Bio­me­cha­nik von Belas­tung und Anpas­sung im Sport

J.-P. Goldmann, U. Kersting
Das allgemeine Verständnis von der funktionellen Anpassungsfähigkeit des Muskel-Skelett-Systems an Aktivität und Belastung hilft bei der Planung und Gestaltung von Training in Sport und Rehabilitation.

Die Aus­lö­sung von Anpas­sungs­pro­zes­sen ist dabei maß­geb­lich von der Cha­rak­te­ris­tik des mecha­ni­schen Rei­zes abhän­gig. Je nach Grö­ßen­ord­nung, Ein­wirk­dau­er, Fre­quenz und Rate des Last­ein­trags erhö­hen oder redu­zie­ren nicht nur Mus­keln, son­dern auch Seh­nen, Bän­der, Kno­chen und Knor­pel ihre Gewe­be­qua­li­tät. Die zeit­li­chen Abläu­fe von Anpas­sungs­pro­zes­sen bei Akti­vi­tät und Inak­ti­vi­tät sind dabei beson­ders zu berücksichtigen.

Anzei­ge

Ein­lei­tung

Das Mus­kel-Ske­lett-Sys­tem des mensch­li­chen Kör­pers weist ein hohes Poten­zi­al an Belas­tungs­ver­träg­lich­keit und Anpas­sungs­fä­hig­keit auf. Seit sich der Mensch vor ca. drei Mil­lio­nen Jah­ren auf­rich­te­te, um die bipe­da­le Loko­mo­ti­on zu erler­nen, ver­än­der­te sich durch die Belas­tungs­um­ver­tei­lung 1 die Mor­pho­lo­gie sei­nes Kör­pers maß­geb­lich 2 3. Die Belas­tun­gen, die der Mensch wäh­rend der auf­rech­ten Fort­be­we­gung erfährt, sind hin­rei­chend beschrie­ben z. B.4 5. Wäh­rend sich ste­hend das ein­fa­che Kör­per­ge­wicht auf den Kör­per aus­wirkt, erhöht sich die Last wäh­rend des Gehens auf das 1,3‑Fache des Kör­per­ge­wichts 6, bei zuneh­men­der Geschwin­dig­keit auf das Zwei- bis Vier­fa­che 7. In sport­mo­to­ri­schen Extrem­si­tua­tio­nen wer­den sogar kurz­zei­ti­ge Belas­tun­gen des sie­ben- bis acht­fa­chen Kör­per­ge­wichts am Kör­per­schwer­punkt erreicht 8.

Dabei ist zu berück­sich­ti­gen, dass die ermit­tel­ten Belas­tun­gen über Kraft­sen­so­ren in Boden oder Equip­ment zwar abge­schätzt wer­den kön­nen, die inter­ne Bean­spru­chung der Gewe­be aber dadurch unter­schätzt wird. Denn die exter­nen Reak­ti­ons­kräf­te wei­chen von den inter­nen Mus­kel­kräf­ten stark ab, da die exter­nen Hebel­ar­me die inter­nen häu­fig um ein Viel­fa­ches über­stei­gen. Bei ein­bei­ni­gem Zehen­stand bei­spiels­wei­se kön­nen zwar Boden­re­ak­ti­ons­kräf­te von 700  N auf­tre­ten, die Plant­ar­flex­o­ren des Sprung­ge­lenks müs­sen aller­dings auf­grund der ungüns­ti­gen Hebel­ver­hält­nis­se Kräf­te von ca. 2.000 N erzeu­gen. Inner­halb des Hüft­ge­lenks kön­nen dadurch – bedingt durch Mus­kel­kräf­te und Hebel­ver­hält­nis­se – wäh­rend des lang­sa­men Lau­fens Belas­tun­gen des fünf­fa­chen Kör­per­ge­wichts ent­ste­hen 9. Dies lässt eine prä­zi­se Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen der Mecha­nik des Kör­per­schwer­punkts und der Mecha­nik auf Gelen­kebe­ne not­wen­dig erschei­nen. Betrach­tet man die Dreh­mo­men­te an einem Gelenk als Belas­tungs­in­di­ka­tor, so wei­sen die exter­nen Fle­xi­ons­mo­men­te an den Gelen­ken der unte­ren Extre­mi­tät in der schnel­len Fort­be­we­gung (6–9 ms‑1) Grö­ßen­ord­nun­gen von 100 bis 600 Nm auf 10 11 12 13 14 15 16. In der Fron­tal­ebe­ne des Lau­fens, Sprin­tens und bei Rich­tungs­wech­seln ent­ste­hen am Knie­ge­lenk Adduk­ti­ons­mo­men­te von 75 bis 130 Nm 17 18 19. In extre­men Belas­tungs­si­tua­tio­nen, wie sie bei­spiels­wei­se bei Eli­te-Hoch­sprin­gern wäh­rend des Absprungs auf­tre­ten, konn­ten sogar bis zu 800 Nm iden­ti­fi­ziert wer­den. Dabei ist von Kom­pres­si­ons­kräf­ten im media­len Kom­par­ti­ment des Knie­ge­lenks von 18 kN aus­zu­ge­hen. Bei einer Gelenk­flä­che von ca. 6 cm² ent­sprä­che dies einer Druck­span­nung von ca. 30 MPa 20, wonach der tole­rier­ba­re Grenz­be­reich der Belas­tung am Knor­pel deut­lich über­schrit­ten wäre (Tab. 1). Aller­dings kann in der Absprung­pha­se des Hoch­sprungs nicht von einer rei­nen Druck­span­nung aus­ge­gan­gen wer­den, son­dern viel­mehr von einer Kom­bi­na­ti­on aus Druck‑, Zug- und Scherspannung.

