Als Quer­ein­stei­ge­rin zur Berufung

„Die Vielfalt ist super.“ Wenn man Birgit Müller fragt, was sie an ihrem Beruf begeistert, ist die Antwort klar. Dabei ist die 38-jährige Orthopädietechnikerin aus der nördlichen Oberpfalz eine Spätberufene. „Ich habe vorher beruflich etwas ganz anderes gemacht“, erzählt die quirlige Frau. Die einst gelernte Fleischereifachverkäuferin hat von 2019 bis 2021 eine Umschulung absolviert.

Und gehört damit zu einer begehr­ten Art – der gras­sie­ren­de Fach­kräf­te­man­gel betrifft schließ­lich fast alle in der Bran­che. „100 Pro­zent“ der baye­ri­schen Betrie­be sei­en auf der Suche nach qua­li­fi­zier­ten Mitarbeiter:innen, sag­te Micha­el Graf im Sep­tem­ber gegen­über der OT-Redak­ti­on. Als Ober­meis­ter der Lan­des­in­nung Bay­ern ist er über feh­len­des Per­so­nal bes­tens im Bil­de. Bei die­ser Aus­gangs­la­ge öff­net der Gesel­len­brief fast alle Türen.

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Dass der Bedarf an Fach­kräf­ten so groß ist, liegt auf der Hand. Laut den jüngs­ten Zah­len des Bun­des­in­nungs­ver­ban­des für Ortho­pä­die-Tech­nik (BIV-OT) tra­gen rund 25 Mil­lio­nen Men­schen in Deutsch­land ortho­pä­di­sche Hilfs­mit­tel – von der Schuh­ein­la­ge bis zur Pro­the­se, vom Kom­pres­si­ons­strumpf bis zur Orthe­se. Und wo es so vie­le gibt, die Hil­fe brau­chen, muss es auch die Helfer:innen geben. Nach Zah­len des Ana­ly­se­un­ter­neh­mens Sta­tis­ta zähl­te Deutsch­land zum 31. März 2021 immer­hin 11.297 sozi­al­ver­si­che­rungs­pflich­ti­ge Beschäf­tig­te im Bereich Ortho­pä­die- und Reha-Tech­nik. Zu weni­ge, wenn man in den Betrie­ben nachfragt.

Kein Wun­der also, dass Bir­git Mül­ler kei­ne Pro­ble­me hat­te, einen Umschu­lungs­be­trieb zu fin­den. „Am  15. Juni 2019 habe ich in der Flei­sche­rei auf­ge­hört, am 2. Sep­tem­ber habe ich die Umschu­lung begon­nen.“ Ihr dama­li­ger Betrieb in Wei­den hat­te schon gute Erfah­run­gen mit Umschüler:innen gemacht. „Eine Kol­le­gin hat dort vor mir umge­sat­telt“, erin­nert sich Bir­git Mül­ler. Vie­le schät­zen zum Bei­spiel das höhe­re Lebens­al­ter ihrer Umschüler:innen. Das kann die 38-Jäh­ri­ge nach­voll­zie­hen: „Wenn du einen ganz jun­gen Men­schen zu Pati­en­ten lässt, haben nicht alle von Anfang an das nöti­ge Ein­füh­lungs­ver­mö­gen.“ Da sei es von Vor­teil, schon eine gewis­se Lebens­er­fah­rung mit­zu­brin­gen. Die Gesel­lin kann vie­le Geschich­ten erzäh­len, bei denen Kund:innen im Laden in Trä­nen aus­ge­bro­chen sind oder sie Patient:innen im Kran­ken­haus Mut zuspre­chen muss­te. „Da brauchst du Empathie.“

