Einleitung
Die konservative Behandlung der symptomatischen lumbalen Spinalkanalstenose beinhaltet in der Regel Physiotherapie, Gehtraining und epidurale Infiltrationen. Dagegen ist die Anzahl der mit Orthesen behandelten Patienten in den letzten Jahren zurückgegangen, obwohl diese beim Tragen von Rückenorthesen häufig eine Schmerzreduktion erfahren1. Angesichts kontroverser Ergebnisse und infolge der Annahme, dass Rückenorthesen zu einem Abbau der – ohnehin durch die Schmerzsymptomatik – geschwächten Muskulatur führen, raten die aktuellen nationalen Versorgungsrichtlinien bei Patienten mit akuten oder chronischen nichtspezifischen Beschwerden von der Behandlung mittels Orthese ab und sprechen sogar von einer Nichteignung von Orthesen bei nichtspezifischen Rückenschmerzen 2. Die vorliegende Studie untersucht die kurzfristigen klinischen Wirkungen einer speziell entwickelten dynamischen Flexionsorthese bei Patienten mit symptomatischer lumbaler Spinalkanalstenose.
Material und Methodik
Dyneva-Flexionsorthese
In der Studie wurde die Wirkung der Flexionsorthese Dyneva© (Ottobock SE & Co. KGaA, Duderstadt) untersucht. Dabei handelt es sich um eine speziell für lumbale Spinalkanalstenosen entwickelte Rückenorthese. Ihre Besonderheit liegt in einem Drei-Punkte-Prinzip und in einem Federmechanismus, der auf Schmerzlinderung in der Bewegung ausgerichtet ist. Aufgrund dieses neuartigen Federmechanismus lässt sie sich als dynamische Flexionsorthese charakterisieren (Abb. 1).
Die Studie prüft die Hypothese, dass die Anwendung der Dyneva-Flexionsorthese zu einer verbesserten Bewältigung alltagsrelevanter Aktivitäten, zu einer Verminderung von Schmerzen und somit zu einer Verbesserung der Lebensqualität führt. Das Wirkprinzip der Orthese besteht darin, durch Reduktion der muskelkraftinduzierten Kompression und durch Aufrichtung der Lendenwirbelsäule die lumbale Muskulatur signifikant zu aktivieren. Die Orthese besteht aus einem stabilen dorsalen Rohrrahmen mit insgesamt drei Pelotten, von denen zwei im Bereich der unteren Schulterblätter und eine im Bereich der LWS angebracht sind. Sie verfügt über einen festen ventralen Bauchgurt mit Verstärkungen, einen weiteren Unterstützungsgurt sowie einen vorderen Klettverschluss mit leichter Abdominalplatte und offenem Rückenbereich. Die Orthese wird in 6 Größen verordnet und individuell von einem Orthopädie-Techniker angepasst. Das Tragen der Dyneva-Flexionsorthese erfolgt nach entsprechender Schulung des Patienten und nur bei Aktivitäten wie Stehen oder Laufen, nicht hingegen beim Sitzen oder Liegen.
Studienpopulation
In die Studie wurden 30 Probanden eingeschlossen. Einschlusskriterien waren ein Alter von 18 bis 80 Jahren und folgende Krankheitsbilder:
- zentrale oder foraminale lumbale Stenosen mit Claudicatio-spinalis-Symptomatik,
- degenerative lumbale Instabilitäten (z. B. Spondylolisthese) mit Lumboischialgie oder Claudicatio-spinalis-Symptomatik sowie
- Bandscheibenvorfälle mit ischialgieformen Schmerzen.
Ein Ausschluss erfolgte in folgenden Fällen:
- Paresen der unteren Extremitäten,
- Kontaktallergien auf Orthesenmaterial,
- Erkrankungen im Körperbereich mit Orthesenkontakt,
- akute Spondylodiszitis,
- Tumorerkrankungen,
- frische Wirbelkörperfrakturen sowie
- Schwangerschaft.
Aus der Studienpopulation wurde per Los eine mit der Dyneva-Flexionsorthese versorgte Gruppe von 20 Patienten und eine nicht versorgte Kontrollgruppe von 10 Patienten gebildet. Die Tragedauer der Orthese betrug mindestens 2 Stunden pro Tag an 21 bis 28 Tagen.
