Der OTM und ehemalige BIV-OT-Präsident führt gemeinsam mit seiner Tochter Kathrin und vier weiteren Mitgliedern die Geschäfte der von seinem Vater, dem Orthopädiemechaniker-Meister Max Jüttner, 1946 in Mühlhausen/Thüringen gegründeten Firma.
OT: Wie haben Sie die Handwerksstruktur in der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik wahrgenommen?
Frank Jüttner: Natürlich hat die Begrenzung auf maximal zehn Mitarbeiter:innen die Entwicklung der Betriebe eingeschränkt, zumal wir bis in die 1980er-Jahre keine vorgefertigten Teile benutzt haben. Jedes einzelne Hilfsmittel wurde komplett von Hand hergestellt. Wenn Orthopädietechniker:innen ihr Handwerk wirklich beherrschten, war die Passform besser als das, was heute manchmal aus der Schachtel kommt. Die vom zentralistischen Staat vorgegebenen einheitlichen Lehrpläne waren im Vergleich zur heutigen Kleinstaaterei auf dem Gebiet der Bildung durchaus ein Vorteil. Im Übrigen gab es nur einen Meisterprüfungsausschuss, und zwar in Berlin, bei dem auch ich 1974 meine Prüfung abgelegt habe.
Aufgeben oder wehren
OT: 1976 wurden Sie Vorsitzender einer Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH). Wie haben Sie als Vorsitzender diese Transformation erlebt und gestaltet?
Jüttner: Den Anstoß, die beiden Handwerksbetriebe zu einer PGH zusammenzuschließen, erhielten die beiden Inhaber – Max Jüttner und Albert Börner – durch die staatlichen Pläne, in Heiligenstadt eine große OT-Werkstatt zu bauen. Die beiden standen vor der Frage: aufgeben oder wehren. Aufgeben war keine Option, aber beide wollten nicht selbst die Verantwortung übernehmen. Da ich ohnehin in den Startlöchern stand, um in den väterlichen Betrieb einzusteigen, fiel die Wahl auf mich als Leiter der PGH mit zunächst insgesamt 16 Mitarbeiter:innen. Jährlich musste ich einen neuen Fünfjahresplan erarbeiten und vor der Örtlichen Versorgungswirtschaft (ÖVW), dem Finanzamt, der Handelskammer und der Bank vorstellen sowie verteidigen. Nicht selten hieß es in der Runde, ich hätte die sozialistische Planwirtschaft nicht verstanden. Dann musste ich die Zahlen den Erwartungen entsprechend verändern und eine Woche später erneut vorlegen. Nur so bekam ich die notwendigen Unterschriften und Stempel. Wobei dies keine Garantie für die geplanten Belieferungen war. Eine verrückte Zeit! Man wusste nie, welches Material man letztlich zur Verfügung haben würde. Und wie sollte ich vorab genau wissen, wie viele Prothesenfüße oder Orthesen in welcher Größe ich im nächsten Jahr oder in fünf Jahren brauchen würde oder welche Maße die Einzelteile haben müssten? Beziehungen waren deshalb das halbe Leben!
OT: Wie sind Sie mit dem starren Plan- und dem (Mangel-)Liefersystem umgegangen?
Jüttner: Wir haben uns alle kollegial verhalten, standen alle vor den gleichen Herausforderungen. Wenn ein Betrieb zu viel Passteile hatte oder der andere zu wenig, tauschten wir untereinander. Allerdings hat dieses Organisieren von Material viel Zeit in Anspruch genommen.
Versorgung mit elektrischen Rollstühlen
OT: Wie war Ihr Verhältnis zum 1953 gegründeten Leitbetrieb der DDR, dem VEB Orthopädietechnik Berlin (OTB)?
Jüttner: Ob als selbstständiger Handwerksbetrieb unter meinem Vater oder als PGH unter meiner Leitung – die Zusammenarbeit war immer kollegial. Man muss dazu sagen, dass die OTB nicht der Handwerkskammer, sondern dem Berliner Magistrat unterstellt war. Die OTB war führend in der Forschung sowie in der Weiterbildung und Schulung der Handwerksbetriebe. Außerdem war sie verantwortlich für die Satelliten-OT-Werkstätten auf Kuba und in Vietnam. Und sie war der Türöffner für die Reha-Technik, die ja lange für die OT-Betriebe keine Rolle spielte. Es gab nur die unglaublich schweren Rollstühle. Das war eine Katastrophe für die Betroffenen. Die OTB importierte zum Glück ab Mitte der 1970er-Jahre elektrische Rollstühle des damaligen Weltmarktführers Meyra in die DDR und verteilte sie. Ab 1978 versorgte dann unsere PGH die Region von der bayerischen Grenze bis in den Harz im Auftrag der OTB mit elektrischen Rollstühlen und deren Service des westdeutschen Unternehmens.
Institutioneller und privater Wissenstransfer
OT: Wie haben Sie sich zu DDR-Zeiten über internationale Fortschritte im OT-Bereich informiert?