Die Ober­pfäl­ze­rin hat­te ihren alten Beruf auf­ge­ben müs­sen, weil ihr Rücken nicht mehr mit­mach­te. Das schwe­re Heben in der Flei­sche­rei, das Bücken in die Aus­la­ge und das stun­den­lan­ge Ste­hen mach­ten ihr Pro­ble­me. „In der Ortho­pä­die-Tech­nik ist das anders. Da stehst du, sitzt, läufst, kniest mal, da ist viel mehr Bewe­gung drin.“ Das Inter­es­se für die Bran­che hat­te ihr Lebens­ge­fähr­te geweckt, und zwar über Ein­la­gen für Arbeits­si­cher­heits­schu­he. Vie­le Men­schen in sei­ner Fir­ma schät­zen die­se Hilfs­mit­tel sehr, da wur­de Bir­git Mül­ler neu­gie­rig. Sie setz­te sich also erst­mals mit der OT in all ihren bun­ten Facet­ten aus­ein­an­der und erkann­te schnell, dass sie hier ihre Beru­fung fin­den könn­te. „Gesund­heit ist ein ganz span­nen­des The­ma, da nimmst du viel für dich mit und kannst ande­ren wirk­lich hel­fen.“ Dazu kam, dass der Umschu­lungs­trä­ger – in die­sem Fall die Ren­ten­kas­se – kla­re Vor­ga­ben mach­te, in wel­chen Berei­chen eine Umschu­lung bezahlt wird: Man­gel­be­ru­fe bevor­zugt. Ein ers­tes Prak­ti­kum bei einem Betrieb in Hof in der Abtei­lung Ortho­pä­die-Schuh­tech­nik gefiel ihr sehr gut, „aber ich habe mich dann für die Ortho­pä­die-Tech­nik ent­schie­den, weil die nicht an den unte­ren Extre­mi­tä­ten auf­hört, son­dern den gan­zen Kör­per umfasst. Außer­dem war hier auch der Zugang mit einem Haupt­schul­ab­schluss gege­ben und die Berufs­aus­sich­ten waren sicher.“

Bei der Ren­ten­kas­se bean­trag­te sie die Umschu­lung – und bekam zunächst eine Ableh­nung. „Ich war wegen mei­nes Rücken­lei­dens zur Reha und die habe ich als gesund been­det. Die Ren­ten­kas­se ging also davon aus, dass ich in mei­nem alten Beruf wei­ter­ar­bei­ten könn­te.“ Mit Unter­stüt­zung des Sozi­al­ver­ban­des VdK wider­sprach sie der Ent­schei­dung. Schließ­lich war davon aus­zu­ge­hen, dass die Pro­ble­me wegen der gleich­blei­ben­den Belas­tung wie­der und wie­der auf­tre­ten wür­den. Und sie setz­te sich erfolg­reich durch.

Dass sie ihre Aus­bil­dung dann in Wei­den statt in Hof absol­vier­te, lag an der Distanz zum Wohn­ort. „Da war die Fahrt zum Arbeits­platz ein­fach kür­zer, außer­dem hat der Betrieb auf sei­ner Home­page ganz klar auf­ge­lis­tet, was man in der Aus­bil­dung und danach ver­dient.“ Beruf­lich noch­mal von vor­ne anzu­fan­gen bedeu­tet eben, sich mit finan­zi­el­len Ein­schrän­kun­gen arran­gie­ren zu kön­nen. Gut, wenn man also weiß, wor­an man ist.

Wer sich der anspruchs­vol­len Aus­bil­dung als Um-schüler:in stellt, hat viel nach­zu­ho­len. Umschüler:innen dür­fen in der Regel nur zwei der eigent­lich drei vor­ge­se­he­nen Aus­bil­dungs­jah­re mit­ma­chen. Bir­git Mül­ler stieg direkt ins zwei­te Aus­bil­dungs­jahr ein, den Stoff aus dem ers­ten muss­te sie sich selbst­stän­dig von Kolleg:innen besor­gen. Seit­dem der bis heu­te gül­ti­ge „Rah­men­lehr­plan Ortho­pä­die­tech­nik-Mecha­ni­ker und Ortho­pä­die­tech­nik-Mecha­ni­ke­rin“ 2015 in Kraft getre­ten ist, glie­dern sich die Inhal­te der Berufs­schu­le in elf Lern­fel­der auf. So kom­men 840 Unter­richts­stun­den an einer der 13 Berufs­schu­len zusam­men. Für Bir­git Mül­ler bedeu­te­te das ein regel­mä­ßi­ges Rei­sen nach Mün­chen und 280 Unter­richts­stun­den im Selbst­stu­di­um nach­zu­ho­len – in den Berei­chen Beruf und Betrieb prä­sen­tie­ren, ortho­pä­di­sche Fuß­ein­la­gen her­stel­len und anpas­sen, Reha­bi­li­ta­ti­ons­mit­tel mon­tie­ren und kon­fek­tio­nier­te Hilfs­mit­tel der unte­ren Extre­mi­tät anpas­sen. Gar nicht so leicht, wenn man schon län­ger nicht mehr die Schul­bank gedrückt hat.