Messzeitpunkte und Messinstrumente
Die erforderlichen Messungen erfolgten zu zwei Messzeitpunkten, und zwar zu Beginn und am Ende der Tragezeit. Der zweite Messzeitpunkt fand somit 21 bis 28 Tage nach dem ersten statt und markierte zugleich das Ende der Studienteilnahme (Abb. 2). Die eigentliche Messung erfolgte dadurch, dass beide Gruppen an jedem der Messzeitpunkte sowohl Parcoursübungen absolvierten als auch einer Beurteilung durch standardisierte Fragebögen unterzogen wurden. Ferner wurden Veränderungen der Schmerzmitteleinnahme erhoben.
Parcoursübungen
Mit den Parcoursübungen wurden alltagsübliche Aktivitäten gemessen, die aufgrund der Erkrankung typischerweise eingeschränkt sind. Der Parcours beinhaltete mit dem Stairs-up-and-down-Test und dem Chair-Rising-Test zwei standardisierte Übungen zu alltagstypischen Bewegungen. Zudem wurde ein 6‑Minuten-Gehtest durchgeführt.
Beim Stairs-up-and-down-Test 3 wurden die Patienten aufgefordert, 60 Sekunden lang über eine Treppe mit drei Stufen auf und ab zu gehen, möglichst ohne Zuhilfenahme der Arme (Abb. 3). Im Rahmen des Chair-Rising-Tests 45stand jeder Patient während eines Zeitraums von 30 Sekunden von einem standardisierten Stuhl auf und setzte sich wieder (Abb. 4). Beim 6‑Minuten-Gehtest 6 wurden die Patienten aufgefordert, ohne Geschwindigkeitsvorgabe auf ebenem Boden so weit wie möglich zu gehen. Dieser Test wurde zu Beginn und nach Beendigung des Parcours durchgeführt (Abb. 5). Um den Einfluss von Ermüdungseffekten auszuschließen, wurden die Parcoursübungen in zufälliger Reihenfolge absolviert.
Assessments und Analgetikaeinnahme
Zu beiden Messzeitpunkten wurden zusätzlich etablierte standardisierte Fragebögen eingesetzt, um Veränderungen durch das Tragen der Orthese zu erfassen. Dabei wurde zunächst der EQ-5D 789verwendet. Dieses generische Messinstrument misst den Gesundheitszustand des Patienten in den Teilbereichen Beweglichkeit/Mobilität, Selbstversorgung, allgemeine Tätigkeiten, Schmerzen/körperliche Beschwerden und Angst/Niedergeschlagenheit. Zusätzlich soll der Patient in einer visuellen analogen Skala einschätzen, wie gut oder schlecht sein derzeitiger Gesundheitszustand ist.
Des Weiteren wurden die Patienten mit Hilfe des Zürich Claudication Questionnaire (ZCQ)10 befragt. Dieser Fragebogen gibt Aufschluss über die Beschwerden der letzten vier Wochen. Er ist in drei Teilbereiche mit insgesamt 18 Fragen gegliedert.
Ferner erfolgte eine Befragung anhand des Oswestry Low Back Pain Disability Questionnaire (ODI) 1112. Dieses Testinstrument erfasst Schmerz und Funktionsstatus von Patienten mit chronischen Rückenschmerzen unter Berücksichtigung der Einschränkungen und Schmerzintensität bei verschiedenen Alltagstätigkeiten.
Schließlich gaben die Patienten ihre Selbsteinschätzung auf der Visuellen Analogskala (VAS) 13 für Schmerzen in Ruhe und bei Belastung an. Ergänzend wurden die Patienten vor und am Ende der Intervention nach ihrer Analgetikaeinnahme gefragt.
