Einleitung
Thorakolumbosakrale (TLSO) bzw. lumbosakrale (LSO) Orthesen werden häufig bei adoleszenter idiopathischer Skoliose eingesetzt. Anhand ihrer Erscheinungsformen sind korrigierende TLSO-/LSO-Orthesen wie folgt zu unterscheiden:
- krümmungsmusterspezifische Designs mit drei Varianten
- krümmungsmusterspezifische Designs mit mehr als drei Varianten
- krümmungsmusterspezifische Designs mit weniger als drei Varianten
- Korsette zur Unterstützung eines physiologischen sagittalen Profils
- Korsette zur Verringerung des sagittalen Profils
- ventrale/dorsale Öffnung
- klinische Überkorrektur einzelner Körpersegmente zueinander
Fünf Grundlagen zum sinnvollen Korsettdesign
Das zweckmäßige Design einer modernen Skoliose-Orthese muss den pathologischen Sachverhalten Rechnung tragen. So haben sich unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse und des täglichen Umgangs mit den betroffenen Patienten folgende Korrekturmechanismen als unabdingbar erwiesen:
- Korrektur in der Frontalebene, üblicherweise mit einem Kontrollröntgenbild im voll geschlossenen Korsett mit entsprechenden Markierungen der Druckzonen;
- Verbesserung oder Unterstützung eines physiologischen Sagittalprofiles im Sinne einer harmonischen BWS-Kyphose und LWS-Lordose (Abb. 1);
- Rebalancierung des frontalen Körperlotes (C7–Rima ani); idealerweise sollte hierbei eine lotrechte Ausrichtung der beiden anatomischen Kennpunkte in der Orthese erreicht werden;
- Derotation des „Rippenberges“ bzw. „Lendenberges“ hin zur regelrechten Oberfläche;
- Remodellierung der skoliotischen Körperoberfläche hin zu einer harmonischen und unauffälligen Gesamterscheinung des Patienten.
Unter Berücksichtigung der oben genannten Maßgaben kann nun individuell und patientenspezifisch ein Korsettdesign erstellt werden. Entscheidender Parameter zur Planung der Korsettversorgung ist neben einer WirbelsäulenGanzaufnahme (konventionell/dreidimensional) auch die klinische Erscheinung des Patienten. Die Maßabnahme als erster Arbeitsschritt kann wie folgt differenziert werden:
- klassischer zirkulärer Gipsabdruck in korrigierter/unkorrigierter Situation des skoliotischen Rumpfes;
- Körperscan in nichtkorrigierter Position stehend/liegend mit einem stationären oder mobilen Oberflächenscanner;
- Abnahme von Körpermaßen in anterior – posterior, lateral – lateral und von zirkulären Maßen, gegebenenfalls mit speziellen dynamischen Maßen.
In allen Fällen gehören eine Fotodokumentation in allen vier Ebenen und der Vorneigetest nach Adams zum Standard.
Die Rolle der CAD/CAM-Technik in der Korsett-Therapie
Bereits seit Mitte der 80er Jahre hält die CAD/CAM-Technologie in die Orthopädie- und Rehabilitations-Technik Einzug. Im Laufe der Zeit sind die Lösungen im Bereich der Soft- und Hardware wesentlich einfacher in der Anwendung geworden. Geeignete Scans können inzwischen mit aufgerüsteten Tablet-PCs vorgenommen werden und sind somit einer breiten Masse an Technikern zugänglich. Die Digitalisierung von Körpersegmenten im Sinne eines Oberflächenscans und die Modifizierung mittels CAD-Software sowie die Produktion über eine CAM-gesteuerte Fräse sind die wesentlichen Stationen im Prozess zur Erstellung des Polyurethanschaummodells.
Der Produktionsprozess zur CAD-basierten Anfertigung korrigierender LSO-/TLSO-Orthesen beinhaltet verschiedene Möglichkeiten. Die individuelle Modifikation von Patientenscans zum geeigneten Funktionsmodell kann durch spezifische Reduktionen und Erweiterungen Stück für Stück erreicht werden. Druckzonen und Entlastungs-Orthese. bereiche werden digital am virtuellen Modell erarbeitet. Der digitale Arbeitsprozess unterscheidet sich hierbei in den einzelnen Schritten nicht von der klassischen manuellen Tätigkeit am Gipsmodell. Positiv bei dieser Vorgehensweise sind die genaue Dokumentation der einzelnen Arbeitsschritte und deren Reversibilität. Ungünstige Modifikationen können während und nach der digitalen Bearbeitung gelöscht oder geändert werden. Die einzelnen Bearbeitungsschritte des digitalen Patientenmodells unterliegen jedoch weiterhin stark den individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten des Technikers.
