Basistherapie des Lymphödems
Die Komplexe Physikalische Entstauungstherapie (KPE) ist in zwei Phasen unterteilt, die sich in Zielsetzung und Ausführung unterscheiden: Während Phase 1 die optimale Entstauung, d. h. die Ödemreduktion, zum Ziel hat, dient Phase 2 der Optimierung bzw. Konservierung des erreichten Therapieerfolges 1. Földi beschreibt in den Leitlinien der Kompressionsverordnung 2 die stadiengerechte Anwendung der KPE bei Lymphödemen und definiert darin die Frequenz der manuellen Lymphdrainage (MLD), die Dauer der einzelnen Phasen und die Anwendung lymphologischer Kompressionsverbände oder medizinischer Kompressionsstrümpfe entsprechend dem Ödemstadium (Tab. 1).
In den Heilmittelrichtlinien 3 ist die Behandlungsdauer einzelner MLD je nach Ödemlokalisation und ‑schwere festgelegt.
Die medizinischen Leitlinien der Gesellschaft Deutschsprachiger Lymphologen definieren u. a. Eigenschaften und Anwendung des erforderlichen Kompressionsmaterials und sind in der AWMF-Leitlinie „Diagnostik und Therapie der Lymphödeme” 4 veröffentlicht. Während unter den medizinischen Fachgesellschaften also ein weitgehender Konsens über die Anwendung und Ausgestaltung der KPE besteht, ist die praktische Umsetzung am lymphologischen Patienten dennoch mit etlichen Schwierigkeiten behaftet.
Diagnosestellung und Einleitung der KPE
Oftmals werden die ersten Anzeichen eines auftretenden Ödems fehlinterpretiert oder teils unwissend in Kauf genommen. Auch von Seiten der behandelnden Ärzte wird einer lymphatischen Abflussstörung häufig nicht genügend Bedeutung beigemessen. Patienten berichten, dass ihre „dicken Beine” mit Übergewicht oder mangelnder Bewegung erklärt würden und dass sie die Auskunft erhalten hätten, die Schwellung werde sich voraussichtlich von alleine wieder zurückbilden. Dabei wäre gerade die frühe Erkennung eines Lymphödems wertvoll für die weitere Behandlung. Somit sollten gezielte Diagnostik sowie Differenzialdiagnostik zu diesem Zeitpunkt stattfinden.
Für den Mediziner besteht jedoch oftmals ein Zielkonflikt zwischen notwendiger Diagnostik und unzureichend honorierten Leistungen. Im Wund- und Lymphzentrum Osnabrück berichten Mediziner, dass sie die budgetierte Verordnung manueller Lymphdrainage als Gratwanderung gepaart mit Regressangst empfänden. In der Folge werden MLD-Verordnungen mit anschließender lymphologischer Kompressionsbandagierung nicht oder nur in unzureichendem Maß ausgestellt. Dies wirkt sich wiederum negativ auf das Ergebnis der manuellen Entstauung aus: Durch zu große Intervallabstände wird der Patient zum Dauerpatienten beim Therapeuten, ohne eine relevante Volumenreduktion zu erreichen. Für eine effektive Entstauung können je nach Ödemgrad tägliche Behandlungen erforderlich sein. Für den entsprechenden Verordner bedeutet das (je nach Vor- bzw. Begleiterkrankung des Patienten) eine temporäre übermäßige Budgetbelastung. Der Weg zur Langzeitverordnung ist steinig. Für den Patienten ergibt sich durch diese Problematik in der Folge viel zu häufig ein jahrelanger Leidensweg. Die Suche nach dem richtigen Arzt wird zur Odyssee.
Erhält der Patient jedoch je ein Rezept für manuelle Lymphdrainage sowie Verbandmaterial für den lymphologischen Kompressionsverband und ein weiteres für eine flachgestrickte Kompressionsbestrumpfung mit allen erforderlichen Zusätzen und stricktechnischen Besonderheiten, sind bereits wesentliche Therapiepunkte der KPE berücksichtigt worden. Werden diese aber ohne weitere Erklärung übergeben, ist der Zusammenhang der Verordnungen für den Patienten nicht unbedingt ersichtlich. Oftmals scheitert die Therapie an diesen oder ähnlichen Kleinigkeiten. Wurde das MLD-Intervall z. B. nur einmal wöchentlich verordnet, ist eine effektive Entstauung gar nicht möglich. Hier ist Rücksprache von Seiten des Physiotherapeuten erforderlich. Gleiches gilt auch für die Verordnung des lymphologischen Kompressionsverbandes (LKV). Dem sogenannten XXL-Patienten, der in der Folge einer Adipositas durch vermehrten Druck der Bauchschürze ödematöse Stauungen entwickelt hat, sollte zusätzlich eine Ernährungsberatung zuteilwerden, ggf. benötigt er auch eine psychotherapeutische Betreuung.
