Im Gespräch mit der OT-Redaktion erläutert Orthopädietechniker Markus Seeßle, Leiter der Filiale in Erding, wie die Umstellung abläuft, warum Fehler dabei unvermeidbar sind, und warum es notwendig ist, dass Werkstatt- und Branchensoftware einwandfrei miteinander kommunizieren.
OT: Sie sind dabei, mehr und mehr Bereiche des Betriebs zu digitalisieren. Was hat Sie dazu motiviert?
Markus Seeßle: Früher haben wir für die Auftragsannahme Zettel verwendet, hier Name, Geburtsdatum und – zum Beispiel im Bereich Einlagen – den Typ eingetragen. Das Problem war: Oft konnte man die Schrift nicht lesen oder die Zettel sind verloren gegangen. Das hat viel Zeit gekostet. In einem ersten Schritt haben wir deswegen vor einigen Jahren in Zusammenarbeit mit der Firma Rothballer einen digitalen Werkstatt-Workflow aufgebaut. Mittlerweile haben wir auch den gesamten Workflow im Bereich der Auftragsannahme digitalisiert. Gestartet sind wir mit der Einlagenversorgung. An der Umsetzung für die Orthesen‑, Bandagen- und Kompressionsversorgung arbeiten wir gerade. Zur Verfügung gestellt wird die Branchensoftware von Go-tec und Acriba, Carelogic hat die nötige Schnittstelle programmiert.
OT: PC statt Zettel – wie genau gestaltet sich die Auftragsannahme nun?
Seeßle: Der Auftrag wird in der Branchensoftware angelegt und an die Werkstattsoftware übergeben. Dieser erscheint dann in der Kabine mit der Austragsnummer. Dort wird die Einlage konfiguriert und die nötigen Artikel werden mit Preisen und Positionsnummern an die Branchensoftware zurückgespielt. Man spart sich das Positionieren. Und dadurch stehen automatisch wichtige Dokumente wie die Datenschutzerklärung zur Verfügung, die die Kunden digital unterschreiben können. Das Einscannen entfällt also. Anhand der jeweiligen Filiale und des Abgabedatums sehen die Mitarbeiter in der Werkstatt, welche Aufträge sie heute zu erledigen haben. Die Etiketten werden ausgedruckt und unter anderem die Schachtel damit versehen. An der Kasse muss dann nur der Barcode gescannt werden. Die Empfangsbestätigung kann wieder digital von den Kunden unterschrieben werden. Anschließend wird das Rezept gescannt und geht zur Kontrolle in die Verwaltung.
OT: Das bedeutet, bis auf das Ausdrucken der Etiketten läuft alles digital?
Seeßle: Ich drucke jeden Auftrag auch auf Papier aus. Das wäre allerdings nicht nötig. Bei uns im Betrieb arbeitet aber eine sehbehinderte Orthopädietechnikerin – und für sie fällt die Arbeit mit Papier leichter.
OT: Welchen Anspruch hatten Sie an die Branchensoftware? Was sollte sie leisten können?
Seeßle: Ich wollte nicht mit zig Datensätzen arbeiten, sondern mit nur einem Datensatz. Deswegen war für mich von Anfang an die Schnittstelle zwischen der Werkstatt- und der Branchensoftware besonders wichtig.
OT: Erfordert die Einführung einer solchen Software bestimmte Kenntnisse?
Seeßle: Man braucht computertechnisches Know-how. Ich arbeite gern am PC und mir war es wichtig, bei Problemen selbst schnell handeln und Lösungen finden zu können. Deswegen war für mich schnell klar, dass ich die Software eigenständig einführen möchte. Einige Firmen bieten an, die Umstellung – auch vor Ort – zu begleiten und stellen einen Projektplan auf.
Fehlschläge akzeptieren
OT: Was war die größte Herausforderung bei der Umstellung auf den digitalen Workflow?
Seeßle: Die Mitarbeiter mitzunehmen und ihnen die Angst zu nehmen. Bislang waren sie es gewohnt, auf einen Zettel zur Not immer noch etwas daneben schreiben zu können. Aber durch die Software ist ein neuer Workflow entstanden. Um einen digitalen Auftrag zu schreiben, ist es wichtig, vorher Fertigungsstandards für ein Hilfsmittel aufzustellen. Das macht die Dokumentation letztlich leichter.
OT: Wie haben Sie ihre Mitarbeiter:innen bei der Umstellung begleitet?
Seeßle: Zur Einführung bin ich an jeden Standort gefahren. Der Vorteil in einem Betrieb mit wenigen Filialen ist: Ich bin nahe dran an den Mitarbeitern. Ich kann sie leichter und schneller mitnehmen. Und sie können mir wiederum auf kurzem Weg direkt ihre Probleme schildern und Fragen stellen. Außerdem bin ich gerade dabei, ein Handbuch mit Anleitungen zu schreiben, das die Kollegen an allen Standorten nutzen können.
OT: Und sind Ihre Mitarbeiter:innen heute zufrieden?
Seeßle: Ja! Bis auf wenige Ausnahmen.
OT: Wie ist Ihnen das gelungen?
Seeßle: Zwei Monate sind wir zweigleisig gefahren, also sowohl ohne als auch mit der neuen Werkstattsoftware. Ich habe zunächst einige junge Mitarbeiter, die den Benefit gesehen haben und Lust auf das Thema hatten, in die Software eingearbeitet. Und die haben ihr Wissen an die Kollegen weitergegeben. Der Vorteil war, dass wir bei dem Testlauf mit den jüngeren Mitarbeitern bereits Fehler ausmerzen konnten.
OT: Auf die muss man sich wahrscheinlich einstellen, oder?
