„Wir etablieren digitale Gesundheits- und Pflegeanwendungen (DiGA und DiPA) als integrale Bestandteile digital unterstützter Versorgungsprozesse“, heißt es dort unter den angestrebten Maßnahmen. In der Gegenwart sind die DiGA aber noch nicht angekommen, so das Fazit des GKV-Spitzenverbands nach zweieinhalb Jahren. Im Gespräch mit der OT-Redaktion spricht Stefanie Stoff-Ahnis, Vorstand beim GKV-Spitzenverband, über den aktuellen Stand und warum aus ihrer Sicht Reformen der derzeitigen Praxis angezeigt wären.
OT: Mit den Digitalen Gesundheitsanwendungen – kurz DiGA – sollte eine digitale Versorgung von Patient:innen ermöglicht werden. Wie fällt Ihr Fazit für die „Apps auf Rezept“ aus?
Stefanie Stoff-Ahnis: Seit nunmehr zweieinhalb Jahren können die „Apps auf Rezept“ von Ärzten verordnet oder von Krankenkassen genehmigt werden, um die Versicherten bei der Erkennung, Überwachung oder Behandlung von Krankheiten zu unterstützen. Im Verzeichnis des Bundesamtes für Arzneimittel und Medizinprodukte sind derzeit 45 DiGA aktiv gelistet (Stand 24. März 2023. Anm. d. Red.), von denen die überwiegende Mehrheit zunächst nur eine vorläufige Zulassung erhalten hat – das heißt, es gibt noch keinen nachgewiesenen Nutzen. Trotzdem liegen die von den herstellenden Unternehmen im ersten Jahr selbst gewählten Preise im Durchschnitt mit ca. 530 Euro für ein Quartal weit über dem, was die GKV in anderen Leistungsbereichen – etwa ambulanten ärztlichen Leistungen – vergütet, und das, obwohl DiGA vorwiegen unterstützend, also in Ergänzung, zur Anwendung kommen und der Nutzen oftmals unklar ist. Wir sehen in DiGA potenziell innovative Lösungen, wie die gesundheitliche Versorgung der Versicherten in bestimmten Konstellationen sinnvoll unterstützt werden kann. Gleichzeitig zeigen sich für uns aber noch erhebliche Schwachstellen in der regulatorischen Ausgestaltung des Fast-Track-Verfahrens, mit dem DiGA durch die Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis in die GKV-Erstattungsfähigkeit kommen. Zusammenfassend ist unser Fazit, dass digitale Gesundheitsanwendungen noch nicht in der Versorgung angekommen sind. Außerdem sehen wir insbesondere im Zusammenhang mit der willkürlichen Preisbildung und dem oftmals mangelnden Nutzennachweis bei DiGA erheblichen regulatorischen Nachbesserungsbedarf.
OT: Mittlerweile dürften seit der Einführung vor etwas mehr als zwei Jahren rund 220.000 digitale Anwendungen verschrieben worden sein. Entspricht das Ihrer Prognose oder mussten Sie diese neu kalkulieren?
Stoff-Ahnis: Wie in unserem jährlichen DiGA-Bericht dargestellt, wurden in den ersten beiden Jahren vom September 2020 an bis zum September 2022 insgesamt ca. 164.000 DiGA durch die Versicherten in Anspruch genommen. Im ersten Jahr waren es noch ca. 41.000 DiGA. Insofern sehen wir ein erwartbares – wenn auch moderates – Wachstum, das insbesondere mit der stetig wachsenden Anzahl an verordnungsfähigen DiGA zusammenhängt. Betrachtet man die monatlichen Mengen von 2022, so sieht man, dass diese sich auf einem relativ konstanten Niveau bewegen und nicht deutlich zunehmen. Alles in allem stellen wir noch eine gewisse Zurückhaltung im ärztlichen Verordnungsgeschehen fest.
OT: Der GKV-Spitzenverband kritisiert die hohen Kosten der DiGA – vor allem im ersten Jahr, wo die Höhe der Preise von den Herstellern bestimmt werden kann und noch kein Wirkungsnachweis erforderlich ist. Was wäre aus Ihrer Sicht die bessere Lösung?
