, son­dern auf den Zeit­punkt der Ampu­ta­ti­on, wird der Effekt noch deut­li­cher: Die Grup­pe der Älte­ren war im Durch­schnitt vor 33 Jah­ren ampu­tiert wor­den, also in den sieb­zi­ger und acht­zi­ger Jah­ren. Die Grup­pe der Jun­gen war im Mit­tel nur elf Jah­re ampu­tiert, hier lag der Ein­griff also in den spä­ten neun­zi­ger Jahren.

Jun­ge Ampu­tier­te, die ab den spä­ten Neun­zi­gern ampu­tiert wur­den, wer­den also deut­lich häu­fi­ger mit einem Liner ver­sorgt als älte­re Ampu­tier­te, bei denen der Ein­griff zwan­zig Jah­re eher erfolgte.

Dar­aus könn­te man den pro­vo­kan­ten Schluss zie­hen, dass Liner nur eine Tren­d­er­schei­nung sind. Deut­lich wird, dass es an kla­ren Indi­ka­ti­ons­kri­te­ri­en man­gelt 2 3.

Stu­di­en­de­sign

An die­ser vom Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Arbeit und Sozia­les geför­der­ten intra­in­di­vi­du­el­len Cross-over-Stu­die nah­men fünf Pro­ban­den teil, von denen zwei jedoch wegen Hyper­tran­spi­ra­ti­on vor­zei­tig aus­schie­den. Alle Pro­ban­den beka­men eine Dop­pel­ver­sor­gung, zum einen einen Haft­schaft mit End­kon­takt und zum ande­ren einen Liner­schaft mit Ras­ten­pin. Die Vor­ver­sor­gung bestand bei einem Teil der Grup­pe aus dem Haft­schaft, bei dem ande­ren Teil aus dem Liner­schaft, sodass Umver­sor­gun­gen in bei­de Rich­tun­gen stattfanden.

Die drei Pro­ban­den, von denen in der Fol­ge berich­tet wird, waren alle post­trau­ma­tisch ampu­tiert, zwi­schen 44 und 69 Jah­re alt und zwi­schen 10 und 47 Jah­ren ampu­tiert, es wur­den also nur Lang­zeit­ver­sorg­te untersucht.

Die Fra­gen, die sich zu Beginn der Stu­die stell­ten, waren:

  • Ist eine Umver­sor­gung in eine bestimm­te Rich­tung leichter?
  • Kön­nen all­ge­mei­ne Indi­ka­ti­ons­kri­te­ri­en erar­bei­tet werden?
  • Sind die bis­he­ri­gen „Indi­ka­ti­ons­kri­te­ri­en“, die sich mehr auf Erfah­rung und Gefühl des ver­ord­nen­den Arz­tes und behan­deln­den Tech­ni­kers stüt­zen, mög­li­cher­wei­se schon rich­tig gewesen?
  • Gibt es bio­me­cha­nisch mess­ba­re Unter­schie­de? Hier waren Pro­the­sen­hub und Rota­ti­ons­sta­bi­li­tät von beson­de­rer Bedeutung.

Das Prüf­pro­to­koll umfass­te eine Vicon-/Kist­ler­ana­ly­se zur Erfas­sung kine­ma­ti­scher und kine­ti­scher Daten in der Ebe­ne, die Gai­tri­te-Gang­mat­te zur Erfas­sung allein kine­ma­ti­scher Daten auch auf der Ram­pe, des Wei­te­ren kli­ni­sche Tests, wie z. B. den Time­dup-and-go-Test, und einen Fra­ge­bo­gen zur Eva­lu­ie­rung der sub­jek­ti­ven Beur­tei­lung hin­sicht­lich Kom­fort im Sit­zen, Ste­hen, Gehen, der Pass­form, des An- und Able­gens, der Haf­tung, der Beweg­lich­keit etc.

