Dif­fe­ren­zier­ter Ein­satz sen­so­mo­to­ri­scher Hilfs­mit­tel im Versorgungsalltag

N. Berger, M. Salzmann
Eine Behandlung mit sensomotorischen Einlagen nach Lothar Jahrling verläuft in vielen Fällen erfolgreich. Auch wenn bis dato nur eine einzige Studie vorliegt, die deren Wirksamkeit wissenschaftlich valide belegt, konstatieren die Autorinnen eine hohe Patientenzufriedenheit. Eine Behandlung mit einer sensomotorischen Einlage kommt u. a. bei Knicksenkfuß, Vorfußadductus, Hohlfuß, neurogenem Spitzfuß, habituellem Zehenspitzengang und innenrotiertem Gangbild in Frage. Eine akkurate handwerkliche Fertigung der Einlage ist für deren Wirksamkeit unabdingbar.

In der The­ra­pie und Reha­bi­li­ta­ti­on von Pati­en­ten mit Stö­run­gen am mus­ku­los­ke­letta­len Sys­tem und sei­ner Steue­rung spie­len sen­so­mo­to­ri­sche Hilfs­mit­tel in vie­len Berei­chen eine Rol­le. Das wich­tigs­te Ein­satz­ge­biet ist die Phy­sio­the­ra­pie. Hier wird in der Übungs­the­ra­pie mit sen­so­mo­to­ri­schen Hilfs­mit­teln die Kör­per­wahr­neh­mung geschult. Steh­krei­sel, Wipp­brett, Pez­zi­ball oder Boden­mo­du­la­tio­nen in der Geh­schu­le schaf­fen dabei ein insta­bi­les Lern­um­feld. Auch Bäl­le, Luft­bal­lons, Auf­triebs­kör­per im Bewe­gungs­bad und ande­re Spiel­ge­rä­te sind sen­so­mo­to­ri­sche Hilfsmittel.

Anzei­ge

Das inter­es­san­tes­te sen­so­mo­to­ri­sche Hilfs­mit­tel im ortho­pä­di­sch­ärzt­li­chen Bereich ist die 1991 erst­ma­lig vor­ge­stell­te sen­so­mo­to­ri­sche Ein­la­ge nach Jahr­ling (Abb. 1). Anspruch ihres Erfin­ders, des OSM Lothar Jahr­ling, ist, über die Ein­la­ge die „Stütz- und Ziel­mo­to­rik” 1 ihres Trä­gers zu ver­än­dern. Dies soll über eine Ver­än­de­rung von Seh­nen- und Mus­kel­stre­cken am Fuß und damit ein­her­ge­hen­der ver­än­der­ter Toni­sie­rung der Fuß­mus­ku­la­tur erreicht wer­den. Fol­gen­de vier „Spots” wer­den dazu adres­siert (mit jeweils zuge­schrie­be­ner Wirkung):

  • media­ler Spot unter dem Sus­ten­ta­cu­lum tali: Akti­vie­rung der Tibia­lis-Grup­pe mit M. tibia­lis pos­te­ri­or und ante­rior; dadurch Ver­hin­de­rung von Über­pro­na­ti­on und Sta­bi­li­sie­rung des Fußinnenrands;
  • late­ra­ler Spot: Akti­vie­rung der Pero­neus-Grup­pe (M. pero­neus longus und bre­vis); zusam­men mit dem media­len Spot Akti­vie­rung der „Steig­bü­gel­mus­ku­la­tur”; dadurch Rück­fuß­sta­bi­li­sie­rung und Vor­beu­gung von Supinationstraumata;
  • retro­ka­pi­ta­ler Spot: Vor­span­nung des M. flex­or digi­torum longus, Deh­nen der Plant­ar­a­po­n­eu­ro­se; über Fer­sen­bein und Achil­les­seh­ne Ent­span­nung des M. gas­tro­c­ne­mi­us und soleus, Ver­rin­ge­rung des Zugs auf die Achillessehne;
  • vor­de­rer Zehen­steg: eben­so wie retro­ka­pi­ta­ler Spot Vor­span­nung des M. flex­or digi­torum longus, Deh­nung der Plant­ar­a­po­n­eu­ro­se, außer­dem durch den ver­bes­ser­ten Zehen­kon­takt bes­se­res Feed­back in der Körperwahrnehmung.