Aus wis­sen­schaft­li­cher Sicht bestehen kei­ne Zwei­fel, dass sich nicht nur Mus­keln, son­dern auch Seh­nen, Bän­der, Kno­chen und Knor­pel an die­se Belas­tun­gen anpas­sen kön­nen: Bei Stei­ge­rung des Akti­vi­täts­ni­veaus und der Belas­tung über Mona­te bis Jah­re wer­den die Struk­tu­ren grö­ßer, stei­fer und dadurch wider­stands­fä­hi­ger; bei Reduk­ti­on des Akti­vi­täts­ni­veaus und bei Ent­las­tung bil­den sie sich inner­halb von weni­gen Tagen bis Wochen um bis zu 30 % zurück. Heu­te ist bekannt, dass der Aus­lö­sung bio­po­si­ti­ver Anpas­sungs­pro­zes­se ein detail­lier­ter mecha­ni­scher Reiz zugrun­de liegt, der pri­mär über die Kraft und sekun­där über die Span­nung und die Deh­nung defi­niert ist. Dabei sind nicht nur die Grö­ßen­ord­nung, die Rich­tung, die Kon­takt­flä­che und die Loka­li­sa­ti­on ent­schei­dend, son­dern auch die zeit­li­che Cha­rak­te­ris­tik, bestimmt durch Dau­er, Fre­quenz und Rate des Lasteintrags.

Mus­keln

Der Ske­lett­mus­kel ist hoch­ad­ap­tiv: Sowohl Aus­dau­er- als auch Kraft­trai­ning haben umfas­sen­de und voll­kom­men unter­schied­li­che Effek­te auf das Mus­kel­ge­we­be. An die­ser Stel­le wird nur in Kür­ze auf die grund­le­gen­de Kraft­fä­hig­keit und die funk­tio­nel­le Anpas­sungs­fä­hig­keit an Belas­tung des Mus­kels eingegangen.