Seeßle: Auf jeden Fall. Fehler werden passieren. Wichtig ist es, diese Fehlschläge zu akzeptieren. Das erfordert auch Mut. Aber es lohnt sich.
OT: Worin sehen die Mitarbeiter:innen die Vorteile?
Seeßle: Sie müssen keine Zettel mehr ausfüllen. Und in der Werkstatt ist nun alles lesbar. Außerdem können wir den Kunden jetzt von Anfang an den Preis sagen. Früher haben wir erst im Nachgang positioniert und konnten erst einmal nur eine Preisspanne für die Zuzahlung benennen. Und: Durch die neue Software haben wir Transparenz. Alle Mitarbeiter kennen zu jedem Zeitpunkt den Status des Auftrags, wissen, wo die Einlage ist – also, ob sie zum Beispiel in Bestellung ist, in Bearbeitung oder intern verschickt. Für die Mitarbeiter in der Verwaltung entfallen außerdem die vielen Scans von Patienten- und Datenschutzerklärung über die Empfangsbestätigung bis hin zum Rezept. Insgesamt kann man sagen: Das, was man am meisten spart, ist sinnlose Arbeitszeit. Die Standards, die wir geschaffen haben, steigern die Versorgungsqualität und erleichtern die Produktion.
OT: Bleibt dabei die Individualität der Kund:innen auf der Strecke?
Seeßle: Auf keinen Fall. Wir können zusätzlich zum Produkt alle Zusätze, also alles, was individualisiert werden kann, erfassen.
OT: Und was haben Sie als Geschäftsleiter von der Arbeit mit der Software?
Seeßle: Unser Team muss sich weniger um die Verwaltung kümmern und hat jetzt mehr Zeit für die Patienten. In einer Zeit, in der Fachpersonal rar und teuer ist, ist es umso wichtiger, Ressourcen zu sparen.
Kundenkommunikation digitalisieren
OT: Gibt es weitere Prozesse, die Sie seit der Einführung der Branchensoftware digital umsetzen?
Seeßle: Wir nutzen zum Beispiel automatische Wiedervorlagen. Das System erinnert uns nach einem festgelegten Zeitraum automatisch daran, unsere Kund:innen zu kontaktieren, um zu erfragen, ob die Versorgung noch passt. Wir müssen uns solche Erinnerungen also nicht mehr manuell in unserem Terminkalender eintragen.
OT: Kann man auf diesen Zwischenschritt verzichten und das System erinnert die Kund:innen direkt, ohne dass Sie und Ihre Mitarbeiter:innen aktiv werden müssen?
Seeßle: Ja. Momentan arbeite ich daran, dass die Kundenkommunikation digitalisiert wird. Die Kunden werden künftig automatisch eine Mail bekommen.
OT: Laufen auch die Abrechnungen digital?
Seeßle: Die Rezepte versenden wir nach wie vor per Post. Für uns ist das deutlich günstiger als die Rezepte digital zu übermitteln.
OT: Mehr und mehr Prozesse zu digitalisieren, setzt vermutlich auch mehr und mehr PC-Kenntnisse der Mitarbeiter:innen voraus …
Seeßle: Das hängt von der Abteilung ab. In der Werkstatt benötigt man weniger Know-how, im Verkauf wesentlich mehr. Es braucht Menschen, die Fachwissen haben, soziale Kompetenz mitbringen – und sich mit dem Computer auskennen. Die sind nicht immer leicht zu finden.
Notfallplan in der Tasche
OT: Deutschland wird oft vorgeworfen, bei der Digitalisierung nur schleppend voranzukommen. Die Bürokratielast lähmt zusätzlich. Sehen Sie das auch so?
Seeßle: Ja, man muss sich von den Kunden extrem viel bestätigen und unterschreiben lassen. Und das kostet Zeit. Da frage ich mich schon: Ist das notwendig? Genau deswegen ist es so wichtig, die Prozesse zu digitalisieren. Ein weiteres Problem: Unsere Branche ist recht klein. Ja, es gibt Hersteller für Werkstatt- und Branchensoftware, allerdings wird es einem erschwert, die passenden Schnittstellen zu finden. Große Unternehmen habe auf sie zugeschnittene Systeme. Aber als kleiner Betrieb bist du auf die wenigen Anbieter auf dem Markt angewiesen. Und wenn die das Thema nicht für wichtig erachten, dann stehst du allein da.
OT: Was ist, wenn es einen technischen Ausfall gibt und das System lahm liegt – gibt es für solche Fälle einen Notfallplan?
Seeßle: Ja, und den braucht es auch. Auch aus diesem Grund drucken wir die Auftragszettel nach wie vor aus. Ebenfalls die Quittungszettel und Formblätter liegen noch in der Schublade. Im Notfall können wir darauf jederzeit zurückgreifen und die Dokumente später einscannen.
OT: Welche Tipps möchten Sie anderen Betriebsinhaber:innen mit auf den Weg geben, die auf den Digitalisierungszug aufspringen möchten?
Seeßle: Meiner Meinung nach ist es wichtig, als erstes die aktuellen Prozesse aufzustellen und sich zu fragen: Was kostet mich viel Zeit? Was stört mich im Alltag? Erst wenn man sich diese essenziellen Bereiche visualisiert und Kosten und Nutzen abgeschätzt hat, lohnt es sich, auf die Suche nach Software und der passenden Schnittstelle zu gehen. Dabei ist es immer wichtig, darauf zu achten, so wenig Software wie möglich einzusetzen. Denn je mehr Software ich nutze, desto öfter muss ich Kundendatensätze anlegen. Außerdem sind die Daten dann nicht zentral an einem Ort, sondern immer in unterschiedlicher Software gespeichert.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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