Einleitung
Eine erfolgreiche Versorgung mit einer Unterschenkelprothese hängt neben der aktivitätsadaptierten Passteilauswahl und dem korrekten Aufbau auch vom verwendeten Stumpfbettungssystem und hier vor allem von der optimalen Schaftpassform ab. Basis für eine adäquate Passform ist immer das zugrunde liegende Gipsmodell. Die entscheidende Voraussetzung für ein passendes Modell wiederum ist stets die individuelle Erfassung der Stumpfsituation. Hierfür stehen dem Orthopädie-Techniker vom manuellen Abdruck bis zu technisch unterstützten Verfahren unterschiedliche Möglichkeiten zur Verfügung.
Vergleich der Abformverfahren
Als Standardverfahren darf der manuelle Gipsabdruck angesehen werden. Bei diesem Verfahren werden Gipsbinden um den Stumpf gewickelt, um sowohl das Volumen als auch die Form korrekt zu erfassen. Gleichzeitig bemüht sich der Techniker, manuell eine Zweckform in den Abdruck einzubringen, die die Belastungssituation im Schaft bereits während des unbelasteten Abdrucks nachahmen soll. Diese bisher gängige Abdrucktechnik ist allerdings sehr individuell und anwenderabhängig: Ein einmal gefertigter Abdruck lässt sich kaum ein zweites Mal mit gleichem Ergebnis herstellen. Eine zufriedenstellende Reproduzierbarkeit ist somit nicht gegeben.
Die Passform und damit letztlich auch die Akzeptanz einer Unterschenkelprothese hängt insbesondere davon ab, wie gut es gelingt, ein physiologisches Druckverhältnis zwischen den weichteiligen und den knöchernen Anteilen im Prothesenschaft unter vollständiger Stumpfbelastung zu verwirklichen. Die Weichen für Mobilität, Aktivität, Hautbild, Gangstabilität und Druckpunkte sowie Kontrolle, Tragekomfort und Haftung in der späteren prothetischen Versorgung werden schon beim Gipsabdruck gestellt. Ein exaktes Abbild des Bindegewebes sowie der knöchernen Strukturen unter Belastung ist mit dem händischen Verfahren meist schwierig zu verwirklichen und häufig erst nach mehreren Anproben realisierbar, da sich die Stumpfsituation während des unbelasteten Abdrucks im Sitzen doch sehr von der Situation unter Belastung im Stand unterscheidet.
Mit dem hier vorgestellten innovativen Abformsystem ist es erstmals möglich, die Situation des Stumpfes im Stand unter Belastung zu erfassen sowie einen passgenauen, individuellen, aber auch reproduzierbaren Gipsabdruck der unteren Extremität herzustellen.
Hydrostatischer Gipsabdruck
Ziel des hydrostatischen Gipsabdrucks ist, wie in Abbildung 1 gezeigt, eine individuelle und exakte Abbildung der Weichteil- und der knöchernen Situation unter realen Belastungsbedingungen im Stand. Das System kann sowohl für klassische Stumpfbettungen mit Innentrichter als auch für alle Arten von Linerversorgungen angewendet werden. Der Abdruck lässt sich mit handelsüblichen Gipsbinden, mit PU-Glasfaserbinden oder speziellen Casting-Socks herstellen (Abb. 2). Nach den generellen Vorbereitungen zum Gipsabdruck und dem Umwickeln des Stumpfes mit Gipsbinden steht der Patient auf. Um ein Eintauchen in den Hydrostatik-Zylinder zu ermöglichen, wird das Steuerventil geöffnet. Das verdrängte Wasser entweicht in einen Ausgleichsbehälter. Somit kann der Stumpf bis zur gewünschten Tiefe in das System einsinken. Sobald dies erreicht ist, wird das Steuerventil wieder geschlossen. Nun befindet sich der Stumpf in einem geschlossenen Wasserdrucksystem (Abb. 3).
Der Patient verlagert nun sein gesamtes Körpergewicht auf die amputierte Extremität. Damit wird erreicht, dass die distale knöcherne Struktur unter Vollbelastung abgeformt wird und der entstehende Wasserdruck eine Vorkompression auf das Bindegewebe ausübt, ähnlich der Situation im Schaft. Durch den hydrostatischen Druck dieser Technologie wird das individuelle Körpergewicht optimal und absolut gleichmäßig auf die Stumpfoberfläche übertragen. Somit kommt es schon beim Gipsabdruck zu einem realistischen Abbild des Bindegewebes und der knöchernen Strukturen.
