So wird es zum Beispiel kulturelle Elemente wie Lesungen, Filme, Musik oder Malerei geben. Vereine und Organisatoren aus Rostock und dem Umland werden sich vorstellen, um Familien einen Eindruck ihres Angebots zu geben. Mit dem 1. Inklusionslauf in Mecklenburg-Vorpommern wird ein sportliches Highlight geboten. Für die Wissensvermittlung setzt das Veranstaltungsteam auf Spezialist:innen aus Medizin und Sportwissenschaft. Im Gespräch mit der OT-Redaktion gibt Christian Schenk einen Einblick, was die Besucher:innen erwartet und warum das Thema Inklusion so wichtig ist.
OT: Was bedeutet für Sie persönlich Inklusion?
Christian Schenk: Inklusion bedeutet für mich, Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen zusammenzubringen und Begegnungen auf verschiedenen Ebenen und mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen zu ermöglichen. Diese Energie und die Erkenntnisse, die dabei freigesetzt werden, sind ein großes Glück, an dem ich meine Kinder und die Menschen, die mich umgeben und für die ich arbeite, teilhaben lassen möchte. Inklusion sehe ich als gesamtgesellschaftliche Herausforderung und damit ist klar, dass sich, wenn man sie ernst nimmt, alle Bereiche des Lebens für überraschende Begegnungen öffnen müssen. Ob Wissenschaft, Kunst, Kultur oder Sport – sie alle müssen ihre Türen weiter und ihre Schwellen niedriger stellen, um sich auch miteinander zu vernetzen und gegenseitig befruchten zu können. Inklusion schafft so durch konkrete Angebote neue Verbindungen und Brücken.
OT: Welche Rolle kann Sport bei der Inklusion spielen?
Schenk: Sport kann festgefahrene Strukturen aufbrechen und damit ganz konkret neue Horizonte eröffnen: Es geht um Miteinander, Fairplay, auch darum, die eigene Leistungsfähigkeit kennenzulernen, Grenzen zu verschieben. Für Menschen mit Beeinträchtigungen ist Bewegung noch viel wichtiger als für „normale“ Fußgänger:innen. Dabei spielt auch gesunde Ernährung eine wichtige Rolle. Beide Bereiche sind fester Bestandteil von „All inklusiv“.
Sport ist zudem sehr sensitiv, kommunikativ und strukturiert. Die erste Trainingseinheit, die erste Startnummer, das Vorstartfieber sind prägende Momente für Sportlerinnen und Sportler mit und ohne Beeinträchtigungen. Ich habe viele Eltern weinen sehen, die von der Kraft, von den Fähigkeiten, die ihre Kinder plötzlich im sportlichen Wettkampf freisetzten, völlig überrascht und überwältigt wurden. Was der Sport auslöst, ist auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens möglich. Trotzdem sehe ich den Sport aufgrund seiner Strahlkraft als stärkstes Symbol. Parasport kann zum Leuchtturm für die Inklusion in Deutschland werden.
OT: Sportlicher Erfolg wird im Allgemeinen an Titel, Toren, Rekorden und Medaillen gemessen – wie passt das mit Inklusion zusammen?
Schenk: Meine Erfahrung als Landestrainer der Para-Leichtathletik 2021 in Mecklenburg-Vorpommern ist: Ob sich der Athlet oder die Athletin im olympischen Diskuswerfen von 68 auf 70 Meter verbessert oder der Para-Athlet oder die Para-Athletin von 20 auf 23 Meter – immer ist das Abrufen von Bewegungsmustern unter Wettkampstresssituationen die Maxime. Eine Formel für Erfolg würde ich so formulieren: genetische Voraussetzungen plus vermittelte Fähigkeiten mal Passion plus Glück. Nur braucht es für die Messbarkeit der Para-Athletinnen und ‑Athleten feinere und vielfältigere Instrumente und Regeln. Da sind auch die Wissenschaftler:innen und Orthopäd:innen vermehrt gefragt.
OT: Sie veranstalten Ende August das Festival: „All inklusiv“. Was steckt dahinter?
