Dies gilt auch für den Umgang mit dem Diabetischen Fußsyndrom. Im Interview ordnet Dr. med. Armin Koller, Leiter der Abteilung Technische Orthopädie an der Klinik Dr. Guth in Hamburg, die Aktualisierung der PG 31 etwa für die Verwendung einer Diabetesadaptierten Fußbettung im Versorgungsalltag ein. Dr. Koller ist ein anerkannter Experte in seinem Fachgebiet, Mitglied mehrerer Fachgesellschaften und hat unter anderem an der Ausarbeitung der Verordnungskriterien zur Schuhversorgung beim Diabetischen Fußsyndrom mitgewirkt.
OT: Dr. Koller, in der Fortschreibung der PG 31 sind die Spezialschuhe beim Diabetischen Fußsyndrom in das Hilfsmittelverzeichnis aufgenommen worden. Wie bewerten Sie diese Neuerung?
Dr. Armin Koller: Die Aufnahme der Spezialschuhe in die PG 31 ist grundsätzlich zu begrüßen, führt aber durch die vorgeschriebenen Produkteigenschaften und die zu beachtenden Indikationen zur einer Einschränkung der vorher gegebenen Versorgungsmöglichkeiten. Konkret ist es ein ganz erheblicher Rückschritt, das die bisher geübte Praxis der Verordnung von sogenannten Diabetesschutzschuhen bereits in der Risikokategorie 2 im Einklang mit den Nationalen Versorgungsleitlinien nun nicht mehr möglich ist,da der Spezialschuh erst bei abgeheiltem Ulkus zum Einsatz kommt. Die Prophylaxe tritt ganz in den Hintergrund.Dies steht im Widerspruch zum Präventionsgesetz, in dem explizit bei Diabetes mellitus eine frühe Erkennung und Therapie gefordert wird. Das Diabetische Fußsyndrom steht bei den Kosten für stationäre Behandlungen ganz weit oben. Nun muss auf das Auftreten eines Ulkus gewartet werden, um dann erst nach dessen Abheilung Spezialschuhe verordnen zu können. Auch das generelle Verbot von Sandalen ist nicht immer zielführend. Bei vielen Füßen steht die Druckumverteilung im Schuhschaft nicht im Vordergrund. Solange keine schädigenden Druck- oder Scherkräfte durch das Obermaterial ausgeübt werden, wären Sandalen oder zumindest Schuhe mit Öffnungen im Schaft zu tolerieren. Dass Sandalen funktionieren können, zeigt der Versorgungsalltag in wärmeren Ländern, wie zum Beispiel Indien. Selbstverständlich bleibt das Problem mit dem leichteren Eindringen von Fremdkörpern. Allerdings stellen geschlossene Schuhe im Sommer ein Problem aufgrund der Schweißbildung dar. Das hygienische Problem mit einem erhöhten Infektrisiko ist nicht von der Hand zu weisen.
OT: Die Diabetesadaptierte Fußbettung (DAF) darf nun nur noch in Spezialschuhen beim Diabetischen Fußsyndrom oder orthopädischen Maßschuhen verwendet werden.
Koller: Das schränkt die Versorgungsmöglichkeiten erheblich ein. Auch aus ärztlicher Fachkenntnis als geeignet zu erachtende Schuhe kann der Patient nun zur Aufnahme einer DAF nicht mehr verwenden und ist auf die wenigen am Markt erhältlichen Modelle angewiesen, die zum Teil aufgrund ihrer Produktvorschriften sogar eher ungeeignet sein könnten. Die schablonenartige Versorgung von Patienten zu Sekundärprophylaxe von Ulzerationen mit Hilfe von Schuhen mit nur einer zulässigen Sohlenkonstruktion(Sohlenversteifung, Anm. d. Red.) verhindert auf individuelle Bedürfnisse besser angepasste Versorgungsmöglichkeiten. Nicht alle Patienten haben nur Diabetes mellitus, es liegen zum Teil weitere Erkrankungen mit negativem Einfluss auf Gang- und Standsicherheit vor. In solchen Fällen ist alles andere als eine abrollerleichternde Sohle wünschenswert. Das gilt auch für Patienten mit hochgradiger polyneuropathischbedingter Standunsicherheit. Die druckreduzierende Wirkung der Rolle kommt erst ab einer Mindestgeschwindigkeit beim Gehen zum Tragen, wie entsprechende Messungen von Prof. Dr. Burkhard Drerup gezeigt haben. Patienten mit einem wenig propulsivem Gangbild und langsamer Fortbewegung, häufig in der geriatrischen Versorgung, profitierten eher von einer flachen und stabilisierenden Sohle. Kritisch zu betrachten ist auch die technische Lösung, um im Vorfußbereich mindestens 14 Grad Spitzenhub zu erzielen. In vielen Fällen ist zu diesem Zweck die Sohle mitsamt Einlage ab dem Großzehengrundgelenk nach distal ansteigend. Dazu ist eine Dorsalextension in den Zehengrundgelenken erforderlich. Für Patienten mit in neutraler oder flektierter Position versteiften Zehen sind solche Schuhmodelle dann aufgrund des erhöhten Drucks im Bereich der Zehenbeeren denkbar ungeeignet.