Ergebnisse
Alle 30 Probanden konnten nachuntersucht werden. Dabei zeigten sich sowohl bei den Parcoursübungen als auch bei den Assessments signifikante Verbesserungen der Orthesengruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe. Bezüglich der Parcoursübungen nahm die Gehstrecke in der Orthesengruppe im Mittel um 13,3 % zu. Bei einer angenommenen Signifikanz von p < 0,05 ließ sich eine signifikante absolute Steigerung der Orthesengruppe mit p = 0,004 (t‑Test) verzeichnen. Auch die relative Verbesserung im Vergleich zur Kontrollgruppe erwies sich mit p = 0,006 (t‑Test) als signifikant.Ähnliche Befunde lieferte der Stairs-up-and-down-Test: In der Orthesengruppe war eine Verbesserung von 27,6 % im Mittel zu verzeichnen. Dies entspricht einer Signifikanz von p < 0,001 (t‑Test). Dagegen war in der Kontrollgruppe keine Verbesserung zu verzeichnen. Gleiches gilt für den Chair-Rising-Test. Dabei erzielte die Orthesengruppe eine Verbesserung von 18,8 % im Mittel, was einer Signifikanz von p = 0,002 entspricht. Auch hier erreichte die Kontrollgruppe keine Verbesserung.
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Assessements: Beim EQ-5D Teil 1 verbesserte sich die Orthesengruppe im Gruppenvergleich gegenüber der Kontrollgruppe (Mann-Whitney-Test; p = 0,037 bzw. p = 0,037, ). Beim EQ-5D Teil 2 verbesserte sich die Orthesengruppe mit p = 0,001 (t‑Test) signifikant, während sich die Kontrollgruppe verschlechterte. Im Gruppenvergleich waren die Verbesserungen der Orthesengruppe damit ebenfalls signifikant höher als in der Kontrollgruppe (Mann-Whitney-Test; p < 0,001 bzw. p < 0,001). Was den ZCQ betrifft, nahmen dessen Werte innerhalb der Orthesengruppe signifikant (t‑Test; p = 0,002) ab; es zeigte sich somit ein Rückgang der Beschwerden. In der Kontrollgruppe nahmen diese zu. Im Gruppenvergleich unterschieden sich damit die Veränderungen ebenfalls signifikant (Mann-Whitney-Test; jeweils p = 0,001). Beim Oswestry Low Back Pain Disability Questionnaire (ODI) steigerte sich die Orthesengruppe – anders als die Kontrollgruppe – signifikant (t‑Test; p = 0,023). Im Gruppenvergleich zeigten sich größere Veränderungen in der Orthesengruppe als in der Kontrollgruppe (Mann-Whitney-Test; p = 0,009 bzw. p = 0,001).
Auch bei der VAS Ruhe erfolgten in der Orthesengruppe – anders als in der Kontrollgruppe – signifikante Verbesserungen (Wilcoxon-Test; p = 0,041). Im Gruppenvergleich fiel die Verbesserung in der Orthesengruppe signifikant höher aus als in der Kontrollgruppe (Mann-Whitney-Test; p = 0,007 bzw. p = 0,008). Auch bei der VAS Belastung erzielte die Orthesengruppe eine signifikante absolute Verbesserung (Wilcoxon-Test; p = 0,011); die Veränderungen im Gruppenvergleich fielen ebenfalls signifikant aus (Mann-Whitney-Test;, p = 0,012 bzw. p = 0,013). Schließlich war auch beim Analgetikaverbrauch in der Orthesengruppe eine Verbesserung zu verzeichnen, während in der Kontrollgruppe eine Verschlechterung zu beobachten war.
Schlussfolgerung
Die Anwendung der Dyneva-Flexionsorthese bei symptomatischer lumbaler Spinalkanalstenose führte im Vergleich zur Kontrollgruppe zu signifikanten Verbesserungen klinischer Parameter und Assessments. Vor allem im Hinblick auf eine Verlängerung der Gehstrecke und eine Verringerung der Schmerzen kann die Flexionsorthese als Baustein in der konservativen Therapie empfohlen werden.
Für die Autoren:
Dr. Klaus John Schnake
Zentrum für Wirbelsäulen- und Skoliosetherapie
Schön Klinik Nürnberg Fürth
Europa-Allee 1, 90763 Fürth
kschnake@schoen-kliniken.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Schnake KJ, Seeger A. Gezielte Therapie lumbaler Spinalkanalstenosen mit einer Wirbelsäulenorthese. Orthopädie Technik; 2019: 70 (1): 14–17
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