Geneh­mi­gungs­fik­ti­on: Flä­chen­de­cken­de Kri­tik an BSG-Urteil

Am 26. Mai 2020 hat der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung entschieden, dass die Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V keinen eigenständigen Anspruch auf eine beantragte Sachleistung begründet. Mit dem Patientenrechtegesetz wollte der Gesetzgeber die Patientenrechte stärken und unter anderem die gesetzlichen Krankenkassen zu schnelleren Entscheidungen zwingen. Krankenkassen mussten seitdem über Anträge innerhalb von drei bzw. fünf Wochen, wenn ein Gutachten eingeholt werden musste, entscheiden. Wurde diese Frist versäumt, trat die sogenannte Genehmigungsfiktion ein. Die Leistung galt dann als genehmigt wie beantragt.

Die neue Recht­spre­chung ändert dies zu Unguns­ten der Pati­en­ten. Rechts­an­walt Jörg Hack­stein von der Kanz­lei Hart­mann Rechts­an­wäl­te Lünen und Reha­kind-Vor­sit­zen­der dazu: „Um die Geneh­mi­gungs­fik­ti­on nut­zen zu kön­nen, müs­sen sich nun Pati­en­ten zwi­schen Frist­ab­lauf und ver­spä­te­ter Ent­schei­dung der Kran­ken­kas­se ein Hilfs­mit­tel auf eige­ne Rech­nung selbst anschaf­fen. Selbst­be­schaf­fung bedeu­tet die Anschaf­fung des Hilfs­mit­tels durch die Pati­en­ten auf eige­nes wirt­schaft­li­ches Risi­ko. Gege­be­nen­falls wird näm­lich erst in einem noch lang andau­ern­den Wider­spruchs- und Kla­ge­ver­fah­ren geklärt, ob die Anschaf­fung zu Recht erfolg­te. Es ist davon aus­zu­ge­hen, dass nur weni­ge Fami­li­en bereit sein wer­den, die­ses Risi­ko zu tra­gen, wenn sie es sich über­haupt finan­zi­ell leis­ten kön­nen. Damit hat das BSG die Rech­te der Pati­en­ten deut­lich geschwächt. Wenn der Gesetz­ge­ber wei­ter Inter­es­se an der Stär­kung der Pati­en­ten­rech­te und ins­be­son­de­re an schnel­len Ent­schei­dun­gen der Kran­ken­kas­sen hat, muss er das Nicht­ein­hal­ten von Ent­schei­dungs­fris­ten zuguns­ten der Pati­en­ten auf Sei­ten der Kos­ten­trä­ger effek­tiv sank­tio­nie­ren und dies vor allem auch für den Sach­leis­tungs­an­spruch sicher­stel­len. Die wenigs­ten Pati­en­ten kön­nen es sich auf eige­nes Risi­ko erlau­ben, Leis­tun­gen selbst zu beschaffen.“

Auch der Bun­des­in­nungs­ver­band für Ortho­pä­die-Tech­nik (BIV-OT) reagiert auf das Urteil: „Seit 2013 gilt die Geneh­mi­gungs­fik­ti­on, um die Bewil­li­gungs- und Geneh­mi­gungs­ver­fah­ren bei den gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen zu beschleu­ni­gen. Nun bewirkt die Ent­schei­dung des BSG das genaue Gegen­teil: Es gefähr­det die zeit­na­he Pati­en­ten­ver­sor­gung mit benö­tig­ten Leis­tun­gen“, so BIV-OT-Prä­si­dent Alf Reu­ter. Jür­gen Wes­terath, Fach­an­walt für Arbeits­recht & Sozi­al­recht, erklärt: „Die Bedeu­tung der Ent­schei­dung kann gar nicht hoch genug ein­ge­schätzt wer­den. Ein so rabia­ter Bruch mit der bis­he­ri­gen eige­nen Recht­spre­chung sucht sei­nes­glei­chen. Das BSG hat damit der gesetz­li­chen Rege­lung sozu­sa­gen den Zahn gezo­gen. Offen­bar ging ihm die eige­ne Recht­spre­chung zu weit, man hat wohl Angst vor der eige­nen Cou­ra­ge bekom­men. Im Ergeb­nis ist § 13 Abs. 3a SGB V nun ein zahn­lo­ser Tiger gewor­den, der für die Kran­ken­kas­sen kei­ne Gefahr mehr beinhal­tet. Statt wie frü­her einen eige­nen Leis­tungs­an­spruch für alle Ver­si­cher­ten zu begrün­den, führt die Frist­ver­säum­nis der Kran­ken­kas­se jetzt nur noch zu einem vor­über­ge­hen­den Leis­tungs­an­spruch für wirt­schaft­lich star­ke Ver­si­cher­te. Wer kein Geld hat, sich die Leis­tung selbst zu besor­gen, geht leer aus. Beschränkt ist der Anwen­dungs­be­reich nur noch auf sol­che Ver­si­cher­te, die über genü­gend finan­zi­el­le Mit­tel und die Risi­ko­be­reit­schaft ver­fü­gen, sich die bean­trag­te Leis­tung selbst zu beschaf­fen, wenn die Kran­ken­kas­se nicht inner­halb der gesetz­li­chen Fris­ten ent­schie­den hat. Da es oft um hohe Beträ­ge geht, die selbst vor­fi­nan­ziert wer­den müs­sen, wird für die gro­ße Zahl der Ver­si­cher­ten die Frist­ver­säum­nis der Kran­ken­kas­se zukünf­tig ohne Fol­gen blei­ben. Wer davon zukünf­tig pro­fi­tie­ren will, muss also sehr schnell sich die Leis­tung selbst beschaf­fen, bevor die Kran­ken­kas­se den eige­nen Feh­ler bemerkt und einen Ableh­nungs­be­scheid erlässt. Das BSG schafft damit ein Son­der­recht für rei­che Ver­si­cher­te. Das ist sozi­al unge­recht, aber offen­bar gewollt.“

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