Mit Bil­dung gegen den Fachkräftemangel

Der Bachelor ist in der Tasche und der anschließende Master eine attraktive Option – doch nicht selten fehlen den Absolvent:innen Zulassungsvoraussetzungen oder notwendiges Vorwissen, um das anschließende Studium antreten zu dürfen bzw. stemmen zu können. Um diese Lücke auf internationaler Ebene zu schließen, haben sich europaweit Partner zusammengeschlossen und das Forschungsprojekt Promote (Prosthetic and Orthotic ­specialist Modules for higher education Training in Europe) ins Leben gerufen. Ein wichtiger Schritt für die akademische Laufbahn von Studierenden und eine Chance für die Branche, neue Fachkräfte aus- und weiterzubilden.

„Wir haben fest­ge­stellt, dass es im Bereich Ortho­pä­die-Tech­nik unter­schied­li­che Bil­dungs­an­ge­bo­te gibt“, erläu­tert Mar­kus Mül­ler, Dozent für den Stu­di­en­gang Ort­ho­bio­nik an der Pri­va­ten Hoch­schu­le Göt­tin­gen (PFH) und fach­li­che Ver­tre­tung des Pro­jekt­teams, die Hin­ter­grün­de. Neben der klas­si­schen Aus­bil­dung wür­den mitt­ler­wei­le auch vie­le Stu­di­en­gän­ge in den Beruf füh­ren. In Euro­pa sei­en die Stu­di­en­an­ge­bo­te jedoch sehr unter­schied­lich. Ein Bache­lor kön­ne mit ECTS-Punk­ten zwi­schen 180 und 240 erwor­ben wer­den, bei Mas­ter­stu­di­en­gän­gen rei­che die Span­ne von 60 bis 120. „Zum Errei­chen eines Mas­ter­ab­schlus­ses sind ins­ge­samt 300 ECTS-Punk­te not­wen­dig. Wenn jemand aber bei­spiels­wei­se einen Bache­lor mit ‚nur‘ 180 ECTS-Punk­ten hat und einen Mas­ter bele­gen möch­te, der nur 60 hat, dann feh­len ihm 60 Punk­te“, erläu­tert Mül­ler und nennt neben die­sem for­ma­len ein wei­te­res Bei­spiel für inhalt­li­che Hür­den: Die Tho­mas More Uni­ver­si­ty, Bel­gi­en, bie­tet ein inter­na­tio­na­les Bache­lor­pro­gramm an, bei dem sich die Stu­die­ren­den für einen Teil­be­reich – Orthe­tik oder Pro­the­tik – ent­schei­den müs­sen. Doch oft­mals erfor­dern Mas­ter­stu­di­en­gän­ge fun­dier­te Vor­kennt­nis­se in bei­den Berei­chen. „Ziel ist es, die­se Lücken mit einem neu­en Bil­dungs­an­ge­bot zu schlie­ßen“, betont Mül­ler. Sowohl feh­len­de ECTS-Punk­te als auch feh­len­des Wis­sen sol­len so erwor­ben wer­den kön­nen, damit Stu­die­ren­de euro­pa­weit unein­ge­schränkt die Mög­lich­keit haben, ver­schie­de­ne Bil­dungs­an­ge­bo­te zu nutzen.

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Drin­gen­der Handlungsbedarf

Der Grund­stein für Pro­mo­te wur­de 2018 gelegt, als die PFH, die Tho­mas More Uni­ver­si­ty sowie der Ver­ein Human ­Stu­dy beim Glo­bal Edu­ca­tors Mee­ting der Inter­na­tio­nal ­Socie­ty of Pro­sthe­tics & Ortho­tics (ISPO) zusam­men­ka­men, um sich über die Her­aus­for­de­run­gen, denen sich die Aus­bil­dung in Euro­pa stel­len muss, aus­zu­tau­schen. Schnell wur­de klar: Es besteht drin­gen­der Hand­lungs­be­darf. Laut PFH wer­den den WHO-Stan­dards ent­spre­chend künf­tig min­des­tens 25.000 aus­ge­bil­de­te Orthopädietechniker:innen benö­tigt, um den welt­wei­ten Bedarf in der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung zu decken. Pro­mo­te soll einen Bei­trag leis­ten und dem Man­gel an aus­ge­bil­de­ten Fach­kräf­ten im Bereich der Ortho­pä­die-Tech­nik entgegenwirken.