Jüttner: Zum einen gab es die „Arbeitsgemeinschaft für Orthopädiemechaniker und Bandagisten“ der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie der DDR, in der eigentlich alle OT-Meister:innen Mitglieder waren. Sie brachte die Zeitschrift „Orthopädietechnische Informationen“ unter anderem mit Gastbeiträgen aus dem Ausland heraus. OTB-Leiter Johann Bayerl besaß eine Reiseerlaubnis für das westliche Ausland. Er hatte immer wieder neue Produkte im Gepäck, die wir uns angeschaut und mit den uns zur Verfügung stehenden Materialien nachgebaut haben. Der Wissenstransfer geschah ebenfalls auf privater Ebene. Mein Vater durfte als Rentner in den Westen reisen und brachte von dort die eine oder andere Neuheit mit.
OT: Wie beurteilen Sie die Qualität der orthopädietechnischen Versorgung in der DDR?
Jüttner: Der Stand der Technik und die Qualität der Versorgung haben sich im Vergleich zur BRD nicht viel genommen. Natürlich gab es in der DDR andere Materialien und dementsprechend andere Verarbeitungsparameter, aber der Westen hatte keinen wesentlichen Vorsprung bei der technischen Entwicklung.
Betrieb und Arbeitsplätze erhalten: Von der PGH zur KG
OT: Was hat Sie 1991 – zwei Jahre nach der Friedlichen Revolution 1989 – motiviert, sich als Jüttner Orthopädie KG selbstständig zu machen?
Jüttner: Mich trieb damals vor allem die Verantwortung gegenüber unseren 53 Mitarbeiter:innen an. Da hingen genauso viele Familien dran. Im Übrigen alle 53 waren Mitinhaber:innen der Genossenschaft. Sie alle wollten damals weitermachen. Also habe ich den Mitarbeiter:innen ihre PGH-Anteile ausgezahlt. Natürlich konnten wir nicht alle sofort auszahlen, aber nach drei oder vier Jahren ist uns das Stück für Stück gelungen. Die Gesellschaftsform als Kommanditgesellschaft (KG) und damit Personengesellschaft bot sich an, weil wir als PGH ebenfalls eine Personengesellschaft gewesen waren. Gleichzeitig ließ mir die KG alle Freiheiten, über die Fortentwicklung des Unternehmens zu entscheiden.
OT: Wie sah der Anfang aus?
Jüttner: Mit der ersten D‑Mark bin ich nach Kassel gefahren und habe mir ein Funktelefon gekauft. Empfang gab es aber nicht im Büro, nur auf einer Anhöhe in der Nähe von Mühlhausen konnte man ins Westnetz telefonieren. Und telefonieren mussten wir, denn alle Versorgungsstrukturen der DDR waren zusammengebrochen. Mithilfe des Telefons konnte ich bei der Einkaufsgenossenschaft EGROH, in die ich schnell eingetreten bin, die jeweils benötigten Waren bestellen. Denn der Bedarf an Hilfsmittelversorgung war bei uns in der Region weiterhin stark. Anders als die Ost-Produkte, die schnell aus den Regalen und Gedächtnissen verschwanden, war das Interesse an unseren Dienstleistungen weiterhin hoch.
OT: Im Rückblick – was waren die größten Herausforderungen bei diesem Transformationsprozess?
Jüttner: Am meisten beschäftigt hat uns die Frage: Wie lässt sich der Betrieb erhalten? Die größten Baustellen dabei waren das Personal und die Kassenzulassungen. Einige unserer Mitarbeiter:innen sind zeitweilig Richtung Westen abgewandert, schließlich sitzen wir nur zehn Kilometer von der ehemaligen Grenze entfernt. Zum Glück sind viele wiedergekommen. Viel Zeit haben uns die verschiedenen Kassenzulassungen gekostet. Was da alles notwendig war! Zudem hatten wir Angst, dass die Behörden den Betrieb schließen, weil die Bausubstanz unseres Standorts eher brüchig war. Im Mai 1993 konnten wir endlich einen Neubau beziehen, sodass an dieser Stelle mehr Ruhe einkehrte. Wie wir das geschafft haben? Wir haben nicht groß nachgedacht, sondern einfach gemacht.
Besonnenheit trotz aller Umbrüche
OT: Was geben Sie jüngeren Kolleg:innen für den Umgang mit Krisen- oder Umbruchzeiten mit auf den Weg?
Jüttner: Besonnenheit! Wie heißt es so schön: Es wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Wobei ich sagen muss, dass ein Neustart – heute – unter den gegebenen Umständen sehr schwierig ist. Der Staat und seine Behörden verhindern fast schon die Entwicklung unserer Betriebe und fördern die Konzentration großer Unternehmen. Denn kleine Betriebe können all die vielen Anforderungen und Auflagen von Präqualifizierung bis zur jüngsten Einführung der Medical Device Regulation (MDR) kaum realisieren. Gerade im Umfeld der Bundestagswahl ist klar, dass es ein „Weiter so“ nicht geben kann. Die Menschen erwarten Veränderungen, ob im Gesundheitswesen oder im Umweltbereich. Das Thema Transformation bleibt uns auf jeden Fall erhalten.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
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