Die maxi­ma­le Kraft eines Mus­kels inner­halb eines Indi­vi­du­ums ist abhän­gig von der Kraft-Län­gen-Rela­ti­on 21, der Kraft-Geschwin­dig­keits-Rela­ti­on 22 und der Akti­vie­rung des Mus­kels  23. Da die meis­ten Mus­keln mit ihren Seh­nen an einem Gelenk­mit­tel­punkt vor­bei­zie­hen, erzeu­gen sie Dreh­mo­men­te an einem Gelenk. Je nach Trai­nings­zu­stand, Alter, Geschlecht, Mus­kel­län­ge und unter Ver­nach­läs­si­gung der Kon­trak­ti­ons­ge­schwin­dig­keit (iso­me­tri­sche Kon­trak­tio­nen) kön­nen die Hüft­stre­cker im Dyna­mo­me­ter maxi­ma­le Dreh­mo­men­te von 110 bis 250 Nm, die Knie­stre­cker von 200 bis 300 Nm und die Fuß­stre­cker von 110 bis 275 Nm pro­du­zie­ren 24 25 26 27. Hoch­trai­nier­te Bob-Anschie­ber sind in der Lage, an Knie- und Sprung­ge­len­ken bis zu 450 Nm zu erzeu­gen. An den Zehen­grund­ge­len­ken kön­nen maxi­ma­le Dreh­mo­men­te von 6 bis 24 Nm auf­ge­bracht wer­den 28 29.

Bereits nach weni­gen Trai­nings­ein­hei­ten fin­den in der neu­ro­na­len Ansteue­rung von Mus­keln ers­te Anpas­sungs­pro­zes­se statt: Ner­ven­fa­sern bil­den sich aus, Syn­ap­sen ver­än­dern die Kom­mu­ni­ka­ti­on unter­ein­an­der und inner­vie­ren nicht nur inner­halb eines Mus­kels, son­dern auch in benach­bar­ten Mus­keln die Mus­kel­fa­sern (inter- und intra­mus­ku­lä­re Koor­di­na­ti­on), was zu einer Stei­ge­rung der Maxi­mal­kraft führt. Nach sechs bis acht Wochen kön­nen je nach Aus­gangs­ni­veau und Gestal­tung des Trai­nings­rei­zes Zunah­men des Mus­kel­vo­lu­mens von 5 bis 8 % beob­ach­tet wer­den, wodurch der Mus­kel wider­stands­fä­hi­ger wird. Bis zur 14. Woche sind bei gro­ßen, anti­gra­vi­ta­to­risch wir­ken­den Mus­kel­grup­pen Zuwäch­se in der iso­me­tri­schen Maxi­mal­kraft von 16 % bei gleich­zei­ti­ger Ver­grö­ße­rung des Volu­mens um 10 % mög­lich 30. Klei­ne Mus­kel­grup­pen wie bei­spiels­wei­se die Zehen­beu­ger zei­gen sogar eine Zunah­me der Maxi­mal­kraft durch sys­te­ma­ti­sches Trai­ning von bis zu 70 % 31. Für das Trai­ning der Zehen­beu­ger kön­nen spe­zi­el­le Gerä­te ein­ge­setzt wer­den, die durch Aus­tausch der Gum­mi­sei­le eine Regu­lie­rung des Trai­nings­wi­der­stands ermög­li­chen (Abb.  1). Dabei soll­ten über acht Wochen in drei Trai­nings­ein­hei­ten pro Woche sechs bis zehn ermü­den­de Kon­trak­tio­nen in fünf Seri­en durch­ge­führt wer­den (90 Sekun­den Pau­se zwi­schen den Serien).

Aber nicht nur in Kraft­trai­nings­ge­rä­ten, son­dern auch durch mini­ma­lis­ti­sches Schuh­ma­te­ri­al kann die Kraft­fä­hig­keit der Mus­keln um bis zu 20 % – bei Ver­grö­ße­rung der ana­to­mi­schen Quer­schnitts­flä­che von 4 bis 6  % – gestei­gert wer­den 32 33. Dabei füh­ren unter­schied­li­che Trai­nings­in­ten­si­tä­ten zu ähn­li­chen Reiz­re­ak­tio­nen (Tab. 2). Wich­tig dabei sind ins­be­son­de­re Last­ein­trä­ge über den Vor­fuß (z. B. Lauf-ABC, Sprün­ge und Lan­dun­gen, Rich­tungs­wech­sel, Trep­pen­läu­fe, Berg­auf­läu­fe) bei gleich­zei­ti­ger Dor­sal­fle­xi­on der Zehen­grund­ge­len­ke auf ver­schie­de­nen Unter­grün­den (Tar­tan, Gras, Sand).