Mit der Hoch­schu­le Scuo­la Supe­rio­re Sant’Anna, Pisa, ver­siert in den Berei­chen Robo­tik und Bio-Engi­nee­ring, sowie Blinc eG, Göt­tin­gen, mit Fokus auf E‑Lear­ning-Pro­gram­me, tra­ten zwei wei­te­re Part­ner dem Kon­sor­ti­um bei. Der Start­schuss des von der EU im Rah­men des Pro­gramms „Eras­mus+ Stra­te­gi­sche Part­ner­schaf­ten“ geför­der­ten Pro­jekts fiel schließ­lich Ende 2020. Coro­nabe­dingt nicht der bes­te Zeit­punkt, doch der inter­na­tio­na­le Aus­tausch konn­te durch hybri­de und Online-For­ma­te gewähr­leis­tet wer­den. Das ers­te Prä­senz­tref­fen im Okto­ber 2021 bezeich­net Gud­run Röh­ling, Unter­neh­mens­spre­che­rin der PFH sowie Pro­mo­te-Pro­jekt­ma­na­ge­rin, den­noch als Befrei­ungs­schlag – für den fach­li­chen und auch vor allem zwi­schen­mensch­li­chen Aus­tausch. Wei­te­re Work­shops in den Part­ner­län­dern folg­ten und sol­len bis zum Pro­jek­ten­de am 31. August 2023 fort­ge­setzt werden.

Sie­ben Arbeits­pa­ke­te bis zum Ziel

Das Pro­jekt ist in sie­ben Arbeits­pa­ke­te auf­ge­teilt. Im ers­ten Schritt wur­de eine Bestands­auf­nah­me gemacht, um eine Über­sicht über alle bestehen­den Bil­dungs­an­ge­bo­te in Euro­pa zu erhal­ten. Zusätz­lich wur­den sei­tens aller Pro­jekt­part­ner euro­pa­weit Inter­views mit Indus­trie­ver­tre­tern geführt, um zu erfah­ren, wel­che Fähig­kei­ten die künf­ti­gen Mitarbeiter:innen mit­brin­gen sol­len. „Inter­es­sant und neu für uns war, dass oft­mals Begrif­fe wie Design­thin­king, Pro­jekt­ma­nage­ment und Inno­va­ti­ons­ma­nage­ment fie­len“, berich­tet Röh­ling und Mül­ler ergänzt: „Deut­lich wur­de: Nicht die fach­li­che, son­dern die Metho­den­kom­pe­tenz ist das, was gebraucht wird.“ Wäh­rend fach­li­ches Wis­sen im eige­nen Haus ver­mit­telt wer­den kön­ne, sei es wich­tig, dass jun­ge Men­schen im Vor­feld ler­nen auf­ge­schlos­sen zu sein, wis­sen­schaft­lich zu arbei­ten und um die Ecke zu denken.

Nach­dem damit der Kom­pe­tenz­rah­men defi­niert war, wur­de im fol­gen­den Schritt das Kurs­de­sign wei­ter­aus­ge­ar­bei­tet. Das Ergeb­nis: ein bei­spiel­haf­tes Cur­ri­cu­lum mit mög­li­chen beleg­ba­ren Kur­sen. Dar­in spie­geln sich auch die Wün­sche der Indus­trie­ver­tre­ter wider. Im Kurs ­„Spot­ting Ide­as and Oppor­tu­ni­ties“ müs­sen die Stu­die­ren­den in Klein­grup­pen inner­halb von einer Woche eine Busi­ness-Idee ent­wi­ckeln – laut Mül­ler ein Novum in einem Lehr­plan im Bereich Ortho­pä­die-Tech­nik. Nach Rück­spra­che mit Leis­tungs­er­brin­ger­ge­mein­schaf­ten wur­de deut­lich, wel­che Kom­pe­ten­zen Sani­täts­häu­ser als rele­vant für die Zukunft der Bran­che erach­ten. Das Modul „Entre­pre­neur­ship“ soll hier anset­zen und Stu­die­ren­den u. a. das Werk­zeug an die Hand geben, die Über­nah­me oder auch die Grün­dung eines neu­en Betriebs zu stem­men. Hier erach­ten es die Pro­jekt­part­ner als sinn­voll, dass die Teilnehmer:innen in Prä­senz zusam­men­kom­men, um sich aus­zu­tau­schen. Da der Groß­teil der Kur­se aber euro­pa­weit ange­bo­ten wer­den soll, war schnell klar, dass es ein digi­ta­les Ange­bot braucht. Im vier­ten Schritt wur­de daher eine Online-Lear­ning-Platt­form geschaf­fen. Dort kön­nen Kur­se gestal­tet, Lehr­ma­te­ria­li­en hoch­ge­la­den und Prü­fun­gen orga­ni­siert wer­den. Die Platt­form – inklu­si­ve Demo­kurs – befin­det sich der­zeit in der inter­nen Test­pha­se. Aktu­ell ste­hen die Pro­jekt­part­ner bei Arbeits­schritt fünf, „Con­ti­nuous Pro­fes­sio­nal Deve­lo­p­ment“ (CPD). Wie wird die Platt­form bedient? Wie kann Mate­ri­al hoch­ge­la­den wer­den? Und wie lässt sich das für poten­zi­el­le Stu­die­ren­de inter­es­sant gestal­ten? In all dem wer­den die Lehr­kräf­te im Novem­ber 2022 bei den CPD-Wochen geschult. Anfang 2023 soll dann eine rund drei­mo­na­ti­ge Pilot­pha­se star­ten, in der poten­zi­el­le Stu­die­ren­de an aus­ge­wähl­ten Kur­sen des Cur­ri­cu­lums teil­neh­men kön­nen. Das letz­te Arbeits­pa­ket: Valo­ri­sie­rung. Die Part­ner las­sen das gesam­te Pro­jekt Revue pas­sie­ren. War es erfolg­reich? Lohnt es sich, das Bil­dungs­an­ge­bot zu eta­blie­ren? Kommt es bei den Stu­die­ren­den an? Mül­ler hofft auf drei Mal ja.

