OT: „Mobil nach Querschnitt“ heißt ein Versorgungsansatz, den Sie für Sanitätshäuser und Rehabilitationseinrichtungen vorschlagen. Was verbirgt sich dahinter?
Daniel Hublitz: Die Idee dazu wurde vor etwa zwei Jahren geboren. Während einer Vorführung unseres computergesteuerten Orthesensystems C‑Brace auf der Fachmesse Rehacare ist uns aufgefallen, dass etliche der teilnehmenden Rollstuhlfahrer:innen mit inkomplettem Querschnitt eigentlich noch Geh- und Stehfähigkeiten besitzen. Bei einigen von ihnen bestand sogar die Chance, mit entsprechendem Training wieder ausdauernd gehen zu können. Aus dieser Erfahrung heraus haben wir begonnen, ein Konzept für Ärzt:innen, Therapeut:innen, Reha-Fachleute und Sanitätshäuser zu entwickeln, das in der Rehabilitation nach einer Querschnittlähmung genauer als bisher auf die Fähigkeiten der Betroffenen eingeht und ihre Mobilität fördert – gestützt durch entsprechende Hilfsmittel. Denn inzwischen werden in der ersten Phase der Rehabilitation zwar Gehtrainer oder Exoskelette eingesetzt, dies geschieht aber zeitlich begrenzt und hilft nicht bei der Integration der Patient:innen in den Alltag.
OT: Was ist neu an Ihrem Konzept?
Hublitz: Neu ist, dass wir den Patient:innen von einem frühen Zeitpunkt der Reha an ständig die Gelegenheit geben, zu stehen, zu gehen und damit ihre Fähigkeiten zu trainieren. Dies ist als eine Verstärkung der in vielen Kliniken angebotenen Therapie mit Gehtrainern oder Exoskeletten gedacht. Denn oft können die Betroffenen dabei maximal eine halbe Stunde pro Tag trainieren – und das ist zu wenig, um wieder aus dem Rollstuhl herauszukommen. Deshalb schlagen wir die frühzeitige Versorgung mit Hilfsmitteln vor, die durch ihre Eigenschaften die Rehabilitation von Patient:innen positiv beeinflussen könnten. Damit könnten sie entsprechend ihrer Fähigkeiten schneller vertikalisiert werden, statt im Rollstuhl zu sitzen.
OT: Das ist derzeit nicht gegeben?
Hublitz: Im Moment kommen die Patient:innen in die Reha und oft sofort in den Rollstuhl, wenn sie aufgrund ihrer Funktionsausfälle nicht selbstständig gehen und stehen können. Hilfsmittel, die anpassbar und temporär nach dem jeweiligen Bedürfnis als individuelles Hilfsmittel genutzt werden, bis die Patient:innen wieder mobiler sind, sieht das System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bislang nicht vor. Sie sind nicht verschreibungsfähig und fallen nicht in die Fallpauschalen der Rehabilitationszentren. Doch die Leute müssen schnell raus aus dem Rollstuhl! So nutzt laut meiner Studienrecherche mehr als die Hälfte der im Brust-/Lendenwirbelsäulenbereich (BWS/LWS) von Lähmungen betroffenen Menschen nach der Rehabilitation Rollstühle, obwohl sie eigentlich stehfähig sind.
Nicht zu früh auf eine Versorgung festlegen
OT: Gibt es Vorbilder für diese Idee?
Hublitz: Ja, in der Prothetik gibt es schon lange Interimsprothesen, die zum Standard-Prozedere nach einer Amputation gehören und von der GKV vergütet werden. Ein frühzeitiges Festlegen auf eine Versorgung – wie zum Beispiel den Rollstuhl – ist auch bei diesen Indikationen nicht sinnvoll. Am Beginn der Reha weiß man doch noch gar nicht, wie weit jemand kommen kann und welche Hilfsmittel nach sechs Wochen oder einem Vierteljahr gebraucht werden.
OT: Mit welchen Hilfsmitteln würde sich heute schon frühzeitig die Rehabilitation beeinflussen lassen?