Seh­nen

In der Fort­be­we­gung kön­nen Seh­nen, ins­be­son­de­re die Achil­les­seh­ne, das Acht­fa­che des Kör­per­ge­wichts tole­rie­ren; in sport­mo­to­ri­schen Extrem­si­tua­tio­nen kann sogar vom Zehn- bis Zwölf­fa­chen aus­ge­gan­gen wer­den. Das ent­spricht Kräf­ten in der Seh­ne von 8 bis 10 kN 34 35. Die­sen Last­ein­trä­gen pas­sen sich Seh­nen an, benö­ti­gen dafür aller­dings deut­lich mehr Zeit als Mus­keln. In wis­sen­schaft­li­chen Stu­di­en konn­ten über hohe Last­ein­trä­ge (90 % Maxi­mal­kraft, vier Wie­der­ho­lun­gen, fünf Seri­en und drei bis vier Trai­nings­ein­hei­ten pro Woche) und eine damit pro­vo­zier­te repe­ti­ti­ve Deh­nung der Seh­ne um 4,5 %, eine Ver­grö­ße­rung der Quer­schnitts­flä­che und eine Erhö­hung der Stei­fig­keit der Seh­nen­a­po­n­eu­ro­se nach 14-wöchi­gem Trai­ning beob­ach­tet wer­den 36 37. Auch die freie Seh­ne zeig­te bei Lang­stre­cken­läu­fern eine um 22 % ver­grö­ßer­te Quer­schnitts­flä­che ver­gli­chen mit einer nicht­lau­fen­den Kon­troll­grup­pe 38. Die Seh­ne kann durch die­se Anpas­sungs­er­schei­nun­gen mehr Ener­gie auf­neh­men und schützt sich dadurch vor Ver­let­zung durch Über­deh­nung (> 9 %). Der Aus­lö­ser für die Seh­nen­an­pas­sung ist dabei von einer prä­zi­sen Gestal­tung des mecha­ni­schen Rei­zes abhän­gig. Eine hohe Deh­nungs­am­pli­tu­de, eine mode­ra­te Deh­nungs­dau­er und ein repe­ti­ti­ver Last­ein­trag schei­nen essen­ti­el­le Trig­ger für Anpas­sungs­pro­zes­se dar­zu­stel­len 39. Ein Zusam­men­hang zwi­schen der Ver­än­de­rung der Seh­nen­ei­gen­schaf­ten und der Opti­mie­rung der sport­mo­to­ri­schen Leis­tung konn­te in einer Inter­ven­ti­ons­stu­die beschrie­ben wer­den: Eine sys­te­ma­ti­sche Erhö­hung der Seh­nen­stei­fig­keit um 15 % führ­te zu einer Ver­bes­se­rung der Lauf­öko­no­mie um 3 bis 5 % 40. Für die Anwen­dung die­ser Ergeb­nis­se scheint die Erkennt­nis ele­men­tar zu sein, dass sich Seh­nen deut­lich lang­sa­mer (8 Wochen vs. 14 Wochen) anpas­sen als Mus­keln. Ins­be­son­de­re im Nach­wuchs­sport, in dem deut­li­che Rei­fungs­pro­zes­se der Ath­le­tin­nen und Ath­le­ten statt­fin­den, die mit einem zügi­gen Mus­kel­wachs­tum ein­her­ge­hen 41, ist die­se Ver­zö­ge­rung von beson­de­rer Bedeu­tung. Mer­s­mann et al. (2014) unter­such­ten die Knie­stre­cker und die Patel­la­seh­ne von Nach­wuchsund ehe­ma­li­gen Eli­te-Vol­ley­bal­lern auf ihre mecha­ni­schen Eigen­schaf­ten und stell­ten fest, dass es zwar kei­nen signi­fi­kan­ten alters­be­rei­nig­ten Unter­schied in den Kraft­fä­hig­kei­ten der Knie­stre­cker gab, dass aller­dings die Quer­schnitts­flä­chen der Patel­la­seh­nen bei den Nach­wuchs­spie­lern deut­lich klei­ner aus­fie­len als die der ehe­ma­li­gen Eli­te-Spie­ler. Dadurch war die Bean­spru­chung der Seh­ne um 20 % erhöht 42. Dies lässt rück­schlie­ßen, dass vor allem im Nach­wuchs­sport der Schutz der Seh­ne vor Über­las­tung beson­de­res Augen­merk ver­die­nen sollte.