Der Pro­the­sen­hub wur­de mit Vicon gemes­sen, indem beim Gehen der Abstand des Spi­nen­mar­kers zu dem am Schaft befes­tig­ten zwei Mal gemes­sen wur­de: ein­mal in Neu­tral-Null-Stel­lung des Hüft­ge­lenks in der Stand­pha­se und ein­mal in der Schwung­pha­se. Die Dif­fe­renz wur­de als Pro­the­sen­hub definiert.

Zur Mes­sung der Rota­ti­ons­sta­bi­li­tät gin­gen die Pro­ban­den über die Gai­tri­te-Mat­te, die­se zeich­net die Fuß­ab­drü­cke auf und gibt u. a. den Win­kel des Soh­len­ab­drucks in Bezug zur Lauf­rich­tung aus. Tritt der Fuß immer mit dem­sel­ben Win­kel auf, ist die Stan­dard­ab­wei­chung gering, rotiert die Pro­the­se, ist die Streu­ung des Win­kels groß.

Alle erho­be­nen Mess­wer­te wur­den kli­nisch hin­sicht­lich Sicher­heit und Gang­phy­sio­lo­gie inter­pre­tiert. Sicher­heit, das Ver­mei­den von Sturz­er­eig­nis­sen, hat abso­lu­te Prio­ri­tät. Bei bestehen­der Sicher­heit kommt ins­be­son­de­re für jün­ge­re, akti­ve­re Pro­ban­den auch das zwei­te Ziel in den Vor­der­grund, die Gangphysiologie.

Als Indi­zi­en für eine erhöh­te Sicher­heit wur­den gewer­tet: eine erhöh­te (maxi­ma­le) Geschwin­dig­keit, gerin­ge Stan­dard­ab­wei­chun­gen der Knie- und Hüft­win­kel und ‑momen­te sowie der Fuß­ro­ta­ti­on (als Zei­chen für eine hohe Repro­du­zier­bar­keit des Gang­bil­des) und gerin­ge­re exten­die­ren­de bzw. höhe­re flek­tie­ren­de Momen­te auf der Pro­the­sen­sei­te in der frü­hen Standphase.

Als Indi­zi­en für eine ver­bes­ser­te Gang­phy­sio­lo­gie wur­den gewer­tet: gerin­ge Asym­me­trien zwi­schen rech­ter und lin­ker Sei­te der kine­ma­ti­schen wie kine­ti­schen Para­me­ter, eine höhe­re rela­ti­ve Belas­tung der Pro­the­sen­sei­te, ver­rin­ger­ter Pro­the­sen­hub und eine erhöh­te Ausdauer.

Ergeb­nis­se

Pro­band 1 (44 Jah­re alt, 10 Jah­re ampu­tiert, mit Liner vor­ver­sorgt) zeig­te schwa­che Unter­schie­de in allen Para­me­tern, die ten­den­zi­ell mit der Liner­ver­sor­gung bes­ser waren. In der Befra­gung bewer­te­te er bei­de For­men glei­cher­ma­ßen gut, prio­ri­sier­te letzt­end­lich aber sei­ne Vor­ver­sor­gung, den Linerschaft.

Pro­band 2 (69 Jah­re alt, 47 Jah­re ampu­tiert, mit Haft­schaft vor­ver­sorgt) wies ein­deu­ti­ge Unter­schie­de auf, die alle zuguns­ten des Haft­schaf­tes, sei­ner Vor­ver­sor­gung, aus­fie­len; auch die sub­jek­ti­ve Bewer­tung bestä­tig­te dies. Allein das An- und Able­gen der Pro­the­se fiel ihm mit dem Liner­schaft leichter.

