Und gehört damit zu einer begehrten Art – der grassierende Fachkräftemangel betrifft schließlich fast alle in der Branche. „100 Prozent“ der bayerischen Betriebe seien auf der Suche nach qualifizierten Mitarbeiter:innen, sagte Michael Graf im September gegenüber der OT-Redaktion. Als Obermeister der Landesinnung Bayern ist er über fehlendes Personal bestens im Bilde. Bei dieser Ausgangslage öffnet der Gesellenbrief fast alle Türen.
Dass der Bedarf an Fachkräften so groß ist, liegt auf der Hand. Laut den jüngsten Zahlen des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT) tragen rund 25 Millionen Menschen in Deutschland orthopädische Hilfsmittel – von der Schuheinlage bis zur Prothese, vom Kompressionsstrumpf bis zur Orthese. Und wo es so viele gibt, die Hilfe brauchen, muss es auch die Helfer:innen geben. Nach Zahlen des Analyseunternehmens Statista zählte Deutschland zum 31. März 2021 immerhin 11.297 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte im Bereich Orthopädie- und Reha-Technik. Zu wenige, wenn man in den Betrieben nachfragt.
Kein Wunder also, dass Birgit Müller keine Probleme hatte, einen Umschulungsbetrieb zu finden. „Am 15. Juni 2019 habe ich in der Fleischerei aufgehört, am 2. September habe ich die Umschulung begonnen.“ Ihr damaliger Betrieb in Weiden hatte schon gute Erfahrungen mit Umschüler:innen gemacht. „Eine Kollegin hat dort vor mir umgesattelt“, erinnert sich Birgit Müller. Viele schätzen zum Beispiel das höhere Lebensalter ihrer Umschüler:innen. Das kann die 38-Jährige nachvollziehen: „Wenn du einen ganz jungen Menschen zu Patienten lässt, haben nicht alle von Anfang an das nötige Einfühlungsvermögen.“ Da sei es von Vorteil, schon eine gewisse Lebenserfahrung mitzubringen. Die Gesellin kann viele Geschichten erzählen, bei denen Kund:innen im Laden in Tränen ausgebrochen sind oder sie Patient:innen im Krankenhaus Mut zusprechen musste. „Da brauchst du Empathie.“
Die Oberpfälzerin hatte ihren alten Beruf aufgeben müssen, weil ihr Rücken nicht mehr mitmachte. Das schwere Heben in der Fleischerei, das Bücken in die Auslage und das stundenlange Stehen machten ihr Probleme. „In der Orthopädie-Technik ist das anders. Da stehst du, sitzt, läufst, kniest mal, da ist viel mehr Bewegung drin.“ Das Interesse für die Branche hatte ihr Lebensgefährte geweckt, und zwar über Einlagen für Arbeitssicherheitsschuhe. Viele Menschen in seiner Firma schätzen diese Hilfsmittel sehr, da wurde Birgit Müller neugierig. Sie setzte sich also erstmals mit der OT in all ihren bunten Facetten auseinander und erkannte schnell, dass sie hier ihre Berufung finden könnte. „Gesundheit ist ein ganz spannendes Thema, da nimmst du viel für dich mit und kannst anderen wirklich helfen.“ Dazu kam, dass der Umschulungsträger – in diesem Fall die Rentenkasse – klare Vorgaben machte, in welchen Bereichen eine Umschulung bezahlt wird: Mangelberufe bevorzugt. Ein erstes Praktikum bei einem Betrieb in Hof in der Abteilung Orthopädie-Schuhtechnik gefiel ihr sehr gut, „aber ich habe mich dann für die Orthopädie-Technik entschieden, weil die nicht an den unteren Extremitäten aufhört, sondern den ganzen Körper umfasst. Außerdem war hier auch der Zugang mit einem Hauptschulabschluss gegeben und die Berufsaussichten waren sicher.“
Bei der Rentenkasse beantragte sie die Umschulung – und bekam zunächst eine Ablehnung. „Ich war wegen meines Rückenleidens zur Reha und die habe ich als gesund beendet. Die Rentenkasse ging also davon aus, dass ich in meinem alten Beruf weiterarbeiten könnte.“ Mit Unterstützung des Sozialverbandes VdK widersprach sie der Entscheidung. Schließlich war davon auszugehen, dass die Probleme wegen der gleichbleibenden Belastung wieder und wieder auftreten würden. Und sie setzte sich erfolgreich durch.
Dass sie ihre Ausbildung dann in Weiden statt in Hof absolvierte, lag an der Distanz zum Wohnort. „Da war die Fahrt zum Arbeitsplatz einfach kürzer, außerdem hat der Betrieb auf seiner Homepage ganz klar aufgelistet, was man in der Ausbildung und danach verdient.“ Beruflich nochmal von vorne anzufangen bedeutet eben, sich mit finanziellen Einschränkungen arrangieren zu können. Gut, wenn man also weiß, woran man ist.