Kno­chen

Seit den Beob­ach­tun­gen des Chir­ur­gen Juli­us Wolff Ende des 19.  Jahr­hun­derts beschäf­tig­ten sich zahl­rei­che Stu­di­en mit der Anpas­sungs­fä­hig­keit des Kno­chens an mecha­ni­sche Rei­ze s. Review 43. Deut­lich wird dabei der Effekt extern wir­ken­der Kräf­te auf den Kör­per durch Akti­vi­tät auf die Mor­pho­lo­gie und die inter­ne Struk­tur des Kno­chens. So zei­gen häu­fig belas­te­te Ober­ar­me in Schlag­dis­zi­pli­nen (z. B. Base­ball, Ten­nis) signi­fi­kant hyper­tro­phier­te Kno­chen im Ver­gleich zu ihren gering belas­te­ten Gegen­ar­men 44 45. Eben­so wur­de durch repe­ti­ti­ve uni­la­te­ra­le Sprün­ge (Hoch- und Weit­sprung) eine um 3,7 % ver­grö­ßer­te Quer­schnitts­flä­che des kor­ti­ka­len Kno­chens der Tibia auf der Sprung­bein­sei­te ver­gli­chen mit der Schwung­bein­sei­te beob­ach­tet 46. Wei­te­re Anpas­sun­gen konn­ten in der Kno­chen­mine­ral­dich­te des Femurs und der Wir­bel­säu­le ver­zeich­net wer­den. So wur­de bei­spiels­wei­se bei Gewicht­he­bern eine deut­lich höhe­re Kno­chen­mine­ral­dich­te der Len­den­wir­bel­säu­le (11 %) und des Ober­schen­kels (15 %) iden­ti­fi­ziert als bei einer gleich­alt­ri­gen Ver­gleichs­grup­pe 47. Auch bei ambi­tio­nier­ten Läu­fern (10 km unter 32 min) war die Kno­chen­mine­ral­dich­te der Bei­ne und des Beckens im Ver­gleich zu Nicht­ak­ti­ven auf­fäl­lig erhöht 48. Ein Trai­ning auf einer Vibra­ti­ons­platt­form (Fre­quenz 12,6 Hz; Ampli­tu­de 3 cm) drei­mal pro Woche bei einer Dau­er des Last­ein­trags von sechs­mal einer Minu­te pro Ein­heit (eine Minu­te Pau­se) über acht Mona­te führ­te zu einer Zunah­me der Kno­chen­mine­ral­dich­te um 4,3  % 49.

Das limi­tier­te Ver­ständ­nis für die Kno­chen­an­pas­sung an ein Trai­ning spie­gelt sich in den Ergeb­nis­sen von Längs­schnitt­stu­di­en wider. Dabei konn­ten die Ergeb­nis­se der Quer­schnitt­stu­di­en, die die deut­li­chen Unter­schie­de in der Kno­chen­mine­ral­dich­te zwi­schen Trai­nier­ten und Untrai­nier­ten offen­leg­ten, nicht ansatz­wei­se bestä­tigt wer­den. Dies scheint jedoch weni­ger mit der Anpas­sungs­fä­hig­keit des Kno­chens als viel­mehr mit der prä­zi­sen Gestal­tung des mecha­ni­schen Rei­zes inner­halb der Stu­di­en­pro­to­kol­le zusammenzuhängen.