Schenk: „All inklusiv“ soll Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen ansprechen. In sechs Kultur‑, vier Wissenschafts- und drei Sportbereichen sowie einem Familienbereich können sie sich begegnen, gemeinsam ausprobieren und für ihren künftigen Alltag diverse Angebote zur Selbstausführung erhalten. Die Tonalität entspricht dem Film „Ziemlich beste Freunde“, der mich bei der Idee zum Festival inspiriert hat. Nie zuvor hatte ich die Gewichtung des Themas Inklusion so leicht, positiv und eingänglich dargestellt gesehen. Das Festival ist jung, fröhlich, gibt Anregungen zur Bewegung und Ernährung und setzt die Philosophie der Stadt Rostock als „Kommune inklusiv“ fort. Die 14 Bereiche umfassen neben den Besuchen u. a. von Lesungen, Kinovorstellungen, Symposien und Gesprächsrunden auch kulinarische und sportliche Aktivitäten, die in der Folge von Vereinen weitergeführt werden. Die Universitäten Rostock, Berlin, Wien und Flensburg begleiten und evaluieren die verschiedenen wissenschaftlichen Fachbereiche. Die Veranstaltungen ermöglichen, mit Prominenten und Expert:innen über Inklusion nachzudenken, sich auszutauschen und Lösungen zu finden.
OT: Warum fiel die Wahl auf Rostock?
Schenk: Aus meiner Sicht hat sich meine Heimatstadt in den vergangenen 20 Jahren enorm entwickelt. Ich bin begeistert, wie die Stadt gerade aufblüht und auf Mecklenburg-Vorpommern ausstrahlt. Sie hätte das Zeug, in den kommenden Jahren Inklusions-Vorzeigestadt Deutschlands zu werden. Zum Beispiel hat sich enorm viel in puncto Barrierefreiheit getan. In der Universität, der Hochschule für Musik und Theater, bei den sozialen Dienstleistern, dem Volkstheater, der Kunsthalle, der Industrie- und Handelskammer und Unternehmen wie Aida haben wir bedeutende und wichtige Unterstützer und Wegbegleiter gefunden. Dazu kommt das umfangreiche Know-how vieler engagierter Haupt- und Ehrenamtlicher. Sie alle haben uns ermutigt, „All inklusiv“ professionell aufzustellen. Wir wollen die 25.000 Beeinträchtigten in Rostock in die Mitte der Stadt holen und den über 205.000 Menschen mit Beeinträchtigungen in Mecklenburg-Vorpommern neue Perspektiven eröffnen.
OT: Wie kann man an diesem Festival teilnehmen?
Schenk: Seit dem 15. Juli können Interessierte Tickets über die Website erwerben oder eben direkt am Veranstaltungstag vor Ort kaufen. Das Familienfest auf dem Neuen Markt sowie die Aktivitäten der Straßenbahn AG dienen dem Kennenlernen und sind kostenfrei.
OT: Wie sieht der aktuelle Stand der Planungen aus?
Schenk: Der 5. Mai 2022 – Europäischer Protesttag der Inklusion – war unser offizieller Startschuss. Bis dahin war inhaltlich bereits alles geklärt. Für mich fühlte es sich an wie bei der Qualifikation für eine internationale Großveranstaltung. Um bei Olympia dabei zu sein, muss man sich drei Monate zuvor qualifizieren. Das haben wir mit viel Ausdauer und Akribie über fünf Monate hinweg getan. Jetzt fehlen noch fünf bis zehn Prozent, um am 28. August erfolgreich die Ziellinie zu überqueren. Unser Team ist sehr breit aufgestellt. Jeder bringt seine Expertise ein und die Freude am Aufbau von „All inklusiv“ wächst täglich. Also das Fundament für den Inklusions-Leuchtturm ist gegossen!
OT: Auf welchen Gast freuen Sie sich ganz besonders beim Festival?
Schenk: Bei der Vielfalt – wir haben ja 14 unterschiedliche Bereiche – fällt es mir schwer, nur einen Namen zu nennen. Ich persönlich freue mich sehr auf den Hornisten Felix Klieser, der sein Instrument virtuos mit den Füßen spielt und auf vielen internationalen Konzertbühnen zu hören ist. Glücklich bin ich auch, die Malerin Ambra Durante für „All inklusiv“ gewonnen zu haben. Sie wird mit Dr. Uwe Neumann von der Kunsthalle Rostock über ihr Werk sprechen, in dem sie sich mit ihren Depressionen auseinandersetzt – eine neue Sicht auf Kunst und Inklusion.
OT: Welches Fazit wünschen Sie sich am Ende der drei Tage ziehen zu können?
Schenk: Ich wünsche mir, dass „All inklusiv“ den Impuls geben wird, das Interesse an Inklusion innerhalb Rostocks und darüber hinaus im Land zu verstärken! Inklusion darf kein Lippenbekenntnis bleiben. Nur wenn wir sie im Alltag leben, am Arbeitsplatz, in der Schule, beim Sport oder im Theater, wird die angestrebte Teilhabe vieler Menschen in unserem Bundesland zur erfahrbaren Realität.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
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