Im Folgenden werden die beiden Phasen einer adäquat durchgeführten KPE im Detail geschildert.
Phase 1 der KPE
Dem Physiotherapeuten bleibt es häufig überlassen, den Patienten über den Ablauf der nun beginnenden KPE und die damit verbundenen Einschränkungen zu informieren. Schon vor dem ersten Behandlungstermin sollte er dem Patienten erklären, dass sich diese Therapie als Zwei-Phasen-Modell gestaltet und der Patient in der ersten Phase ein zeitlich eng gestecktes Behandlungsintervall einplanen muss. Ebenfalls benötigt der Patient schon zu diesem Zeitpunkt die Information, dass er in Phase 1 nach jeder MLD einen LKV erhält und dafür geräumiges Schuhwerk mitbringen möge. So kann verhindert werden, dass bereits die erste MLD mit einem unzureichenden LKV beendet werden muss.
Trotz aller Bemühungen gibt es eine nicht zu unterschätzende Zahl von Patienten, die den Verband nach kurzer Tragezeit wieder abwickeln, weil die damit verbundenen Einschränkungen zu groß sind und die medizinische Notwendigkeit nicht erkannt wird. Auch der erforderlichen Bewegungstherapie unter Kompression wird in dieser wichtigen Phase 1 oftmals zu wenig Bedeutung beigemessen. Dabei ist gerade diese ein wichtiger Baustein der KPE, der in der Entstauung nicht fehlen sollte. Abhilfe schaffen hier nur fachgerechte Beratung, Aufklärung und fachübergreifende Patientenführung.
Die Motivation des Patienten ist an dieser Stelle besonders wichtig. Mit den nachfolgenden Zielen vor Augen hält der Patient Phase 1, die sowohl mit zeitlichen als auch mit Bewegungseinschränkungen verbunden ist, in der Regel gut durch. Eine manuelle Lymphdrainage mit anschließender lymphologischer Kompressionsbandagierung und entstauende Bewegungsübungen führen zu
- verbessertem Lymphfluss,
- Ödemreduzierung,
- Lockerung von Fibrosen,
- verbessertem Körpergefühl,
- mehr Beweglichkeit und Lebensqualität sowie
- zur Verringerung von Schweregefühl und Missempfindungen.
Um einer erneuten vermehrten Ödematisierung entgegenzuwirken und das Ergebnis der Phase 1 nachhaltig abzusichern, erhält der Patient am Übergang zu Phase 2 eine passgenaue Kompressionsbestrumpfung.
Phase 2 der KPE
Zur Sicherung der eigenen Versorgungsqualität ist es wichtig, dass das Sanitätshaus aus den genannten Gründen ein Beratungskonzept erstellt. Hierdurch werden Fehlversorgungen weitgehend vermieden. Schon beim Erstkontakt gilt es zu ermitteln, wie gut der Patient informiert ist, ob ihm die KPE bekannt ist, in welchem zeitlichen Intervall er entstaut wird und ob er einen lymphologischen Kompressionsverband erhält. Fehlen ihm wichtige Informationen, können diese jetzt noch vermittelt werden.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist es, die Compliance des Patienten einzuschätzen. Hiermit beginnen die Herausforderungen der Phase 2 der KPE. Das Sanitätshaus ist nun gefragt, dem Patienten eine flachgestrickte Kompressionsbestrumpfung näherzubringen. Oftmals bestehen gewisse Vorurteile und Bedenken gegenüber dem grobmaschigen Material. Typische Äußerungen von Patienten vor der Erstversorgung lauten: „Der ist bestimmt viel zu stramm”; „Den bekomme ich nicht an”; „Das Material ist mir viel zu dick”. Dem muss kompetent und entschärfend begegnet werden. Zur Ergebnissicherung der Phase 1 ist eine flachgestrickte Versorgung jedoch unumgänglich, und es bedarf daher oftmals einiger Überzeugungsarbeit, um die positiven Materialeigenschaften in den Vordergrund zu stellen. Flächiger Kompressionsdruck, exakte Passform, Atmungsaktivität, Mikromassageeffekt durch grobe Maschenbildstruktur und der veränderte Arbeitsdruck im Gegensatz zu rundgestrickter Bestrumpfung sind hierbei die wesentlichen Aspekte, die vermittelt werden müssen.