Wer sich der anspruchsvollen Ausbildung als Um-schüler:in stellt, hat viel nachzuholen. Umschüler:innen dürfen in der Regel nur zwei der eigentlich drei vorgesehenen Ausbildungsjahre mitmachen. Birgit Müller stieg direkt ins zweite Ausbildungsjahr ein, den Stoff aus dem ersten musste sie sich selbstständig von Kolleg:innen besorgen. Seitdem der bis heute gültige „Rahmenlehrplan Orthopädietechnik-Mechaniker und Orthopädietechnik-Mechanikerin“ 2015 in Kraft getreten ist, gliedern sich die Inhalte der Berufsschule in elf Lernfelder auf. So kommen 840 Unterrichtsstunden an einer der 13 Berufsschulen zusammen. Für Birgit Müller bedeutete das ein regelmäßiges Reisen nach München und 280 Unterrichtsstunden im Selbststudium nachzuholen – in den Bereichen Beruf und Betrieb präsentieren, orthopädische Fußeinlagen herstellen und anpassen, Rehabilitationsmittel montieren und konfektionierte Hilfsmittel der unteren Extremität anpassen. Gar nicht so leicht, wenn man schon länger nicht mehr die Schulbank gedrückt hat.
Zwei Jahre sind zu kurz
„Ich finde, dass in diesem komplexen und verantwortungsvollen Beruf zwei Jahre absolut zu kurz sind“, lautet Birgit Müllers Fazit. Dazu komme, dass die Inhalte an der Schule häufig recht universitär daherkamen, „obwohl in meiner Klasse etwa 90 Prozent einen Mittelschulabschluss hatten“. Birgit Müller zweifelt, ob die theoretische Tiefe der Unterrichtsinhalte immer notwendig ist. „Mir wäre es lieber gewesen, wenn wir mehr handwerkliche Beispiele durchgegangen wären und mehr Praxisunterricht gehabt hätten. Der kam zu kurz und da war die Betreuung auch nicht immer gut.“ Die Lehrkräfte hätten oft so viel zu tun, dass sie für die Klasse nicht ansprechbar seien.
Dafür sei die betriebliche Ausbildung sehr gut gewesen. „Ich habe wirklich alles mitmachen dürfen, ob Prothesen bauen, Ladendienst oder Mieder nähen.“ Der Einblick in alle Facetten des Berufs sei großartig gewesen, „da habe ich echt sehr viel gelernt. Wir haben auch noch Ganzbeinapparate aus Metall und Leder gewartet, Orthoprothesen gebaut und so vieles mehr.“ Gefehlt habe ihr in der Ausbildung eigentlich nur eines: „Ich hätte gerne mal ein Projekt vom ersten Kontakt mit dem Kunden bis zum Schluss mitbetreut, aber durch die Blockschule war das nicht möglich.“ Einen „Werkstattschock“ habe sie nicht erlitten, sagt sie schmunzelnd, auch wenn es hinter den Kulissen der OT ganz anders zugehe als in der Fleischerei. „Aber die vielen neuen Gefahrstoffe haben mich schon beschäftigt, die Schulungen und Unterweisungen dafür sind in meinen Augen ganz wichtig.“ Der Umgang mit Aceton und Co. habe ihr anfangs Angst gemacht – inzwischen ist diese einem gesunden Respekt gewichen.
Wenn Birgit Müller heute noch einmal entscheiden müsste, ob sie in die Orthopädie-Technik wechselt – sie würde ja sagen. „Ich würde jungen Leuten, die eine Ausbildung suchen, den Beruf auch empfehlen. Ganz klar. Ich würde ihnen sagen: Komm mit, bei uns in der Werkstatt ist es cool. Es ist super abwechslungsreich, du kommst auch mal raus, dir wird nie langweilig. Und du nimmst viel für dich selbst mit, ob handwerklich oder theoretisch. Viele Sachen aus der Pathologie, der Anatomie, der Mechanik helfen dir auch im Alltag mal. Dazu kommt, dass du neben dem Handwerk auch den Verkauf und den Kontakt mit Menschen hast. Das alles macht richtig Spaß.“
Birgit Müller arbeitet inzwischen in Marktredwitz. Die Anfahrt zum neuen Arbeitgeber ist kürzer und angesichts galoppierender Benzinpreise blieb ihr wenig Spielraum. „Das ist das einzig Schlechte an diesem Beruf: Er ist komplex, anspruchsvoll und bringt extrem viel Verantwortung mit sich – und wird trotzdem eher mäßig entlohnt.“ Dass das viele von einer Ausbildung abhalten könnte, sei denkbar. „Ganz ehrlich, woanders bekommt man fürs Regaleeinräumen schon 14 Euro die Stunde.“ Wie viele ihrer Kolleg:innen in der Branche hofft auch Birgit Müller auf ein Einsehen der Krankenkassen, die Auszahlungsbeträge für die gesamte Hilfsmittelpalette zu erhöhen. „Geld ist natürlich nicht alles. Die Arbeit muss Spaß machen, und vor allem muss man sich unter den Kollegen wohlfühlen können. Das ist ganz wichtig.“ Für Birgit Müller passt das alles jetzt. Und deshalb ist für sie ganz klar: Sie möchte gerne Orthopädietechnikerin bleiben – und am besten von ihrer Berufung auch gut leben können.
Tamara Pohl
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