Hublitz: Ich sehe hier ganz klar die neuen Technologien, insbesondere die Stimulation der Muskulatur in den unterschiedlichen Ausprägungen, als innovative neue Möglichkeiten, Patient:innen frühzeitig besser zu mobilisieren und langfristig ihren Alltag positiv zu erleichtern. Die Reduktion von Spastik, die Aktivierung der Muskulatur und die daraus resultierenden positiven Effekte auf den Körper können die Ergebnisse einer Rehabilitation nachhaltig fördern.
OT: Warum ist diese Idee erst jetzt entstanden?
Hublitz: Nun, bis in die 1960er- und 1970er-Jahre hinein wurde in der Reha auf Ganzbeinorthesen gesetzt, nämlich die klassischen Schienen-Leder-Hülsenapparate. Diese waren aber viel zu wenig funktionell und intuitiv. Wie schon gesagt, landeten und landen zu viele Patient:innen im Rollstuhl. Es gab auch in den frühen 1970er-Jahren schon Versuche mit Elektrostimulation, damals ließen die Ergebnisse und die Akzeptanz zu wünschen übrig. Durch die Digitalisierung und die infolgedessen weiterentwickelte Technik sind heute Lösungen möglich, die wirklich intuitive, anpassbare, stabilisierende und komfortable Orthesensysteme zulassen. Sie lassen sich eigenständig anlegen und ermöglichen den Patient:innen gleichzeitig Sicherheit und Bewegungsfreiheit. Damit kommen sie viel besser klar als mit den wenigen Funktionen der klassischen Orthesen. Dies muss sich aber bei Ärzt:innen, Therapeut:innen und ebenso in Sanitätshäusern erst herumsprechen. Deshalb bieten wir unter anderem Symposien zum Thema an, planen Anwenderstudien und suchen nach Partnern im medizinischen Bereich, bei Reha-Anbietern und Sanitätshäusern.
Motivation durch Mobilität
OT: Für welche Altersgruppen ist Ihr Konzept „Mobil nach Querschnitt“ gedacht?
Hublitz: Da gibt es keine Begrenzung nach oben – das Spektrum reicht vom jungen Erwachsenenalter bis hin zu 70 plus. Denn in den letzten 20 Jahren haben sich Querschnittlähmungen gewandelt – von einer Erkrankung infolge eines Unfalls vor allem bei jüngeren Altersgruppen bis hin zu degenerativen Erkrankungen oder auch Tumoren bei Älteren. Je älter die Patient:innen jedoch sind, desto schwerer tun sie sich mit einer Anpassung an die neuen Bedingungen und die extremste Änderung ist für sie ein Leben im Rollstuhl. Je weniger sie sich aber bewegen, desto eher bleiben sie im Rollstuhl sitzen und müssen ihr Umfeld – beispielsweise die Wohnung – adaptieren. Deshalb gilt es, mit permanentem Geh- und Stehtraining früh in der Reha anzufangen und die Patient:innen mit der Aussicht auf mehr Mobilität zu motivieren, zunächst kurze Wege zu Fuß zu gehen, und Ängste zu nehmen. Die Patient:innen sind heute mündiger und können mitentscheiden, wie viel sie sich zutrauen. Letztlich kann das Früh-Reha-Konzept „Mobil nach Querschnitt“ starten, sobald Wunden geheilt und die Patient:innen stabil sind. Eingebunden werden Mobilitätshilfen für alle Lähmungshöhen, von Sakral- bis Halswirbel.
OT: Hat der Rollstuhl dann ausgedient?
Hublitz: Nein, in vielen Fällen ist bei schnellen Transfers wie vom Bett zur Toilette trotzdem ein Rollstuhl nötig, denn das Anlegen einer Orthese würde dann zu lange dauern. Außerdem betreffen die neuen Technologien nicht nur Fußgänger:innen! Auch die Rollifahrer:innen profitieren von neuen Systemen, die ihre Gesundheit fördern und durch die Reduktion von Spastiken die verbleibende Muskulatur aktivieren und Schmerzen reduzieren. Das bedeutet mehr Lebensqualität!