Der so gefertigte Gipsabdruck bietet Patienten und Technikern die Möglichkeit, eine belastete Drucksituation im Gipsnegativ zu erfassen. Der Patient kann hierbei bereits wertvolle Informationen über das Schaftvolumen, die Belastungssituation an knöchernen Bestandteilen oder sonstige Schmerzpunkte geben. Markante Knochenpunkte sowie narbige, empfindliche Stellen sind hierbei schon deutlich unter Vollbelastung erkennbar. Die durch das Körpergewicht erreichte Kompression des Stumpfes erleichtert das spätere Modellieren des Gipsmodells. Messungen der Entwicklungsabteilung ergaben durch das hydrostatische Abformverfahren eine Reduzierung der Umfangsmaße im Abdruck um ca. 2,5 %.
Unterschiedliche Abdrücke eines Patienten im Vergleich
Während der Entwicklungstätigkeit wurden verschiedene Abdrucktechniken verglichen (Abb. 4a u. b). Wie beschrieben besteht der wesentliche Unterschied darin, dass bei der hydrostatischen Abdrucktechnik der Stumpf während der Standphase unter absoluter Gewichtsbelastung abgeformt wird. Dies wird auch im Volumenvergleich durch eine digitale Vermessung deutlich (Abb. 5a u. b): Der beim Abdruck auf dem Manometer angegebene Druck in Millibar ist die entscheidende Angabe in Bezug auf die noch notwendige Modellarbeit entsprechend einer dem System beigefügten Reduziertabelle. Je nach Körpergewicht und Stumpfgröße kann der Wasserdruck stark variieren. Der Druck stellt den Quotienten aus der Gewichtskraft des Patienten und der Stumpfoberfläche dar. So besteht nach den Messungen die Möglichkeit, dass ein 180 kg schwerer Patient mit einem großen Stumpfumfang (ca. 54 cm) den gleichen Druck erzeugt wie ein 95-kg-Patient mit einem kleineren Stumpfumfang (ca. 28 cm).
Noch ein weiterer Aspekt spricht für die Verwendung eines Abdrucksystems, das die Stumpfabformung unter Belastung ermöglicht: Gerade die knöchernen Strukturen sowie ihre Einbindung in die Weichteildeckung stellen eine Herausforderung bei der Einbettung des transtibialen Stumpfes dar. Das Körpergewicht des Patienten wird während der Belastung über das knöcherne Skelett in den Stumpf eingeleitet, dann aber über den Weichteilmantel auf den Schaft übertragen.
Die knöchernen Anteile sich im Weichteilmantel zwar eingebettet, jedoch nicht statisch fixiert. Speziell ein nach distal gerichtetes Verschieben von Tibia und Fibula innerhalb des Weichteilmantels inklusive der prominenten Stellen Wadenbeinköpfchen und Tibiaplateau erzeugen unter Belastung eine andere Stumpfkontur als ein unbelasteter Stumpf.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Techniker durch das hydrostatische Abdrucksystem bereits während des Abdrucks Daten über die Stumpfgeometrie, die Weichteilsituation sowie weitere kritische Punkte des Stumpfes unter Belastung erfassen kann. Gleichzeitig erhält er bereits bei der Negativerstellung eine Rückmeldung des Patienten und kann bei der Positivmodellierung schon vor der Fertigung des Probeschafts darauf eingehen. Damit wird die Anzahl der Probeschäfte reduziert sowie Haut- und Stumpfirritationen vorgebeugt. Der hydrostatische Abdruck ermöglicht durch reproduzierbare Präzision eine individuelle Passformqualität des Prothesenschafts.
Weitere Applikationen des Abdrucksystems befinden sich in der Entwicklung. Insbesondere die Präzisierung der Fertigung individueller Schäfte und die Erfassung der tatsächlichen Situation im Schaft sollen weiterentwickelt werden.
Die Autorin:
Simone Radspieler M. A.
Romedis GmbH
Georg-Wiesböck-Ring 5a
83115 Neubeuern
sr@romedis.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Radspieler S. Gipsen mit Wasserdruck — Eine neue Methode der Stumpfabformung mit einem hydrostatischen Abdrucksystem. Orthopädie Technik, 2016; 67 (6): 57–60
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