OT: Welche Ziele verfolgen Sie mit der Digitalstrategie Ihres Klinikverbundes?
Dr. Johannes Schröter: Die Median-Kliniken decken in ihrem Verbund fast alle Bereiche der Rehabilitation ab. Das Spannende dabei ist, dass wir über die 121 Kliniken hinaus eine zentrale Digitalisierungsstrategie haben – mit dem gemeinsamen Ziel: zum führenden digitalen Gesundheitsdienstleister zu avancieren; evidenzbasierte, standardisierte Therapien anzubieten, die die Qualität der Versorgung verbessern; datenbasierte Entscheidungen zu treffen, die die Marktattraktivität erhöhen, und mit den digitalen Prozessen die Efzienz zu erhöhen. Zum Erreichen dieser Ziele wurden alle somatischen Kliniken an ein zentrales Rechensystem angeschlossen. Das zentrale Kommunikations- und Erhebungstool ist dabei die App. Damit haben wir eine digitale Schnittstelle zwischen Patienten, Mitarbeitern, Reha-Klinik und den Nachversorgern außerhalb der Klinik, die der Rehabilitationsforschung eine Fülle relevanter Daten liefern kann.
OT: Was sind die maßgeblichen Messkriterien für Forschungen in der Rehabilitation?
Schröter: Wenn wir Rehabilitationsforschung betreiben wollen, müssen zunächst die Messkriterien bestimmt werden. Die Patient Reported Outcome Measurements (PROMs) sind in den letzten Jahren der Goldstandard zur Messung der Effektivität von Operationen geworden. Der Vorteil der PROMs ist, dass die Patienten selbst zu Wort kommen und damit die Faktoren wie Schmerz, Bewegungseinschränkungen usw. erfasst werden können. Diese standardisierten Fragebögen, nach dessen Kriterien auch die Fragebögen in der App angelegt wurden, ermöglichen die Untersuchung dieser Merkmale und durch den Vergleich der Angaben zu den verschiedenen Zeitpunkten auch eine valide Beurteilung von Veränderungen im Behandlungsverlauf.
OT: Was leistet die App?
Schröter: Mit der App werden alle relevanten Daten erhoben und zentral über ein Rechenzentrum gespeichert. Jeder Patient wird zu Beginn der Reha aktiv im Rahmen unseres Behandlungsvertrags gefragt, ob er einer Verwendung der Daten in anonymisierter Form für die wissenschaftliche Arbeit zustimmt. Aus Sicht des Patienten hat die App den Vorteil, dass er bereits am ersten Therapietag, sobald er die App runtergeladen hat, seinen Therapieplan, den Speiseplan und vieles mehr einsehen kann. Gleich zu Beginn seines Aufenthalts erfolgt über die App die erste automatische Zusteuerung validierter Fragebögen entsprechend der Hauptdiagnose. Während und nach dem Reha-Aufenthalt werden dem Patienten auch weiterhin in festen Intervallen die Fragebögen immer wieder vorgelegt. Die App hat dabei bezogen auf die Forschung den Vorteil, dass wir den Patienten nicht nur während seines gesamten Aufenthaltes begleiten können, sondern auch nach seiner Entlassung.
Forschung dank Big Data
OT: Was passiert mit den erhobenen Daten?
Schröter: Wir analysieren die Daten der PROMs in Korrelation mit den gesammelten Daten aus dem Krankenhaus-Informationssystem und können daraus evidenzbasierte, standardisierte Therapien entwickeln. Wie das funktionieren kann, haben wir in einer Studie gezeigt, bei der wir auf das Datenmaterial (2018–19) von 20.000 Daten von Hüft– und Knie-Prothese-Patienten zurückgegriffen haben. Ziel der Untersuchung war es, die verabreichten Therapien hinsichtlich ihrer Effektivität zu überprüfen, um dann möglichst optimale Behandlungspfade herauszukristallisieren, die wir dann auf alle unsere Patienten übertragen werden.
OT: Welches Forschungsprojekt steht als Nächstes an?