Inter­es­san­ter­wei­se ist die für die Kno­chen­bil­dung benö­tig­te Anzahl an Belas­tungs­zy­klen rela­tiv nied­rig: Um Kno­chen­ab­bau durch Inak­ti­vi­tät ent­ge­gen­zu­wir­ken, waren vier Belas­tungs­zy­klen pro Tag aus­rei­chend. Kon­trär dazu zeig­te ein Anstieg der Belas­tungs­zy­klen zwi­schen 36 und 1.800 pro Tag kei­ne zusätz­li­chen ana­bo­len Pro­zes­se 50. Dis­ku­tiert wer­den die durch Mus­kel­kon­trak­ti­on impli­zier­ten Sti­mu­li von gerin­ger Span­nung (< 100 µɛ) und hoher Fre­quenz (10–90 Hz) zur Auf­recht­erhal­tung der Kno­chen­ho­möo­sta­se und zur Kno­chen­hy­per­tro­phie 51. Ist aller­dings ein Belas­tungs­pa­ra­me­ter deut­lich zu hoch gewählt, bei­spiels­wei­se durch zu hohe oder zu lang andau­ern­de Trai­nings­rei­ze, dar­aus resul­tie­ren­de Mus­kel­er­mü­dung oder fal­sche Aus­rüs­tung, kann dies zu einem Miss­ver­hält­nis in Mode­ling- und Remo­de­ling-Pro­zes­sen des Kno­chens füh­ren. In der Fol­ge kön­nen ein Abbau von Kno­chen­mas­se, Ermü­dungs­er­schei­nun­gen des Kno­chen­ma­te­ri­als, Mikro­ver­let­zun­gen und Brü­che auf­tre­ten 52 53. Stress­frak­tu­ren sind häu­fig im Bereich der Mit­tel­fuß­kno­chen vor­zu­fin­den. Ein akti­ves Trai­ning der Fuß­mus­ku­la­tur (s.  Abb.  1) kann dabei eine höhe­re Ermü­dungs­wi­der­stands­fä­hig­keit und dadurch eine Ent­las­tung des Kno­chens im Mit­tel­fuß­be­reich bewir­ken. Ein prä­zi­ses Trai­ning der kur­zen Fuß­mus­ku­la­tur und deren funk­tio­nel­ler Anpas­sungs­fä­hig­keit wur­de bereits mehr­fach beschrie­ben 54 55.

Bän­der

Eben­so wie die ande­ren kol­la­ge­nen Struk­tu­ren des mus­ku­los­ke­letta­len Sys­tems wei­sen Bän­der ein deut­li­ches Anpas­sungs­po­ten­zi­al auf. Durch Trai­ning kön­nen dabei Opti­mie­run­gen in der Gewe­be­qua­li­tät (z. B. Quer­schnitts­flä­che, Stei­fig­keit) von 10 bis 20 % erreicht wer­den 56 57 58. Dies wird ins­be­son­de­re durch die Ver­än­de­rung der bio­che­mi­schen Zusam­men­set­zung (u. a. Kol­la­gen­kon­zen­tra­ti­on) eines Ban­des erklärt 59. Dabei benö­ti­gen Bän­der ähn­lich wie Seh­nen über vier Mona­te für Struk­tur- und Mor­pho­lo­gie­ver­än­de­run­gen. Die Stu­di­en müs­sen aller­dings mit Vor­sicht betrach­tet wer­den, da ein Trai­nings­pro­to­koll nicht zwin­gend die Span­nung an einem unter­such­ten Band beein­flusst. Zudem ist es eher unwahr­schein­lich, dass Bän­der in sport­mo­to­ri­schen Situa­tio­nen in ähn­li­chem Maße gedehnt wer­den wie Seh­nen, da die Kraft des kon­trak­ti­len Ele­ments als Deh­nungs­ur­sa­che fehlt. Stu­di­en an Tier­mo­del­len ver­deut­lich­ten, dass das vor­de­re Kreuz­band nach Rup­tur über zwölf Mona­te benö­tigt, um sei­ne funk­tio­nel­le Leis­tungs­fä­hig­keit wie­der­her­zu­stel­len 60. Dies soll­te vor allem für Return-to-Sport nach Ver­let­zung berück­sich­tigt wer­den. Auch wenn die Maxi­mal­kraft der gelenk­umspan­nen­den Mus­keln ihr Aus­gangs­ni­veau wie­der erreicht hat, so kann die mus­ku­lä­re Ansteue­rung in der sport­mo­to­ri­schen Wett­kampf­si­tua­ti­on redu­ziert sein. Die Fol­ge wären hohe Bean­spru­chun­gen der Gelenk­struk­tu­ren und damit des betrof­fe­nen Ban­des. Hier scheint eine geziel­te bio­me­cha­ni­sche Funk­ti­ons­dia­gnos­tik auf Gelen­kebe­ne (mecha­ni­sche Leis­tung, Arbeit und Ener­gie in dis­zi­plin­na­hen Bewe­gun­gen) unab­ding­bar, um den Zeit­punkt des Return-to-Sport im Sin­ne der Ver­let­zungs­prä­ven­ti­on und der Leis­tungs­op­ti­mie­rung prä­zi­ser zu definieren.