Pro­band 3 (68 Jah­re alt, 45 Jah­re ampu­tiert, mit Haft­schaft vor­ver­sorgt) zeig­te wie­der­um nur gering aus­ge­präg­te Unter­schie­de, die für den Haft­schaft, sei­ne Vor­ver­sor­gung, spra­chen. Als ein­zi­ger von allen drei­en ent­schied er sich aller­dings in der per­sön­li­chen Eva­lua­ti­on für die Alter­na­tiv­ver­sor­gung, den Liner­schaft. Der Kom­fort beim Gehen, ins­be­son­de­re auf Trep­pe und Ram­pe, gab hier­für den Aus­schlag. Pro­band 3 wich in sei­ner per­sön­li­chen Mei­nung als ein­zi­ger von den objek­ti­ven Ergeb­nis­sen ab, die aller­dings auch nur gerin­ge Unter­schie­de aufwiesen.

Der Pro­the­sen­hub zeig­te die deut­lichs­ten Ergeb­nis­se hin­sicht­lich einer bestimm­ten Ver­sor­gungs­form: er war durch­ge­hend gerin­ger mit dem Haft­schaft. Hier lag er bei 6 mm (Durch­schnitts­wert) gegen­über 16 mm beim Liner­schaft. Beson­ders stark aus­ge­prägt war dies bei Über­ge­wich­tig­keit des Probanden.

Die Rota­ti­ons­sta­bi­li­tät zeig­te hin­ge­gen kei­ne Unter­schie­de zwi­schen den Ver­sor­gungs­for­men, sie ist offen­bar unab­hän­gig vom Linereinsatz.

Ein Haft­schaft redu­ziert also die Bewe­gung par­al­lel zum Femur, nicht aber die Tor­si­on um das Femur.

Zusam­men­fas­sung der Ergebnisse

Zusam­men­fas­send kann fest­ge­hal­ten wer­den, dass alle mess­ba­ren Unter­schie­de zwar nur gering aus­fie­len, jedoch alle für die Vor­ver­sor­gung spra­chen. Eine Aus­nah­me bil­de­te hier der Pro­the­sen­hub, der mit dem Haft­schaft durch­weg gerin­ger aus­fiel. Dies bedeu­tet zum einen, dass die bis­he­ri­ge „Indi­ka­ti­ons­stel­lung“ rich­tig war und zum ande­ren, dass eine Umver­sor­gung von einer zufrie­den­stel­len­den Haft­schaft­ver­sor­gung auf einen Liner als nicht gene­rell indi­ziert zu betrach­ten ist.

Ein­schrän­kend muss unbe­dingt erwähnt wer­den, dass die Grup­pe mit n = 3 zu klein ist für gene­rel­le Aus­sa­gen, dar­über hin­aus bestand die Grup­pe aus­schließ­lich aus post­trau­ma­tisch ampu­tier­ten Lang­zeit­ver­sorg­ten. Für all­ge­mein­gül­ti­ge Aus­sa­gen ist es erfor­der­lich, die Stu­die mit einer grö­ße­ren Fall­zahl fortzusetzen.

Die Autorin:
Kers­tin Tiemeyer
Kli­nik für Tech­ni­sche Ortho­pä­die und
Reha­bi­li­ta­ti­on
Kli­ni­sche Prüf­stel­le für orthopädische
Hilfs­mit­tel
Domagk­stra­ße 3
48149 Müns­ter
kerstin.tiemeyer@ukmuenster.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/Reviewed paper

Zita­ti­on
Tie­mey­er K, Hil­de­brandt M, Schü­ling S, Wetz HH. Intra­in­di­vi­du­el­le Ver­gleichs­stu­die zwi­schen Haft­schaft und Sili­kon­liner­tech­nik bei Ober­schen­kel­am­pu­tier­ten. Ortho­pä­die Tech­nik, 2013; 64 (5): 20–23

 

  1. Drer­up B, Barsch K. Liner-Sys­te­me – Der Aspekt von Haf­tung und Rei­bung. Med Orth Tech 2009; 129:7 ff
  2. Grei­temann B. Liner­ver­sor­gung. Med Orth Tech 2000; 120: 140 ff
  3. Wie­ners E. Ver­ord­nungs­kri­te­ri­en für Ober­schen­kel­schaft­sys­te­me mit Schwer­punkt der Liner­ver­sor­gung, Univ.-Diss., Müns­ter, 2010
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