Gleichförmige Pathologien – gleichförmige Hilfsmittel
Im Umgang mit Patienten mit AIS sind regelmäßig gleichartige Erscheinungsformen in deren Morphologie zu erkennen. Gewisse radiologische Krümmungsmuster korrespondieren immer wieder mit den gleichen klinischen Erscheinungen. Rumpfüberhang bzw. Hüftprominenz zur Seite der Primärkrümmung sowie thorakale Krümmungen lassen sich von sagittal sowohl radiologisch als auch klinisch häufig als eher thorakale Rotationslordose diagnostizieren 1. Dieser dreidimensionalen Deformität sollte die Korsettkonstruktion möglichst in allen Anforderungen Rechnung tragen. Ähnlich der Schafteintrittsebene in der Oberschenkelprothetik lassen sich auch im Bereich der Rumpforthetik klar Winkel und Radien definieren, die zu einem wirkungsvollen und sicheren Hilfsmittel führen sollen (Abb. 2). Auch die Relation der einzelnen Korrekturflächen zueinander und entsprechende Expansionsräume sind somit klar zu lokalisieren und zu proportionieren. Unabdingbar für ein adäquates Korsettdesign ist ein ausgewogenes Gleichgewicht aller Drehmomente bei anliegender Orthese (Abb. 3).
Dieses komplexe Zusammenspiel einzelner Bedingungen und Variablen kann mittels spezifisch geformter Basismodelle regelmäßig und gleichbleibend reproduziert werden. Konstruktionen, die definierten Krümmungsmustern zugeordnet sind, werden als sogenanntes Bibliotheksmodell (Abb. 4) hinterlegt. Das Modell kann in mehreren Dimensionen und Proportionen gespeichert werden. Diese Basismodelle werden dann über die Maßeingabe für den einzelnen Patienten im CAD-Programm modifiziert (Abb. 4), jedoch ohne unsachgemäße Modifikation der Urform (Abb. 5).
Besonderes Augenmerk muss hierbei neben der exakten Maßeingabe auch auf anatomische Besonderheiten gelegt werden. So unterscheidet sich bekanntermaßen die männliche von der weiblichen Anatomie gerade im Bereich des Beckens besonders. Mit großer Häufigkeit sind bei Patienten mit AIS signifikante Veränderungen im sagittalen Profil zu erkennen. Der Abflachung der BWS-Kyphose und der LWS-Lordose sollte die Orthese aktiv entgegenwirken. Eine harmonische Schwingung sollte somit im Basismodell eingepflegt sein. Regelmäßig auftretende Probleme in Passform, Korrektur oder Körperstatik können unkompliziert am Basismodell geändert werden und schon bei der nächsten Versorgung behoben sein. Schnittführungen und anatomischer Kantenverlauf können schon hier in das Modell eingepflegt werden und fördern somit den reibungslosen Ablauf im Bereich der Kunststoff-Fertigung. Durch die beschriebenen ständigen Verbesserungen können mittelfristig funktionellere und bequemere Korsette mit einer sehr exakten primären Passform erzeugt werden. Die oft fehlerbehaftete und langwierige individuelle Modifikation von Patientenscans (ähnlich dem Gipsmodell) entfällt. Der Aufbau einer entsprechenden Modellbibliothek bedarf allerdings eines größeren Zeitaufwandes und im weiteren Verlauf kontinuierlicher Aufmerksamkeit.
Der Erfolg dieser Methode besteht vor allem in der genauen Zuordnung des korrekten Basismodells zur entsprechenden Morphologie des individuellen Patienten. In der Praxis der Korsettversorgung bei AIS-Patienten hat sich die Klassifikation von Dr. Manuel Rigo in ihrer Differenzierung als besonders zweckmäßig erwiesen. In seiner Publikation aus dem Jahre 2010 2 wurde erstmals eine klare Empfehlung zum Korsettdesign unter Berücksichtigung des Röntgenbildes, der klinischen Erscheinung sowie der sagittalen Konfiguration des Patienten abgegeben.