Knor­pel

Der Knor­pel gewähr­leis­tet eine exzel­len­te Last­ver­tei­lung inner­halb eines Gelenks und sorgt dafür, dass zwei Kno­chen­en­den nicht auf­ein­an­der rei­ben. Die Wider­stands­fä­hig­keit des Knor­pels ergibt sich aus sei­ner fibrö­sen Zusam­men­set­zung. Ins­be­son­de­re Kol­la­gen II (> 90%) und die Pro­teo­gly­ka­ne in Kom­bi­na­ti­on mit einem hohen Anteil an Was­ser bil­den die Basis für eine hohe Druck­fes­tig­keit. Sei­ne bio­po­si­ti­ve Anpas­sungs­fä­hig­keit an chro­ni­sche Belas­tung ist noch nicht gänz­lich erklärt. Einer­seits beob­ach­te­ten ver­schie­de­ne Stu­di­en am Men­schen gerin­ge bis mode­ra­te Ver­än­de­run­gen von Knor­pel­di­cke, ‑flä­che und ‑volu­men an chro­ni­sche Belas­tung 61 62, ande­rer­seits waren die Knor­pel­di­cken und ‑flä­chen der Knie­ge­len­ke hoch­be­las­te­ter Gewicht­he­ber und Bob-Anschie­ber im Ver­gleich zu einer inak­ti­ven Kon­troll­grup­pe nicht ver­grö­ßert 63. Unsi­cher­heit hin­sicht­lich der Ergeb­nis­in­ter­pre­ta­ti­on besteht haupt­säch­lich durch eine hohe inter­in­di­vi­du­el­le Varia­bi­li­tät der Mor­pho­lo­gie des Knor­pels. Die Model­lie­rung von Mus­kel­kräf­ten und die Ana­ly­se der Span­nungs­ver­tei­lung über den gesam­ten Knor­pel wer­den benö­tigt, um Reiz­re­ak­tio­nen und Adapt­a­ti­on bes­ser ver­ste­hen zu können.

Durch Expe­ri­men­te auf zel­lu­lä­rer Ebe­ne erhofft man sich, der Defi­ni­ti­on einer tole­rier­ba­ren mecha­ni­schen Belas­tung für den Knor­pel näher­zu­kom­men. Jüngs­te Stu­di­en zu prä­zi­sen Deh­nungs­rei­zen (3 Tage, 30 min pro Tag, 6 % Deh­nung, 0,5 Hz) iso­lier­ter Knor­pel­zel­len zeig­ten, dass nicht nur die Zunah­me der Pro­te­in­men­ge (COMP), son­dern auch die Umor­ga­ni­sa­ti­on und damit die Anord­nung des extra­zel­lu­lä­ren Kol­la­gen­netz­werks von Bedeu­tung bei der Anpas­sung von Knor­pel an mecha­ni­sche Belas­tung sind 64. Für die Zer­stö­rung von Knor­pel­ma­te­ri­al schei­nen ins­be­son­de­re exzes­si­ve mecha­ni­sche Rei­ze eine Rol­le zu spie­len 65 66. Anhand von Stu­di­en an Tier­mo­del­len kann davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass eine Über­las­tung des Knor­pels (z. B. durch extre­me Lauf­be­las­tung) zu einer Zer­stö­rung der Kol­la­gen­struk­tur und ‑orga­ni­sa­ti­on führt 67.