Zwei Jah­re sind zu kurz

„Ich fin­de, dass in die­sem kom­ple­xen und ver­ant­wor­tungs­vol­len Beruf zwei Jah­re abso­lut zu kurz sind“, lau­tet Bir­git Mül­lers Fazit. Dazu kom­me, dass die Inhal­te an der Schu­le häu­fig recht uni­ver­si­tär daher­ka­men, „obwohl in mei­ner Klas­se etwa 90 Pro­zent einen Mit­tel­schul­ab­schluss hat­ten“. Bir­git Mül­ler zwei­felt, ob die theo­re­ti­sche Tie­fe der Unter­richts­in­hal­te immer not­wen­dig ist. „Mir wäre es lie­ber gewe­sen, wenn wir mehr hand­werk­li­che Bei­spie­le durch­ge­gan­gen wären und mehr Pra­xis­un­ter­richt gehabt hät­ten. Der kam zu kurz und da war die Betreu­ung auch nicht immer gut.“ Die Lehr­kräf­te hät­ten oft so viel zu tun, dass sie für die Klas­se nicht ansprech­bar seien.

Dafür sei die betrieb­li­che Aus­bil­dung sehr gut gewe­sen. „Ich habe wirk­lich alles mit­ma­chen dür­fen, ob Pro­the­sen bau­en, Laden­dienst oder Mie­der nähen.“ Der Ein­blick in alle Facet­ten des Berufs sei groß­ar­tig gewe­sen, „da habe ich echt sehr viel gelernt. Wir haben auch noch Ganz­bein­ap­pa­ra­te aus Metall und Leder gewar­tet, Orthop­ro­the­sen gebaut und so vie­les mehr.“ Gefehlt habe ihr in der Aus­bil­dung eigent­lich nur eines: „Ich hät­te ger­ne mal ein Pro­jekt vom ers­ten Kon­takt mit dem Kun­den bis zum Schluss mit­be­treut, aber durch die Block­schu­le war das nicht mög­lich.“ Einen „Werk­statt­schock“ habe sie nicht erlit­ten, sagt sie schmun­zelnd, auch wenn es hin­ter den Kulis­sen der OT ganz anders zuge­he als in der Flei­sche­rei. „Aber die vie­len neu­en Gefahr­stof­fe haben mich schon beschäf­tigt, die Schu­lun­gen und Unter­wei­sun­gen dafür sind in mei­nen Augen ganz wich­tig.“ Der Umgang mit Ace­ton und Co. habe ihr anfangs Angst gemacht – inzwi­schen ist die­se einem gesun­den Respekt gewichen.

Wenn Bir­git Mül­ler heu­te noch ein­mal ent­schei­den müss­te, ob sie in die Ortho­pä­die-Tech­nik wech­selt – sie wür­de ja sagen. „Ich wür­de jun­gen Leu­ten, die eine Aus­bil­dung suchen, den Beruf auch emp­feh­len. Ganz klar. Ich wür­de ihnen sagen: Komm mit, bei uns in der Werk­statt ist es cool. Es ist super abwechs­lungs­reich, du kommst auch mal raus, dir wird nie lang­wei­lig. Und du nimmst viel für dich selbst mit, ob hand­werk­lich oder theo­re­tisch. Vie­le Sachen aus der Patho­lo­gie, der Ana­to­mie, der Mecha­nik hel­fen dir auch im All­tag mal. Dazu kommt, dass du neben dem Hand­werk auch den Ver­kauf und den Kon­takt mit Men­schen hast. Das alles macht rich­tig Spaß.“

Bir­git Mül­ler arbei­tet inzwi­schen in Markt­red­witz. Die Anfahrt zum neu­en Arbeit­ge­ber ist kür­zer und ange­sichts galop­pie­ren­der Ben­zin­prei­se blieb ihr wenig Spiel­raum. „Das ist das ein­zig Schlech­te an die­sem Beruf: Er ist kom­plex, anspruchs­voll und bringt extrem viel Ver­ant­wor­tung mit sich – und wird trotz­dem eher mäßig ent­lohnt.“ Dass das vie­le von einer Aus­bil­dung abhal­ten könn­te, sei denk­bar. „Ganz ehr­lich, woan­ders bekommt man fürs Rega­le­ein­räu­men schon 14 Euro die Stun­de.“ Wie vie­le ihrer Kolleg:innen in der Bran­che hofft auch Bir­git Mül­ler auf ein Ein­se­hen der Kran­ken­kas­sen, die Aus­zah­lungs­be­trä­ge für die gesam­te Hilfs­mit­tel­pa­let­te zu erhö­hen. „Geld ist natür­lich nicht alles. Die Arbeit muss Spaß machen, und vor allem muss man sich unter den Kol­le­gen wohl­füh­len kön­nen. Das ist ganz wich­tig.“ Für Bir­git Mül­ler passt das alles jetzt. Und des­halb ist für sie ganz klar: Sie möch­te ger­ne Ortho­pä­die­tech­ni­ke­rin blei­ben – und am bes­ten von ihrer Beru­fung auch gut leben können.

Tama­ra Pohl

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