OT: Welches Interesse sollten die Krankenkassen haben dieses Konzept zu finanzieren?
Hublitz: Je früher es gelingt, die Patient:innen zu vertikalisieren, mobilisieren und aktivieren, desto weniger Kosten entstehen für Folgen der Immobilität wie Erkrankungen des Verdauungssystems. Zudem lässt sich durch eine Interimsversorgung besser bestimmen, was die Patient:innen tatsächlich dauerhaft an Versorgung benötigen und wie sie diese Versorgungen annehmen. Damit wird verhindert, dass ein verordnetes Hilfsmittel schließlich ungenutzt in der Ecke steht.
OT: Gibt es bereits Gespräche mit Krankenkassen?
Hublitz: Nein, erst muss das gesamte Konzept stehen und mit entsprechenden Hilfsmittelvorschlägen sowie einem Schulungsangebot untermauert sein. Es geht um ein ganzheitliches Vorgehen, das mit allen an der Rehabilitation Beteiligten abgestimmt ist und von allen mitgetragen wird.
OT: Wie sind Sanitätshäuser eingebunden?
Hublitz: Die Sanitätshäuser sind verantwortlich für die Versorgung der Patient:innen! Um unser Konzept umzusetzen, benötigen die Mitarbeiter:innen Zertifizierungen. Zudem setzen wir an der Schnittstelle zwischen Orthopädie-Technik und Reha-Technik an, da passiert heute noch viel zu wenig Kommunikation und es geht viel an wichtigen Informationen verloren. Unser Konzept soll hier Verbindungen schaffen sowie Universitäten, Mediziner:innen, Orthopädietechniker:innen und Physiotherapeut:innen einbeziehen durch Schulungsmaßnahmen für verschiedenste Fachrichtungen.
OT: Wann soll Ihr Konzept „Mobil nach Querschnitt“ im Markt angekommen sein?
Hublitz: Im nächsten Jahr wollen wir das Thema sukzessive in den Markt einbringen, als längerfristiges Projekt. Denn wir möchten neue technologische Highlights wie den „Exopulse Suit“ einbeziehen – einen Elektroden-Anzug aus dem Bereich Neuro-Orthetik, der verkrampfte Muskeln bzw. Spastiken mit elektrischen Impulsen löst und zum Beispiel nach Schlaganfall zum Einsatz kommt. Auf der OTWorld 2022 werden wir das Konzept „Mobil nach Querschnitt“ in Verbindung mit diesen neuen Produkten vorstellen. Zeitnah starten Begleituntersuchungen, um das Thema Querschnitt umgreifender behandeln zu können.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
Etwa 140.000 Menschen leben laut Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten in Deutschland e. V. (FGQ) hierzulande mit Querschnittlähmung. Rund 2.400 neu Betroffene kommen jährlich aufgrund von Unfällen oder Erkrankungen hinzu. Mit „Mobil nach Querschnitt“ will das Unternehmen Ottobock eine Initiative für ein fachübergreifendes Versorgungsnetzwerk mit interprofessionellen Rehabilitationsteams anstoßen, das vor allem die Bedürfnisse einer alternden Gesellschaft im Blick hat. „Ein für die Patient:innen individuell koordinierter und interprofessioneller Versorgungsansatz ist die Voraussetzung für eine optimale Rehabilitation“, erklärt Philipp Hoefer, Geschäftsführer Vertrieb & Marketing DACH bei Otto Bock HealthCare Deutschland. „Wir als Industrie können dabei gemeinsam mit dem orthopädietechnischen Betrieb oder Sanitätsfachhandel mit Hilfsmitteln unterstützen.“ Dabei solle in einer möglichst frühen Phase der Rehabilitation angesetzt werden, verbunden mit Schulungen und Trainings im Hilfsmittelbereich für verschiedene Berufszweige des interdisziplinären Teams.
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