Fazit

Der mensch­li­che Kör­per kann in sport­mo­to­ri­schen Extrem­si­tua­tio­nen kurz­zei­tig über das Acht­fa­che sei­nes Kör­per­ge­wichts tole­rie­ren. Unter Berück­sich­ti­gung von Mus­kel­kräf­ten und Hebel­ver­hält­nis­sen ent­sprä­che dies gelenk­in­ter­nen Kräf­ten des acht­zehn­fa­chen Kör­per­ge­wichts. Dies gelingt nur durch eine geziel­te Vor­be­rei­tung der mus­ku­los­ke­letta­len Struk­tu­ren auf Belas­tung durch intel­li­gen­tes Trai­ning. Dia­gnos­ti­sche Maß­nah­men zur Iden­ti­fi­zie­rung von Gewe­be­qua­li­tät wären eine Mög­lich­keit, früh­zei­tig in eine prä­zi­se und indi­vi­du­el­le Reiz­steue­rung durch Trai­ning einzugreifen.

Die Ergeb­nis­se wis­sen­schaft­li­cher Stu­di­en zei­gen sehr deut­lich, dass sich nicht nur Mus­keln, son­dern auch Seh­nen, Bän­der, Kno­chen und Knor­pel an Belas­tung anpas­sen kön­nen. Dabei ist die Anpas­sungs­aus­prä­gung abhän­gig von der Cha­rak­te­ris­tik des mecha­ni­schen Rei­zes respek­ti­ve der Trai­nings­ge­stal­tung: Erhöh­te mecha­ni­sche Rei­ze resul­tie­ren in grö­ße­ren, stei­fe­ren und wider­stands­fä­hi­ge­ren Mate­ria­li­en. Funk­tio­nel­le Kapa­zi­täts­ver­bes­se­run­gen um 5 bis 20 %, teil­wei­se 30 %, kön­nen durch regel­mä­ßi­ge Akti­vi­tät über Jah­re hin­weg erreicht wer­den. Sen­si­ble Über­steue­run­gen der Reiz­cha­rak­te­ris­ti­ka kön­nen Ris­se, Ent­zün­dun­gen oder Brü­che an den Struk­tu­ren pro­vo­zie­ren. Wie wich­tig regel­mä­ßi­ge Akti­vi­tät und mecha­ni­sche Belas­tung zum Erhalt der Funk­tio­na­li­tät der Struk­tu­ren sind, zei­gen die kat­abo­len Pro­zes­se, die bei Inak­ti­vi­tät ange­sto­ßen wer­den und die funk­tio­nel­le Kapa­zi­tät der Bin­de­ge­we­be inner­halb weni­ger Wochen um 30 bis 40 % dra­ma­tisch redu­zie­ren (Abb. 2).

Für die Autoren:
Dr. Jan-Peter Goldmann
Deut­sche Sport­hoch­schu­le Köln
Insti­tut für Bio­me­cha­nik und Orthopädie
Deut­sches For­schungs­zen­trum für Leis­tungs­sport Köln
Am Sport­park Mün­gers­dorf 6
50933 Köln,
goldmann@dshs-koeln.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
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Seh­neBandKor­ti­ka­ler Kno­chenKnor­pel
Grenz­span­nung [MPa]100 (Zug)
60–100 (Zug)
30 (Zug) bis 200 (Druck)
5–15 (Druck)
Ver­for­mung [%]8–1012–143–525–30
Tab. 1 Tole­rier­ba­re Span­nung und Ver­for­mung kol­la­ge­ner Struk­tu­ren des Muskel-Skelett-Systems.
Stu­di­enGold­mann et al. 2013 68Brüg­ge­mann et al. 2005 69
Reiz­cha­rak­te­ris­tikinten­siv und kurzmode­rat und lang
Inten­si­tät5000–6000 Push-offsAuf­wärm­pha­se
Trai­nings­dau­er3 Wochen5 Mona­te
Trai­nings­ein­hei­ten pro Woche52–3
Dau­er pro Einheit30 min15–30 min
Anzahl Ein­hei­ten gesamt1545
Kraft­zu­wachs Zehenbeuger13–20 %18–20 %
Tab. 2 Trai­nings­stu­di­en mit Mini­mal­schu­hen führ­ten trotz unter­schied­li­cher Sti­mu­li zu ähn­li­chen Kraft­zu­wäch­sen der Zehen­beu­ge­mus­ku­la­tur (Push-offs: Abstoß­pha­sen über den Vor­fuß bei Sprints, Sprün­gen, Rich­tungs­wech­seln usw.).
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