Das ent­wi­ckel­te Cur­ri­cu­lum beinhal­tet Kur­se mit mehr als 100 ECTS-Punk­ten aus ver­schie­de­nen Berei­chen. Zu die­sen „Lern­fel­dern“ zäh­len klas­si­scher­wei­se Orthe­tik und Pro­the­tik sowie Pro­fes­sio­nal Skills bei­spiels­wei­se mit einem Modul mit Fokus auf Digi­ta­li­sie­rung, Busi­ness Manage­ment, Entre­pre­neur­ship und Intern­ship. Aus die­sen Lern­fel­dern sol­len sich die Stu­die­ren­den das aus­su­chen, was sie brau­chen oder was sie inter­es­siert. Und laut Mül­ler geht der Plan auf. Bei­spiel­haft sei­en meh­re­re Sze­na­ri­en mit ver­schie­de­nen ECTS-Punk­ten in Bache­lor, Mas­ter und Pro­mo­ti­on durch­ge­spielt wor­den – und die Brü­cken­kur­se schlie­ßen bestehen­de Lücken tatsächlich.

Län­der­über­grei­fen­de Lösung ist gefragt

Mül­ler und Röh­ling zei­gen sich mit dem Ver­lauf des Pro­jekts bis­lang sehr zufrie­den. Trotz Pan­de­mie fan­den die Pro­jekt­part­ner stets zusam­men, tausch­ten sich aus, kamen bei zahl­rei­chen Ideen zu einem Kon­sens und lie­gen jetzt – rund ein Jahr vor Pro­jek­ten­de – gut im Zeit­plan. Wird es noch wei­te­re gro­ße und klei­ne Hür­den zu neh­men geben? Mit Sicher­heit. Soll­te Pro­mo­te an den Start gehen, sei der büro­kra­ti­sche Auf­wand nicht zu unter­schät­zen. „Die Her­aus­for­de­run­gen des föde­ra­len Akkre­di­tie­rungs­sys­tems in Deutsch­land wer­den uns sehr wahr­schein­lich auch auf euro­päi­scher Ebe­ne begeg­nen. Hier müs­sen wir eine länder­übergreifende und vor allem prag­ma­ti­sche Lösung im Sin­ne aller Stu­di­en­in­ter­es­sier­ten fin­den“, beschreibt Röh­ling die damit ver­bun­de­nen Aufgaben.

Ein wei­te­rer Aspekt: Trotz eines umfas­sen­den Stamms an Lehr­kräf­ten bei allen Pro­jekt­part­nern kön­ne es bei spe­zi­el­len Kur­sen wie bei­spiels­wei­se Design­thin­king eine Her­aus­for­de­rung wer­den, pas­sen­de, eng­lisch­spra­chi­ge und gleich­zei­tig bezahl­ba­re Dozent:innen zu fin­den. All das ist aber noch Zukunfts­mu­sik und wird erst wäh­rend der Eva­lua­ti­on des Pro­jekts in den Fokus gera­ten. „Ich hof­fe, dass wir am Ende der Pilo­tie­rungs­pha­se sagen kön­nen: Ja, das Kon­zept funk­tio­niert, wird von den poten­zi­el­len Stu­die­ren­den gut ange­nom­men und schließt genau die Lücke, die wir gese­hen haben“, betont Mül­ler. Und viel­leicht erge­ben sich im Anschluss wei­te­re Pro­jek­te. Eine Idee, in der Mül­ler bereits jetzt Poten­zi­al sieht, ist Zer­ti­fi­kats­kur­se anzu­bie­ten, und zwar für die­je­ni­gen, die bereits im Job sind, sich aber in bestimm­ten Berei­chen wei­ter­bil­den wol­len. „Die Inhal­te sind da. War­um sol­len wir die­se nur Stu­die­ren­den zur Ver­fü­gung stellen?“

Pia Engel­brecht

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