Der geeignete Zeitpunkt für das Ausmessen der geplanten Bestrumpfung am Ende von Phase 1 ist nicht automatisch mit Beendigung der Erstverordnung der MLD erreicht. Hier gewinnt die Kommunikation zwischen Therapeut und Orthopädie-Techniker an Wichtigkeit: Es muss geklärt werden, inwieweit die Entstauungsphase abgeschlossen werden kann oder ob eine Folgeverordnung über MLD benötigt wird.
Vor dem eigentlichen Ausmessen der Bestrumpfung sollten Ödemkonsistenz, Hauttemperatur, Hautempfinden sowie Rötungen und Verfärbungen beurteilt und dokumentiert werden. Ein Vergleich mit der Gegenseite kann bei einseitigen Ödemen bei der genaueren Einschätzung der Situation hilfreich sein.
Die Materialauswahl sollte nicht nur den optischen Ansprüchen des Patienten gerecht werden. Vielmehr sind auch das Rückhaltevermögen des Ödems, der Stiffnesswert 5 sowie die mögliche Umsetzung aller erforderlichen Zusätze und stricktechnischen Besonderheiten maßgeblich für die Materialauswahl einer flachgestrickten Bestrumpfung 6.
Ausführungen und Versorgungsformen werden unter Berücksichtigung von Handling, Kraft, Alter, Compliance und Begleiterkrankungen des Patienten, u. a. Adipositas, gewählt (Abb. 1 und Abb. 2). Variationsmöglichkeiten einer geteilten Versorgung sind hierbei oft unumgänglich (Abb. 3). Einer empfindlichen Haut kann durch form- und funktionsgerechte Stricktechnik (Abb. 4), partielles Einbringen von Futterstoff, Silikonauflagen, Silberfäden oder Reißverschlüssen zur besseren Platzierung von Wundauflagen begegnet werden. Bei der Vermessung des Patienten sollten nicht nur die Zugmaße, sondern auch die Hautmaße notiert werden. Nur so ist eine Vergleichbarkeit der Maße im weiteren Therapieverlauf möglich. Die Anpassung der Strümpfe sollte zeitnah erfolgen. Anziehen und Pflege der Bestrumpfung müssen erklärt werden. Die Vereinbarung eines Kontrolltermins sowie eine Wechselversorgung runden die Beratung ab.
Multidisziplinäre Zusammenarbeit
Jede Bestrumpfung ist von vielen individuellen Faktoren abhängig. Hierbei sind eine interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen Parteien der KPE sowie eine adäquate Patientenaufklärung unumgänglich. Da der Physiotherapeut für den korrekten Inhalt der Heilmittelverordnung verantwortlich gemacht wird, ist oft Rücksprache zu den korrekten Codierungen und Intervallen notwendig. Schleicht sich ein bürokratischer Fehler ein, wird dem Therapeuten ansonsten die komplette Behandlung ohne Möglichkeit der Nachberechnung storniert. Bei der geplanten Kompressionsbestrumpfung müssen zudem alle erforderlichen Zusätze und stricktechnischen Besonderheiten verordnet sein. Hierbei ist eine frühzeitige Kommunikation zwischen Arzt und Orthopädie-Techniker unerlässlich.
Die Patientenaufklärung erfolgt in der ambulanten Therapie oftmals unzureichend, weil nicht geregelt ist, wer dem Patienten diese wichtigen Informationen vermittelt. Hieraus können Therapieabbrüche resultieren. Zur Sicherung der Versorgungsqualität gehen bestehende Netzwerke schon heute den Weg einer einheitlichen Dokumentation, einer Patientenschulung sowie einer Festlegung von Versorgungsstandards. Dabei sollte die Wahlfreiheit des Patienten unbedingt gewahrt bleiben.