Moderne Fertigungstechniken
Als Standardmaterial sind weiterhin die thermoplastischen Kunststoffe PE und PP zu nennen. Wachstumsbedingte Nachpassungen und die leichte Verarbeitung haben sich im Alltag als günstige Eigenschaften dieser Thermoplaste herausgestellt. CFK-Materialien dagegen konnten sich bis dato noch nicht durchsetzen. In jüngster Vergangenheit sind vereinzelt auch Versorgungen durch modernen 3‑D-Druck entstanden (Abb. 6). Diesem Verfahren wird in Zukunft sicherlich erheblich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Günstig erscheint das Zusammenspiel von digital gestützter Planung und Fertigung. Die konventionelle Fertigung des Vakuum-Auflegeverfahrens mittels Thermoplasten entfällt. Allerdings bleibt zu erwähnen, dass hierfür noch keine Auswertungen hinsichtlich der Haltbarkeit vorliegen. Somit gilt es, Alltagstauglichkeit, die Wirtschaftlichkeit des 3‑D-Drucks und die technische Ausstattung der einzelnen Leistungserbringer in Einklang zu bringen.
Gesamtbetrachtung
Neben der Tragedauer der korrigierenden Rumpforthese ist deren primäre Korrekturfunktion als wesentlichstes Merkmal hinsichtlich einer erfolgreichen Orthesentherapie zu betrachten. Hier kann die CAD/CAM-Technologie zur Erstellung funktioneller Skoliose-Korsette große Dienste leisten und ist im Vergleich zur konventionellen Gipstechnik mindestens als gleichwertig anzusehen 3. Deshalb ist deren Gebrauch schon heute in vielen Schwerpunktzentren nicht mehr wegzudenken. Generell können nur noch schwer Gründe für die auf einem Gipsabdruck basierenden Versorgungen von AIS-Patienten eruiert werden. Die individuelle Formung nützlicher Modelle am Bildschirm unterscheidet sich jedoch deutlich vonkonventionellen Technik und verlangt vom Techniker ein starkes Umdenken. Hier sind vor allem die fehlende Haptik und die fehlende „begreifbare“ Dreidimensionalität des Gipsmodells immer noch Kritikpunkte. Andererseits entfällt der bei den überwiegend jungen weiblichen Patienten häufig als unangenehm empfundene Gipsabdruck.
Standardisierte Arbeitsprozesse und klar dokumentierte Modifikationen sind ein weiteres Merkmal moderner und qualitätsbewusster Leistungserbringer. Die digitale Modifikation einzelner Patientenscans kann daher nur den Einstieg in diese Technik darstellen – zu vielfältig und wenig standardisiert ist die Einflussnahme auf das Modelldesign. Gerade die Verwendung von Bibliotheksmodellen scheint noch kontinuierlichere Ergebnisse zu erbringen 3. Durch ständige Verbesserungen können Erfahrungswerte und spezifische Formen einer Vielzahl von Patienten – unabhängig vom individuellen Techniker – zugutekommen. Selbstverständlich ist eine solche Arbeitstechnik nicht als „One size fits all“ misszuverstehen, sondern verlangt vertiefte Kenntnisse über das Krankheitsbild und gute biomechanische Fähigkeiten, um jedem Patienten mit seiner Individualität gerecht zu werden. Der optimal gefertigte Korsettrohling kann hierbei nur als Arbeitsgrundlage für die Versorgung gelten. Der individuelle Beschnitt sowie die optimale Anpassung des Korsetts über Pelotten, Polster oder thermoplastische Modifikationen verlangen weiterhin die gesamte Aufmerksamkeit des Spezialisten und entscheiden mit über den Erfolg der Orthesentherapie bei AIS-Patienten.
Der Autor:
Jan Jurkoweit OTM
Storch und Beller & Co. GmbH
Zinkmattenstr. 8c, 79108 Freiburg
skoliose@storch-beller.de
Jurkoweit J. CAD-basierte Skoliose-Orthesen – Verbesserung des Versorgungsstandards? Orthopädie Technik, 2017; 68 (1): 22–24
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- Upasani VV, Tis J, Bastrom T, Pawelek J, Marks M, Lonner B, Crawford A, Newton PO. Analysis of sagittal alignment in thoracic and thoracolumbar curves in adolescent idiopathic scoliosis: how do these two curve types differ? Spine (Phila Pa 1976), 2007; 32 (12): 1355–1359
- Rigo MD, Villagrasa M, Gallo D. A specific scoliosis classification correlating with brace treatment: description and reliability. Scoliosis, 2010; 5: 1. doi: 10.1186/1748–7161‑5–1. https://scoliosisjournal.biomedcentral.com/articles/10.1186/1748–7161‑5–1 (Zugriff am 26.10.2016)
- Rigo MD, Gallo D, Dallmayer R. In-brace correction of the Cobb angle with RSC-CAD CAM compared with ‘hand made’ from the original author. Scoliosis, 2010; 5 (Suppl 1): O68. doi: 10.1186/1748–7161-5-S1-O68. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2938702/ (Zugriff am 26.10.2016)