Der Präsident der International Society für Prosthetics and Orthotics, Edward Lemaire, berichtete vom heimischen Sofa in Ottawa, dass sich sein Forschungsschwerpunkt durch die Beschränkungen geändert habe. „Ich forsche nur noch online, nicht mehr am Patienten, entwickle eine Konstruktion nach der anderen“, so der Professor der Universität Ottawa. Er versprach viele Neuentwicklungen im Bereich der Orthopädie-Technik, mit denen sich die Patienten nach der Pandemie noch besser bewegen werden. Im Übrigen sei Wissen der Schlüssel zur Überwindung von Krisen: „Suchen Sie nach neuem Wissen, um den Patienten zu helfen“, empfahl er den Kollegen und Zuhörern und setzte noch eine wichtige Erkenntnis mit Blick auf die Covid-19-Pandemie hinzu: „Wissen bekämpft Angst.“ Aber durch die Beschränkungen würde manche Versorgung verschoben und er fürchte, es gebe nach Corona einen großen Rückstau. „Wie werden wir damit zurechtkommen?“, fragte er.
Die Zukunft ist digital
Aus Genf zugeschaltet, erläuterte Chapal Khasnabis, Technical Officer im Disability and Rehabilitation Team (DAR) der Abteilung Violence and Injury Prevention and Disability (VIP) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), seine Sicht auf Corona und die Auswirkungen für die Hilfsmittelbranche. Gemeinsame Aufgabe aller sei es, jede Art von Hilfsmittel jedem Menschen dieser Welt zugänglich zu machen. In Zeiten coronabedingter Beschränkungen zeige das bisherige weltweite Hilfsmittelversorgungssystem seine Schwächen. Die Krise sei so gesehen die Chance, aus Fehlern zu lernen und das Versorgungssystem neu zu denken. Genau daran arbeiten er und sein 12-köpfiges Team in Genf. Ihr Ansatz lautet: Go digital – go local. Sie entwickeln ein Modell, das alle digitalen Möglichkeiten von Künstlicher Intelligenz bis 3D-Druck ausschöpft, und zusätzlich auf die Familien der zu Versorgenden setzt. „Die Zukunft ist digital“, so Khasnabis. „Wir müssen digitale Technik in jeden Schritt der Versorgung einführen. Aber kein Mensch ist alleine. Patienten haben Familien.“ Bereits im nächsten Jahr will die WHO das Modell vorstellen. „Wenn alles besser wird, können wir sofort neu starten, und zwar auf einer höheren Ebene.“
Fighting nicht vergessen
„Wir müssen mehr für die Bedürfnisse der Patienten kämpfen und dafür, dass unsere Mitarbeiter nicht die Arbeitsplätze verlieren. Wir dürfen das Fighting nicht vergessen“, so Prof. Hans Georg Näders Botschaft aus dem Podcaststudio von Ottobock in Duderstadt. Der Vorsitzende des Verwaltungsrats von Ottobock wandte sich kämpferisch direkt an den ebenfalls mitdiskutierenden CDU-Bundestagsabgeordneten Dr. Roy Kühne mit den Worten: „Die Hilfsmittelversorgung muss global als systemrelevant im Gesundheitswesen anerkannt werden und in die Corona-Hilfsprogramme eingeschlossen werden.“ Außerdem sorge er sich um die psychosozialen Folgen für Menschen mit Handicap, die wegen Corona nicht ihre Versorgung von Orthopädie-Technikern oder Physiotherapeuten bekommen würden. Die Versorger müssten Zugang zu den Patienten und die Patienten zu den Versorgern haben, natürlich so digital und so sicher wie möglich. „Die Pandemie ist ein Treiber der Digitalisierung der Branche und der Unternehmen“, ergänzte Näder. Das sei auch gut so, denn so bliebe den Orthopädie-Technikern mehr Zeit für Patienten, Ärzte, Krankenkassen oder die eigene Familie. „Die digitale Transformation ist ein Muss, damit die Technische Orthopädie auch in Zukunft den Stellenwert hat, den sie verdient hat.“ Sein Schlusswort: „Ich schaue total positiv auf die Zukunft.“
Digital und relevant
Auch Alf Reuter, Präsident des BIV-OT, betonte im Live-Studio der ersten digitalen OTWorld.connect auf dem Leipziger Messegelände die positiven Aspekte der Digitalisierung: „Digitalisierung als Chance erleben wir gerade in Leipzig, aber bei der Versorgung am Patienten hört das auf.“ Scannen, fräsen und drucken – all das könne man digital leisten, aber nicht das Anprobieren und Testen am und mit dem Patienten. Dafür brauche es den Zugang zum Patienten, ob in der Klinik oder in der häuslichen Umgebung. Dieser dürfe den Orthopädie-Technikern und Sanitätshausmitarbeitern nicht erneut – wie beim Lockdown im März und April –verwehrt werden. „Wir sind relevant. Wir müssen da sein“, erklärte der Orthopädietechnik-Meister und griff so Prof. Näders Stichwort Systemrelevanz auf. Gleichzeitig sei die Covid-19-Pandemie ein Katalysator. „Wir werden aus unserer Komfortzone gerissen“, so Reuter weiter. „Wer da nicht mitmacht, ist weg.“ Positiver Nebeneffekt der Krise: „Noch nie gab es eine solche Einigkeit innerhalb der Branche! Ich bin überzeugt, dass wir gestärkt aus der Corona-Zeit herausgehen.“
Wertvolle Leistungen
Dr. Roy Kühne sitzt seit acht Jahren für die CDU im Bundestag. Der Politiker ist Mitglied im Ausschuss für Gesundheit und zuständiger Berichterstatter für Hilfsmittel der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Er arbeite seither daran, dass die Hilfsmittelbranche in der Politik als wichtiger Teil der Gesundheitsversorgung anerkannt werde, so der Bundestagsabgeordnete. Leider müsse er noch immer dem einen oder anderen Kollegen den Unterschied zwischen Heil- und Hilfsmitteln erklären. Nicht selten belächelten Ärzte und Politiker die Techniker. „Wir haben in Deutschland ein veraltetes, hierarchisches Ärztesystem, das hat viel mit Macht und Geld zu tun. Dies zu ändern, daran arbeiten wir“, erklärte der aus Berlin zugeschaltete Politiker. Dies sei anders als in den USA oder Kanada. Dort seien Ärzte und Techniker auf Augenhöhe. Es sei umso wichtiger, dass die Branche selber ihre wertvollen Leistungen besser dokumentiere und die Akademisierung vorantreibe. Um ihren Stand in der Welt zu behalten, sollte der „Kollege Computer“ aber mehr Einzug in die Branche erhalten. Im internationalen Vergleich „müssen wir in Deutschland noch drei Zähne zulegen“, so der Biomechaniker. Seine Empfehlung: „Seid neugierig, was kommt.“
Ruth Justen
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