Die Erfahrungen aus dem Netzwerk der Erstautorin führen zu dem Ergebnis, dass nur eine sinnvolle Vernetzung eine adäquate Therapie in strukturierter Form sicherstellt und zur Qualitätssteigerung innerhalb der Versorgung führt. Behandlungsabbrüchen wird durch die multiprofessionelle Zusammenarbeit erfolgreich entgegengewirkt. Dadurch ist eine Reduzierung der Behandlungskosten zu erwarten. Dies sollte auch den Kostenträger interessieren. Durch professionelle Patientenführung und interdisziplinäre Zusammenarbeit entsteht Effizienz in der Ödemtherapie.
Fazit
Gesundheit gilt zunehmend als wichtige Ressource, und immer mehr Menschen sind bereit, prophylaktisch etwas dafür zu tun. Bei einem Lymphödem sind dafür aber eine frühzeitige Diagnose und eine sinnvolle Aufklärung des Patienten über die Therapiemöglichkeiten notwendig.
Für eine ergebnisorientierte KPE bedarf es eines interdisziplinären Versorgungskonzepts mit entsprechender Patientenführung, wobei geregelt sein muss, wer dem Patienten die notwendigen Informationen vermittelt. Behandlungsabbrüchen kann durch die multiprofessionelle Zusammenarbeit erfolgreich entgegengewirkt werden. Die Einführung eines Case Management kann in diesem Zusammenhang eine Schlüsselfunktion einnehmen. Aktuell findet allerdings keine Honorierung des Koordinationsaufwandes statt; mit pauschalierten Arbeitszeiten und Festbeträgen wird einer effizienten KPE sogar massiv entgegengewirkt. Hier gilt es auch in der Zukunft den Kostenträger mit einzubeziehen.
Um qualitative Differenzen im Versorgungskreislauf zu beheben, muss die Komplexe Physikalische Entstauungstherapie KPE zwar nicht neu erfunden werden. Eine strukturierte, multiprofessionelle Zusammenarbeit ist jedoch erforderlich, damit die KPE nicht nur in Teilbereichen umgesetzt wird, sondern ein Zusammenspiel entsteht, bei dem der Patient im Mittelpunkt steht. Das Ziel sollte eine zeitnahe, bedarfsgerechte und patientenorientierte Therapie sein. So entsteht nicht nur für den Patienten, sondern auch für den Kostenträger ein Gewinn.
Für die Autorinnen:
Sandra Völler
Orthopädie-Technik Völler
Lohstr. 33
49074 Osnabrück
sandra.voeller@web.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Völler S, Auler S. Bedarfsgerechte und patientenorientierte Therapie des Lymphödems – Eine multidisziplinäre Herausforderung. Orthopädie Technik, 2014; 65 (12): 48–51
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- Földi M, Földi E, Kubik S. Lehrbuch der Lymphologie für Mediziner, Masseure und Physiotherapeuten. München: Elsevier, Urban und Fischer, 2005
- Földi, E. Kompressionstherapie bei Gliedmaßenödemen. Leitlinie. Online verfügbar unter http://www.foeldiklinik.de/pdf/deutsch/leitlinien.pdf, zuletzt geprüft am 01.08.2014
- AG Indikationskatalog 12–09-03: Zweiter Teil der HMR Katalog Phys. Therapie, S. 19–21. Online verfügbar unter https://www.g‑ba.de/downloads/17–98-3064/HeilM-RL_2011-05–19_Heilmittelkatalog.pdf, zuletzt geprüft am 10.11.2014
- Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. AWMF-Leitlinie 058–001 S1: Diagnostik und Therapie der Lymphödeme (Stand der letzten Aktualisierung: 04/2009). Online verfügbar unter http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/058001l_S1_Diagnostik_und_Therapie_der_Lymphoedeme_2009_abgelaufen.pdf, zuletzt geprüft am 10.11.2014
- Reich-Schupke S, Stücker M (Hrsg.). Moderne Kompressionstherapie. Köln: Viavital, 2013
- Reisshauer A. Kompendium der lymphologischen Kompressionsversorgung. Dortmund: Bundesfachschule für Orthopädie-Technik, 2009