Trotz teils eupho­ri­scher Berich­te im per­sön­li­chen Gespräch oder in Inter­net-Foren sind belast­ba­re Unter­su­chun­gen in der Fach­li­te­ra­tur bis­her nicht zu fin­den. Die vor­han­de­ne Lite­ra­tur stammt ent­we­der vom Erfin­der selbst, berich­tet über Kleinst­kol­lek­ti­ve oder genügt wis­sen­schaft­li­chen Stan­dards nicht 2 3 4 5. Ledig­lich für die late­ra­le Pelot­te wur­de in einer Stu­die (ran­do­mi­siert, dop­pel­ver­blin­det, Cross-over-Design) mit 32 Pro­ban­den mit­tels EMG eine signi­fi­kan­te Wir­kung fest­ge­stellt 6.

Dies muss jedoch nicht zwangs­läu­fig hei­ßen, dass die Metho­de nicht funk­tio­niert. Ein berühm­tes Bei­spiel für eine The­ra­pie­me­tho­de, die meh­re­re Jahr­zehn­te zunächst aus­schließ­lich von ihrem Erfin­der und des­sen Schü­lern pro­pa­giert wur­de, bevor sie schließ­lich bin­nen fünf­zehn Jah­ren einen phä­no­me­na­len inter­na­tio­na­len Sie­ges­zug fei­er­te, ist die Klump­fuß­be­hand­lung nach Pon­seti (Igna­cio Pon­seti, 1914–2009). Erst­mals 1963 7 beschrie­ben, konn­te sie sich in Deutsch­land erst nach dem Mill­en­ni­ums­wech­sel eta­blie­ren. Hilf­reich dabei war sicher­lich, dass auf­grund der digi­ta­len Doku­men­ta­ti­on eine wach­sen­de Flut an Foto- und Video­do­ku­men­ta­tio­nen ent­stand, die das Publi­kum mit Vor­her-nach­her-Bil­dern über­zeug­te. Zahl­rei­che Ver­öf­fent­li­chun­gen, die sich der instru­men­tel­len Gang­ana­ly­se bedien­ten, haben den guten kli­ni­schen Ein­druck schließ­lich bestä­tigt. Die­ser Erfolg blieb der Ein­la­gen­ver­sor­gung nach Jahr­ling bis­her verwehrt.

Im Ver­sor­gungs­all­tag spielt die sen­so­mo­to­ri­sche Ein­la­ge nichts­des­to­trotz eine rele­van­te Rol­le, und zwar auf­grund der hohen Pati­en­ten­zu­frie­den­heit. Das sub­jek­ti­ve Wohl­be­fin­den des Pati­en­ten ist bei die­ser Art der Ver­sor­gung – nach per­sön­li­cher Ein­schät­zung der Autorin­nen – über­durch­schnitt­lich hoch. Eine akku­ra­te hand­werk­li­che Fer­ti­gung der Ein­la­ge ist dabei ent­schei­dend. Der Ein­satz­be­reich der sen­so­mo­to­ri­schen Ein­la­ge umfasst die Behand­lung von

  • Knick­senk­fuß
  • Vor­fuß­ad­duc­tus
  • Hohl­fuß
  • neu­ro­ge­nem Spitz­fuß (bei gerin­ger Spas­tik), habi­tu­el­lem Zehenspitzengang
  • innen­ro­tier­tem Gang­bild (über Akti­vie­rung der Glutealmuskulatur)
  • Hypo­to­nie (hier als Sti­mu­lus für Körperaufrichtung)
  • rheu­ma­ti­schen Fußerkrankungen
  • Achil­lo­dy­nie, Fer­sen­sporn, Tibialisanterior-Syndrom
  • Fehl­stel­lun­gen der Knie: O‑Bein, XBein
  • Arthro­se an Knie oder Hüfte
  • Rücken­schmerz

Vor­aus­set­zung für die Ver­sor­gung mit sen­so­mo­to­ri­schen Ein­la­gen ist dabei, dass der Fuß pas­siv kor­ri­gier­bar ist, der Rück­fuß aktiv auf­ge­rich­tet wer­den kann und der Fuß „dreh­bar” ist. Hier­zu müs­sen die Gelen­ke frei beweg­lich sowie aus­rei­chend pas­siv sta­bil und die Mus­ku­la­tur aus­rei­chend kräf­tig mit genü­gend Exkur­si­ons­fä­hig­keit sein. Auf neu­ro­lo­gi­scher Ebe­ne muss die zen­tra­le Steue­rung der Affe­ren­zen und der Effe­ren­zen mit ihren Ver­schal­tun­gen intakt sein. Und nicht zuletzt müs­sen auch die pro­xi­ma­len Gelen­ke frei und funk­ti­ons­fä­hig sein. Im Umkehr­schluss sind daher Pati­en­ten mit star­ker Zere­bral­pa­re­se, struk­tu­rel­len Defor­mi­tä­ten der Gelen­ke, struk­tu­rel­len Mus­kel­ver­kür­zun­gen, Gelenk­in­sta­bi­li­tä­ten, Sen­si­bi­li­täts­stö­run­gen oder Defi­zi­ten (MMC, HSMN u. a.), aus­ge­präg­tem Intel­li­genz­de­fi­zit, Kon­trak­tur­er­kran­kun­gen wie AMC oder pro­xi­mal gele­ge­nen Funk­ti­ons­stö­run­gen mit Kon­trak­tu­ren, Insta­bi­li­tä­ten oder Schwä­che nicht für eine Ver­sor­gung mit sen­so­mo­to­ri­schen Ein­la­gen geeig­net (Abb. 2). Bei der Ver­sor­gung von Kin­dern gilt außer­dem ein Min­dest­al­ter von fünf Jah­ren. Bei Berück­sich­ti­gung der geeig­ne­ten Indi­ka­tio­nen sind in eini­gen Fäl­len beein­dru­cken­de Beschwer­de­lin­de­run­gen zu beobachten.