Stoff-Ahnis: Beliebig wählbare Preise für DiGA durch die herstellenden Unternehmen im ersten Jahr ihrer Listung im DiGA-Verzeichnis und die Regelungen für Anwendungen in Erprobung führen zu einer unbegründeten Besserstellung von DiGA im Vergleich zu anderen GKV-Leistungen. Deren Nutzen wird hingegen durch den G‑BA bestimmt und deren Vergütung wird durch die Vertragspartner von Beginn an in der Selbstverwaltung vereinbart. Im Bereich der DiGA zahlt die GKV den Herstellern hingegen ein Jahr lang ihre jeweiligen Wunschpreise – im aktuellen Regelfall ohne Gewissheit zu haben, dass die Anwendungen auch wirkliche Verbesserungen für die Versorgung der Patientinnen und Patienten mit sich bringen. Stellt sich dann nach Ablauf einer Erprobungsphase heraus, dass eine DiGA keinen Nutzen nachgewiesen hat, musste die GKV die Preise trotzdem ein Jahr lang zahlen. In diesen Fällen wird mit Beitragsmitteln eine Art Wirtschaftsförderung betrieben, die keine Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Die Forderung der GKV liegt deshalb auf der Hand: Verhandelte oder von der Schiedsstelle festgelegte Preise für DiGA müssen ab dem ersten Tag ihrer Listung im DiGA-Verzeichnis gelten. DiGA ohne Nutzennachweis sind nicht von der GKV zu erstatten. Derartige Regelungen wurden im Übrigen für die verwandten Digitalen Pflegeanwendungen (DiPA) im Bereich der Pflegeversicherung bereits von Beginn an im Gesetz getroffen.
Innovationen vs. Privilegien
OT: Wie stehen Sie zu dem Argument, dass die möglichen erhöhten Anforderungen an die Zulassung der DiGA innovationsfeindlich sind und deshalb Potenziale nicht gehoben werden würden, weil Hersteller auf die Entwicklung von DiGA verzichten?
Stoff-Ahnis: Das derzeitige System ist zweifelsfrei sehr wohlgesonnen gegenüber den DiGA-Herstellern ausgestaltet, da für die DiGA einige nicht begründbare Privilegien geschaffen wurden. So bewegen sich die Nachweispflichten für den Nutzen einer DiGA deutlich unter den üblicherweise nötigen Belegen für GKV-Leistungen. Zuallererst können DiGA ohne den endgültigen Nachweis eines positiven Versorgungseffekts ein Jahr, bei Verlängerung durch das BfArM auch bis zu zwei Jahre, zur Erprobung in die Regelversorgung aufgenommen werden. Im Rahmen des Fast-Track entscheidet das BfArM innerhalb eines mit drei Monaten sehr kurzen Zeitraums über die dauerhafte oder vorläufige Aufnahme in die Erstattungsfähigkeit. Und wenn ein Nutzen nachgewiesen wird, muss dies nicht zwingend ein medizinischer Nutzen sein, sondern kann auch eine sogenannte patientenrelevante Verfahrens- und Strukturverbesserung darstellen, wie zum Beispiel eine Erhöhung der Patientensouveränität. Hinzu kommt die Möglichkeit für die Hersteller, sich einen Erstattungspreis im ersten Jahr in beliebiger Höhe aussuchen zu können, ohne diesen in irgendeiner Form plausibilisieren zu müssen. Unterm Strich wurden im Vergleich zu anderen GKV-Leistungsbereichen für DiGA bereits sehr viele Ausnahmen und Besonderheiten geschaffen. Wenn hier ein gesetzliches Update erfolgen würde, dann sorgt das in erster Linie für einen angemessenen Umgang mit den Beitragsgeldern der Versicherten und die gebotene Verhältnismäßigkeit zu anderen Leistungsbereichen.
OT: Welche Kompromisse zwischen Fast-Track-Verfahren und Ihren Wünschen könnte Sie sich vorstellen? Ein gedeckelter Einführungspreis, bis der Wirkungsnachweis erbracht wurde, oder zusätzliche Förderungen für Hersteller, die mit einem „fertigen“ Produkt auf den Markt kommen?
Stoff-Ahnis: Die eingeführten Ausnahmen und Vorteile für DiGA müssen sehr kritisch hinterfragt werden, denn sie bedeuten de facto eine Abkehr von etablierten Prinzipien in der GKV in Bezug auf evidenzbasierte Medizin und Wirtschaftlichkeit. Zu welchen Verzerrungen das führen kann, verdeutlicht auch ein aktuelles Beispiel einer DiGA in Erprobung mit einem vom herstellenden Unternehmen bestimmten Preis von mehr als 2.000 Euro. Die von allen Herstellern beliebig gewählten Preise im ersten Jahr liegen im Durchschnitt bei ca. 530 Euro. Zum Vergleich: Verhandelte oder durch die Schiedsstelle festgelegte DiGA-Preise bewegen sich um 200 Euro. Die Herstellerpreise liegen damit weit über den Vergütungen anderer GKV-Leistungen, beispielsweise ärztlicher Leistungen, aber auch deutlich über den verhandelten DiGA-Preisen, die ab dem zweiten Jahr an ihre Stelle treten. Auch die in der Rahmenvereinbarung getroffenen Höchstbetragsregelungen haben an dieser Diskrepanz nicht nennenswert etwas geändert. Um diese Schieflage zu korrigieren, sehen wir folglich die Notwendigkeit, dass verhandelte Preise – wie im Falle der Digitalen Pflegeanwendungen – auch von Beginn an gelten. Aus unserer Sicht dürfen zudem nur DiGA mit einem nachgewiesenen Nutzen von der GKV bezahlt werden. Für DiGA, die noch in Erprobung sind, muss eine Finanzierung aus anderen Mitteln sichergestellt werden.
