Die neue Rechtsprechung ändert dies zu Ungunsten der Patienten. Rechtsanwalt Jörg Hackstein von der Kanzlei Hartmann Rechtsanwälte Lünen und Rehakind-Vorsitzender dazu: „Um die Genehmigungsfiktion nutzen zu können, müssen sich nun Patienten zwischen Fristablauf und verspäteter Entscheidung der Krankenkasse ein Hilfsmittel auf eigene Rechnung selbst anschaffen. Selbstbeschaffung bedeutet die Anschaffung des Hilfsmittels durch die Patienten auf eigenes wirtschaftliches Risiko. Gegebenenfalls wird nämlich erst in einem noch lang andauernden Widerspruchs- und Klageverfahren geklärt, ob die Anschaffung zu Recht erfolgte. Es ist davon auszugehen, dass nur wenige Familien bereit sein werden, dieses Risiko zu tragen, wenn sie es sich überhaupt finanziell leisten können. Damit hat das BSG die Rechte der Patienten deutlich geschwächt. Wenn der Gesetzgeber weiter Interesse an der Stärkung der Patientenrechte und insbesondere an schnellen Entscheidungen der Krankenkassen hat, muss er das Nichteinhalten von Entscheidungsfristen zugunsten der Patienten auf Seiten der Kostenträger effektiv sanktionieren und dies vor allem auch für den Sachleistungsanspruch sicherstellen. Die wenigsten Patienten können es sich auf eigenes Risiko erlauben, Leistungen selbst zu beschaffen.“
Auch der Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) reagiert auf das Urteil: „Seit 2013 gilt die Genehmigungsfiktion, um die Bewilligungs- und Genehmigungsverfahren bei den gesetzlichen Krankenkassen zu beschleunigen. Nun bewirkt die Entscheidung des BSG das genaue Gegenteil: Es gefährdet die zeitnahe Patientenversorgung mit benötigten Leistungen“, so BIV-OT-Präsident Alf Reuter. Jürgen Westerath, Fachanwalt für Arbeitsrecht & Sozialrecht, erklärt: „Die Bedeutung der Entscheidung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ein so rabiater Bruch mit der bisherigen eigenen Rechtsprechung sucht seinesgleichen. Das BSG hat damit der gesetzlichen Regelung sozusagen den Zahn gezogen. Offenbar ging ihm die eigene Rechtsprechung zu weit, man hat wohl Angst vor der eigenen Courage bekommen. Im Ergebnis ist § 13 Abs. 3a SGB V nun ein zahnloser Tiger geworden, der für die Krankenkassen keine Gefahr mehr beinhaltet. Statt wie früher einen eigenen Leistungsanspruch für alle Versicherten zu begründen, führt die Fristversäumnis der Krankenkasse jetzt nur noch zu einem vorübergehenden Leistungsanspruch für wirtschaftlich starke Versicherte. Wer kein Geld hat, sich die Leistung selbst zu besorgen, geht leer aus. Beschränkt ist der Anwendungsbereich nur noch auf solche Versicherte, die über genügend finanzielle Mittel und die Risikobereitschaft verfügen, sich die beantragte Leistung selbst zu beschaffen, wenn die Krankenkasse nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen entschieden hat. Da es oft um hohe Beträge geht, die selbst vorfinanziert werden müssen, wird für die große Zahl der Versicherten die Fristversäumnis der Krankenkasse zukünftig ohne Folgen bleiben. Wer davon zukünftig profitieren will, muss also sehr schnell sich die Leistung selbst beschaffen, bevor die Krankenkasse den eigenen Fehler bemerkt und einen Ablehnungsbescheid erlässt. Das BSG schafft damit ein Sonderrecht für reiche Versicherte. Das ist sozial ungerecht, aber offenbar gewollt.“
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