Schröter: Ottobock ist Weltmarktführer im Bereich orthopädischer Prothesenpassteile, Median ist der größte private Anbieter für Rehabilitation in Deutschland. Vor dem Hintergrund ihrer digitalen Kompetenz sind sich beide Unternehmen aber auch ihrer Verantwortung zur Forschung bewusst. Gemeinsam haben Ottobock und Median daher ein dreijähriges Forschungsprojekt „Wirksamkeitsnachweis einer optimierten frühfunktionellen Rehabilitation nach transfemoralen Amputationen bei Menschen mit geringem Mobilitätsgrad (I‑II)“ ausgerufen. Dabei spielt die App eine wesentliche Rolle. Hintergrund für das Projekt ist der, dass aktuell weltweit nur in sehr wenigen Ländern die Versicherungssysteme die Kosten für die Versorgung amputierter Menschen mit elektronischen Kniegelenken wie dem C‑Leg oder dem Kenevo übernehmen. Auch in Deutschland wird diese Versorgung häug vom MDK hinterfragt, inwieweit es sinnvoll ist. Wir haben das Kenevo in den Median-Kliniken vom ersten Tag an eingesetzt und bei uns werden Menschen mit Amputationen im Oberschenkel fast ausschließlich mit elektronischen Gelenken therapiert. Dabei sind es aus unserer Sicht gerade die älteren Menschen, die am wenigsten den Verlust einer Gliedmaße kompensieren können. Sie sind wegen eingeschränkter Kognition oder durch Diabetes verursachter Sehstörungen bzw. Polyneuropathien im erhaltenden Bein sturzgefährdet. Das sind die Menschen, die eigentlich besonders die Unterstützung der Elektronik brauchen. Früher hieß es immer, es bekommt nur der ein elektronisches Gelenk, der fit ist und gut laufen kann. Beim älteren Menschen hingegen nahm man gerne mechanische Gelenke, die einrasten und gesperrt sind. Aber genau diese Raste muss sich lösen, um sich hinsetzen zu können. Die älteren Menschen haben aber oftmals zusätzlich Gehstützen oder einen Rollator, bei denen beide Hände bereits gebunden sind. Um sich aber hinsetzen zu können, müssen sie die schützenden Stützen loslassen und nach der Sperre greifen, um sie zu lösen. Deshalb ist gerade das Hinsetzen häug mit Stürzen behaftet. Ein elektronisches Kniegelenk hält dagegen. Es erkennt, wenn ein Mensch sich setzen möchte, und führt ihn sicher in den Sitz. Dieser Schutz ist aus unserer Sicht viel zentraler und deshalb haben wir diese Versorgungsstudie ins Leben gerufen.
OT: Was ist das Ziel dieser Studie?
Schröter: Wir werden hier an der Median-Klinik gemeinsam mit Ottobock eine Forschungsstelle einrichten, in der wir über einen langen Zeitraum Menschen, die mit einem Kenevo versorgt werden und wurden, begleiten – auch über den stationären Aufenthalt hinaus. Und damit schließt sich der Kreis zu unserer Median-App, die diese Datenerhebung auch außerhalb der Klinik ermöglicht. Das bedeutet: Das elektronische Kniegelenk erfasst die Mobilität des Patienten. Wenn der Patient der Teilnahme an der Studie zustimmt, werden diese Aktivitätsdaten zusammen mit den Daten, die über die App generiert werden (PROMs), datenschutzrechtlich konform in einer Cloud-Lösung zusammengeführt und miteinander in Korrelation gesetzt. Das Projekt ist auf drei Jahre ausgeschrieben und endet für den wissenschaftlichen Mitarbeiter/Doktorand, den wir aktuell suchen, mit der Promotion. Wir möchten mit der Studie den Nachweis erbringen, dass eine moderne Rehabilitation, die optimal abgestimmt auf elektronische Gelenke ist, den Patienten in ein viel höheres Aktivitätsniveau hebt und zur Selbstständigkeit befähigt und vor Folgeerkrankungen und vor allem vor Stürzen schützt. Natürlich kostet ein elektronisches Gelenk deutlich mehr als ein mechanisches Gelenk, aber wenn ein Mensch stürzt und sich eine Oberschenkelhalsfraktur zuzieht, kostet die Versorgung plus Reha ca. 12.000 Euro und es ndet sich eine Sterblichkeit von 25%. Unsere Studie soll die These belegen, dass die Krankenkassen am Ende „sparen“, weil die Menschen, die mit elektronischen Kniegelenken versorgt und optimal rehabilitiert werden, durch ein geringeres Sturzrisiko und mehr Mobilität weniger Folgekosten für beispielsweise medizinische Versorgung, Betreuung usw. verursachen.
Die Fragen stellte Irene Mechsner.
- Der Verlag OT wünscht frohe Weihnachten! — 23. Dezember 2024
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024