OT: In den von Ihnen mitentwickelten Verordnungskriterien zur Schuhversorgung beim Diabetischen Fußsyndrom gibt es Kriterien für eine höhergradige Versorgung, die, unter bestimmten Voraussetzungen, den Einsatz von Diabetesadaptierten Fußbettungen auch schon vor Eintritt einer Ulzeration ermöglichen. Diese Kriterien finden sich jedoch nicht im Hilfsmittelverzeichnis wieder.
Koller: Die Versorgung mit einer DAF stellte bereits zuvor die Regelversorgung in der Risikokategorie 3 nach abgeheiltem Fußulkus dar. Versäumt wurde die bisher in den Leitlinien formulierte Versorgungsempfehlung zu übernehmen. Dort heißt es, dass auch in der Risikokategorie 2 eine DAF anzupassen ist, wenn gleichzeitig eine funktionelle Störungoder Deformität vorliegt, die zu einer deutlichen lokalen Druckerhöhung führt. Erkennungsmerkmal ist z. B. eine starke Callusbildung mit oder ohne Unterblutung.
OT: In der Fortschreibung des HMV steht explizit, dass die DAF nicht zur Behandlung eines diabetischen Fußulkus geeignet ist.Wie ist Ihre Erfahrung?
Koller: Das wird in der internationalen Fachliteratur anders gesehen, nachzulesen u.a. in einem systematischen Review* von Dr. Sicco Bus. Das Problem ist die im HMV vorgenommene Verallgemeinerung unter vollständiger Ignorierung der von Expertengremien vorgenommen Einteilung von Ulzerationen in Schweregrade. Größe, Tiefe, Wundphase, Lokalisation, Dauer der Läsion sowie biomechanische und biologische Faktoren seitens der Patienten bedingen ganz erhebliche prognostische Unterschiede, ob ein Ulkus mithilfe von Schuhen und Einlagen abheilen kann oder nicht.
OT: Welche Meinung vertreten Sie hinsichtlich des Einsatzes von Diabetesadaptierten Fußbettungen in Verbandschuhen?
Koller: Wenn, wie im HMV beschrieben, eine Weichpolsterbettungseinlage aus der PG 08 zur Druckumverteilungund/oder Polsterung erforderlich sein kann, warum dann nicht die DAF, welche noch weit gezielter den Druck entlasten können soll und nach der Abheilung des Ulkus gleich zur Prophylaxe weiter verwendet werden kann.
OT: Abschließend noch eine Nachfrage zum Stichwort „Digitalisierung“: Die Möglichkeit der Leistenerstellung über digitale Scanverfahren und Bildschirmbearbeitung ist inzwischen im HMV hinterlegt. Ebenso wird eine Druckverteilungsmessung zum Nachweis der Wirksamkeit gefordert. Die festgeschriebene Fertigungstechnik (Tiefziehen) bleibt aber dem traditionellen Handwerk verpflichtet. Welche Chancen sehen Sie, durch computerunterstützte Fertigungsverfahren die Versorgungsqualität zu erhöhen?
Koller: Im HMV steht wörtlich: „Bei Leisten aus dem 3D-Druckerbedarf es vorab eines 3D-Vollfuß-Scans als Basis für die Maßschuhfertigung. (…) Nach dem 3D-Scan wird der Leisten aus Kunststoff gefräst.“ Hier stellt sich die Frage,ob bei den Autoren ein fachliches Verständnis für digitalisierte Fertigungsprozesse vorhanden ist, wenn ein gedruckter Leisten gefräst werden soll. Die Festlegung auf das Tiefziehverfahren ignoriert modernere Fertigungstechniken oder ist zumindest fortschrittsfeindlich. Die Forderung nach einer Dokumentation mittels Druckmessung folgt nun endlich den Forderungen der Nationalen Versorgungsleitlinien und ist somit zu begrüßen.
*Literaturhinweis: (Bus, S. et al., Footwear and offl oadinginterventions to prevent and heal foot ulcers and reduceplantar pressure in patients with diabetes, Diabetes MetabRes Rev 2015; 32(Suppl.1): 99–118)
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