Inspi­ra­ti­on Day: Geleb­te Interdisziplinarität

Nicht immer braucht es den persönlichen Kontakt, aber stets den gemeinsamen Austausch – das ist beim „Focus CP Rehakind Inspiration Day“ deutlich geworden, bei dem Expert:innen aus Wissenschaft, Medizin, Rehabilitation und Technik in kleiner Live- und großer virtueller Runde zusammenkamen. Mit dem Alternativprogramm für den verschobenen Kongress „Focus CP Rehakind“ boten die Veranstalter eine spannende Vorschau auf die Themen, die die Community vom 1. bis 4. Februar 2023 unter dem Motto „Gemeinsam unterwegs“ in der Messe Dortmund beschäftigen werden. Für das Highlight mussten sich die Zuschauer:innen bis zum Schluss gedulden. Der Star des Nachmittags: die neunjährige Lena.

Live aus Duis­burg führ­ten Dr. Maria del Pilar Andri­no Gar­cia und Chris­tia­na Hen­ne­mann für Reha­kind, Prof. Dr. Tho­mas Dre­her und Prof. Dr. Rüdi­ger Kraus­pe für die Ver­ei­ni­gung für Kin­der­or­tho­pä­die (VKO) sowie Prof. Dr. Vol­ker Mall für die Deut­sche Gesell­schaft für Sozi­al­päd­ia­trie und Jugend­me­di­zin (DGSPJ) und in Ver­tre­tung auch für die Gesell­schaft für Neu­ro­päd­ia­trie (GNP) durch die per Stream auf You­tube über­tra­ge­ne Ver­an­stal­tung. Das Ziel: gemein­sam Stra­te­gien ent­wi­ckeln und Per­spek­ti­ven auf­zei­gen, um jun­ge Men­schen mit Bewe­gungs­stö­run­gen und ande­ren Ein­schrän­kun­gen zu unter­stüt­zen und so ihre Selbst­stän­dig­keit und Teil­ha­be zu sichern.

Prof. Heri­bert Prantl (Süd­deut­sche Zei­tung) stimm­te mit sei­nem Gruß­wort bereits auf den Kon­gress im Febru­ar ein, bei dem er als Fest­red­ner vor Ort sein wird. Er sieht Inklu­si­on als gesell­schaft­li­che Auf­ga­be und ermahn­te das Publi­kum, sich für benach­tei­lig­te Men­schen ein­zu­set­zen. Eini­ge Gäs­te konn­ten im Stu­dio begrüßt wer­den, ande­re schal­te­ten sich dazu, um nicht nur ihre Vor­trä­ge prä­sen­tie­ren zu kön­nen, son­dern auch um den Moderator:innen und den rund 500 Zuschauer:innen Rede und Ant­wort zu ste­hen. So auch Dr. Nico­lai Jung (Sozi­al­päd­ia­trie), der in sei­nem Vor­trag zum The­ma „Per­so­na­li­sier­te Neu­ro­sti­mu­la­ti­on“ deut­lich mach­te, war­um auch mini­mal­in­va­si­ve Metho­den in die Reha­bi­li­ta­ti­on ein­flie­ßen kön­nen. Die Ope­ra­ti­on ist das eine, der wei­te Weg danach das ande­re. Das zeig­te Dr. Micha­el Wachow­sky (Kinder‑, Jugend- und Neu­ro­or­tho­pä­die) auf und prä­sen­tier­te Mög­lich­kei­ten der Reha­bi­li­ta­ti­on im Anschluss an neu­ro­or­tho­pä­di­sche Ope­ra­tio­nen. Dabei stell­te er auch die Not­wen­dig­keit einer guten Zusam­men­ar­beit zwi­schen Operateur:innen und Reha­kli­ni­ken her­aus.  Wie ist es um die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung in Sozi­al­päd­ia­tri­schen Zen­tren bestellt? Ant­wor­ten dar­auf gab Dr. Mona Drees­mann, Lei­te­rin des SPZ Pots­dam. Allein mit Blick auf die Antrags­stel­lung beton­te sie: „Die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung ist ein kom­ple­xer Pro­zess, der Eltern belas­ten kann.“ Hilfs­mit­tel wür­den häu­fig abge­lehnt mit teils schwer­wie­gen­den Fol­gen für die Ent­wick­lung der Kin­der. Auch feh­len­de Trans­pa­renz bei der Abstim­mung zahl­rei­cher Akteu­re erschwe­re den Pro­zess. Sie sagt: „Schreib­kram und Wider­sprü­che“ wür­den sowohl Eltern als auch Fach­leu­te über­for­dern. Um das zu ändern, hat sich das „Akti­ons­bünd­nis für bedarfs­ge­rech­te Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung“ – her­vor­ge­gan­gen aus der Online-Peti­ti­on der Fami­lie Lech­leuth­ner – gegrün­det. Gemein­sam haben die Mit­glie­der Pro­ble­me defi­niert sowie Ver­bes­se­rungs­vor­schlä­ge erarbeitet.