Zusam­men­fas­send kann gesagt wer­den, dass es sich bei der sen­so­mo­to­ri­schen Ein­la­ge nach Jahr­ling um ein inter­es­san­tes Kon­zept han­delt, das in Ein­zel­fall­be­trach­tun­gen über­zeugt, des­sen Wirk­sam­keit aber drin­gend in Stu­di­en aus­rei­chen­der Qua­li­tät nach­ge­wie­sen wer­den sollte.

Die Autorin­nen:
Dr. Maya Salz­mann MSc
Fach­ärz­tin für Ortho­pä­die und Unfall­chir­ur­gie, Kin­der­or­tho­pä­die Sek­ti­ons­lei­tung Kin­der­or­tho­pä­die Kli­ni­kum Schwabing/Klinikum rechts der Isar
Städ­ti­sches Kli­ni­kum Mün­chen GmbH
Köl­ner Platz 1, 80804 München
maya.salzmann1@klinikum-muenchen.de

Dr. Nina Berger
Fach­ärz­tin für Ortho­pä­die und Unfall­chir­ur­gie, Kin­der­or­tho­pä­die Kin­der­or­tho­pä­die Kli­ni­kum Schwabing/ Kli­ni­kum rechts der Isar
Städ­ti­sches Kli­ni­kum Mün­chen GmbH
Köl­ner Platz 1, 80804 München
nina.berger@klinikum-muenchen.de

Begut­ach­te­ter Artikel/reviewed paper

Zita­ti­on
Ber­ger N, Salz­mann M. Dif­fe­ren­zier­ter Ein­satz sen­so­mo­to­ri­scher Hilfs­mit­tel im Ver­sor­gungs­all­tag. Ortho­pä­die Tech­nik, 2014; 65 (3): 54–55
  1. Jahr­ling L, Rocke­fel­ler B. Sen­so­mo­to­ri­sche Ein­la­gen­ver­sor­gung: Aktio gleich Reak­tio. Ortho­pä­die­schuh­tech­nik Son­der­heft Sen­so­mo­to­rik, 2006: 50–55
  2. Lud­wig O, Fuhr N. Ände­rung der mus­ku­lä­ren Akti­vi­tät durch pro­prio­zep­tiv wir­ken­de Ein­la­gen. Ortho­pä­die­schuh­tech­nik, 2004; 12: 13–18
  3. Jahr­ling L. Beein­flus­sung sen­so­mo­to­ri­scher Fähig­kei­ten durch Ein­la­gen­ver­sor­gung. Ortho­pä­die Tech­nik, 2005; 56 (7): 476–481
  4. Man­del T, Jahr­ling L. Sen­so­mo­to­ri­sche Ein­la­gen für Kin­der. Ortho­pä­die­schuh­tech­nik, 2001; 7/8: 26–27
  5. Jahr­ling L. Leis­tungs­sport und sen­so­mo­to­ri­sche Ein­la­gen. Ortho­pä­die­schuh­tech­nik, 2004; 7/8: 35–36
  6. Lud­wig O, Quad­flieg O, Koch M. Ein­fluss einer sen­so­mo­to­ri­schen Ein­la­ge auf die Akti­vi­tät des M. pero­neus longus in der Stand­pha­se. Deut­sche Zeit­schrift für Sport­me­di­zin, 2013; 64 (3): 77–82
  7. Pon­seti IV, Smo­ley EN. Con­ge­ni­tal Club Foot: The Results of Tre­at­ment. The Jour­nal of Bone & Joint Sur­gery, 1963; 45 (2): 261–344
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