DiGA ist keine Freizeitapp
OT: Was muss eine DiGA aus Ihrer Sicht eigentlich können und wann ist es vielleicht nur eine teure Freizeitapp?
Stoff-Ahnis: Aus unserer Sicht muss eine DiGA die Patientinnen und Patienten beim Krankheitsmanagement unterstützen und die Therapie-Adhärenz sicherstellen, also die Einhaltung der gemeinsam vom Patienten und Behandelnden gesetzten Therapieziele im Rahmen des Behandlungsprozesses. Die DiGA erfasst und generiert wertvolle medizinische Daten, die über die Sektorengrenzen mitgenommen werden und den Behandelnden, den Versorgungsbereichen und den unterschiedlichen Fach- und Berufsgruppen zur Verfügung gestellt werden könnten. Durch die Verarbeitung von Behandlungsdaten, wie zum Beispiel Blutdruckmessergebnissen, könnten die Ärztinnen und Ärzte Zustandsverschlechterungen frühzeitig erkennen und die Behandlung besser steuern. Gerade bei chronischen Erkrankungen ist dabei die Vernetzung der behandelnden Ärztinnen und Ärzte untereinander von Bedeutung. Wenn eine DiGA aber lediglich Leitlinieninhalte oder Selbsthilfe-Manuale im digitalen Gewand abbildet, ist der Innovationscharakter dagegen sehr begrenzt.
OT: Ist eine im DiGA-Verzeichnis aufgenommene Anwendung ein Medizinprodukt?
Stoff-Ahnis: DiGA sind digitale Medizinprodukte niedriger Risikoklassen gemäß § 33a SGB V. Die Hauptfunktion der DiGA muss im Wesentlichen auf digitalen Technologien beruhen, welche die Versicherten etwa bei der Behandlung von Erkrankungen oder dem Ausgleich von Beeinträchtigungen unterstützen.
OT: Muss eine DiGA als Medizinprodukt nicht auch MDR-konform sein? Wie wird das europäische Recht in diesem Fall ausgelegt?
Stoff-Ahnis: Ja, digitale Gesundheitsanwendungen müssen als Medizinprodukte verschiedene Anforderungen erfüllen, die sich insbesondere aus der Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation – MDR. Anm. d. Red.) ergeben, die seit dem 26. Mai 2021 gilt und die die Richtlinien über Medizinprodukte (93/42/EWG, MDD, Anm. d. Red.) ersetzt. Die MDR sieht in Artikel 120 entsprechende Übergangsvorschriften vor.
OT: Digitale Gesundheitsanwendungen werden derzeit als ein Baustein in der medizinischen Versorgung betrachtet. Beispielweise als eine Art Ernährungstagebuch. Wird die DiGA damit dem eigenen Anspruch gerecht?
Stoff-Ahnis: Eine DiGA muss von ihrer Definition her die Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten oder die Erkennung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen unterstützen. DiGA können daher innovative Versorgungslösungen in der GKV darstellen und sie bieten das Potenzial, die gesundheitliche Versorgung der Versicherten deutlich zu verbessern. Statt als funktionales Scharnier in der medizinischen Versorgung werden DiGA derzeit aber eher als Begleitung oder Coach ausgestaltet. Eine DiGA, die lediglich eine Art Ernährungstagebuch auf dem Smartphone abbildet, stellt daher für uns keine Innovation dar.
OT: Ein Blick in die Zukunft: Wie können DiGA 2028 das deutsche Gesundheitswesen verbessern?
Stoff-Ahnis: DiGA haben eine ergänzende, die sonstige Versorgung unterstützende Rolle. So ist es im Gesetz angelegt. Momentan werden sie dieser Rolle jedoch kaum gerecht. Allzu oft werden sie z. B. zur Überbrückung von Wartezeiten verordnet, ohne in die sonstige Behandlung der Patientinnen und Patienten integriert zu sein. Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass DiGA bislang nicht richtig „andocken“ können: In einem Versorgungsumfeld, wo sich die unterschiedlichen und an der Versorgung einer Patientin oder eines Patienten mitwirkenden Akteurinnen und Akteure vernetzen, könnten DiGA auch besser einen Mehrwert stiften. Mithilfe einer geeigneten Infrastruktur, welche die ePA perspektivisch bieten muss, werden Informationen aus der DiGA direkt in die ärztliche Behandlung einfließen können. Damit wird die Verknüpfung der Daten einer DiGA mit weiteren Behandlungsdaten in der regulären Versorgung zu einer wichtigen und sinnvollen Unterstützung.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
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