Im stän­di­gen Austausch

Wie wich­tig inter­dis­zi­pli­nä­re Zusam­men­ar­beit sowie Teil­ha­be in der Ver­sor­gung sind, zog sich wie ein roter Faden durch die Bei­trä­ge aller Referent:innen. Wie das ganz kon­kret in der Pra­xis aus­se­hen kann, zeig­te eine Sprech­stun­den-Run­de um Dr. Björn Veh­se (Neu­ro­or­tho­pä­die), Tho­mas Becher (Kin­der- und Jugend­me­di­zin), Gun­nar Kan­del (Ortho­pä­die-Tech­nik), Andrea Espei (Ergo­the­ra­pie) und Clau­dia Staudt, Jour­na­lis­tin, Fit­ness­trai­ne­rin und Mut­ter der neun­jäh­ri­gen Lena. Wer den „Focus-CP-Reha­kind-Kon­gress“ 2019 ver­folgt hat, kann­te das Mäd­chen bereits. Seit ihrem neun­ten Lebens­mo­nat ist sie auf­grund einer bila­te­ra­len spas­ti­schen Cere­bral­pa­re­se GMFCS-Level IV in Dau­er­pfle­ge. In den ver­gan­ge­nen Jah­ren hat sich viel getan. Egal ob es um den Wunsch nach dem Schrei­ben mit der Hand ging, das Schla­fen auf der Sei­te oder die Ent­schei­dung dar­über, ob sie ste­hen oder sit­zen will – Lena gibt mitt­ler­wei­le den Weg und das Tem­po vor. „Das ein­schnei­dends­te Erleb­nis war die Hüft­kor­rek­tur“, berich­te­te ihre Mut­ter. Zwei Ope­ra­tio­nen in zwei Wochen und lan­ge Auf­ent­hal­te auf der Inten­siv­sta­ti­on. Als der Gips abge­nom­men wur­de, habe sich Lena in ihrem eige­nen Kör­per nicht mehr wie­der­ge­fun­den. „Es hat sich alles anders ange­fühlt. Die Angst vor den Schmer­zen war so groß“, berich­te­te Staudt. Lena habe sich kaum noch bewegt, auch nähern durf­te sich nie­mand mehr. „Mehr als panisch zucken, Augen auf­rei­ßen und schrei­en ging nicht mehr. Es war die Höl­le“, erin­nert sich Staudt. „Das Ein­zi­ge, was uns ein­fiel, war Herrn Becher anzu­ru­fen und einen Hil­fe­ruf abzu­set­zen.“ Und der stell­te fest: „Es zeigt sich, dass Inter­dis­zi­pli­na­ri­tät manch­mal über die gewohn­ten Wege hin­aus­ge­hen muss.“ In Abstim­mung mit der Kin­der- und Jugend­psych­ia­te­rin wur­de Lena sta­tio­när auf­ge­nom­men und Dia­ze­pam ver­ab­reicht. Nach und nach kamen Lenas Mut und Lebens­freu­de zurück. Phy­sio­the­ra­pie ergänz­te den gesam­ten Pro­zess. „Wir waren im stän­di­gen Aus­tausch. Das war hilf­reich für alle Sei­ten. Wir haben die Fami­lie mit­ein­be­zo­gen und konn­ten ein gutes Kon­zept ent­wi­ckeln“, berich­te­te Veh­se mit Blick auf die Lage­rung. Die nächs­ten Schrit­te sind bereits ange­dacht: „Wir pla­nen der­zeit eine sehr redu­zier­te Lage­rung, ein ange­fer­tig­tes Schaum­kis­sen, womit sich Lena bes­ser bewe­gen kann. Sie kann damit auch in Sei­ten­la­ge­rung gehen. Das ist von der Com­pli­ance her ein guter Fort­schritt für Lena“, ergänz­te Kandel.

E‑Rolli ist gute Alltagshilfe

Lena selbst kam selbst­ver­ständ­lich auch mehr­fach zu Wort und wur­de mit kur­zen Video­se­quen­zen ein­ge­spielt. Auf die Fra­ge ihrer Mut­ter, wel­ches ihr liebs­tes Hilfs­mit­tel sei, hat­te die Neun­jäh­ri­ge eine kla­re Ant­wort: „Mein Assis­tenz­hund.“ Immer­hin auf Platz zwei schafft es der E‑Rolli. „Er ist eine gute All­tags­hil­fe. Ich kann sel­ber ent­schei­den, ob ich gera­de, mit­tel oder gar nicht ste­hen will.“ Auch einen Wunsch für die Zukunft äußer­te Lena: „Wenn ich etwas erfin­den könn­te, dann, dass es nur noch bar­rie­re­freie Häu­ser gibt. Nicht nur für behin­der­te Men­schen, son­dern auch für Men­schen, die alt wer­den und nicht gut Trep­pen lau­fen kön­nen. Man soll­te das gan­ze Land bar­rie­re­frei machen.“ Die­sem Appell konn­ten alle Betei­lig­ten vor Ort in Duis­burg nur zustim­men – und ver­mut­lich auch die Zuschauer:innen zu Hau­se vor ihren Bildschirmen.

Pia Engel­brecht

Tei­len Sie die­sen Inhalt