Barrieren sind im Alltag immer noch zahlreich. Wie der aktuelle Stand ist und welchen Beitrag Sanitätshäuser über die Versorgung hinaus leisten können, das erklärt Prof. Dr. Reinhilde Stöppler von der Justus-Liebig-Universität Gießen im Gespräch mit der OT-Redaktion.
OT: Wenn Sie der Mobilität von Menschen mit Behinderungen in Deutschland eine Schulnote geben müssten, welche wäre das und warum?
Reinhilde Stöppler: Ich würde die Schulnote 3 bis 4 geben. Die Schulnote 4, also nur „ausreichend“, weil das Inklusionsbarometer Mobilität, mit dem die Aktion Mensch im Jahre 2022 die Teilhabe untersuchte, eindrucksvoll aufzeigte, dass Menschen mit Beeinträchtigungen in ihrem Alltag häufiger auf Barrieren stoßen, die es ihnen erschweren, sich uneingeschränkt von A nach B zu bewegen. Gründe dafür liegen unter anderem in vielen baulichen Barrieren, wie zum Beispiel Treppen, Stufen, kaputte Fahrstühle, zugestellte Wege, in Barrieren bei der Informationsgewinnung, beispielsweise komplizierte Fahrpläne, unübersichtliche Apps. Kosten und notwendige Zeiten für Fahrten, etwa aufgrund des nicht barrierefreien ÖPNVs sind zu aufwendig. Nicht zu vergessen: Ein großes Problem sind die negativen Erfahrungen, die Menschen mit Behinderungen im Straßenverkehr machen, in den Begegnungen mit anderen und mit Service-Personal. Dadurch entstehen Unsicherheiten und Ängste. Zwar sind im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs viele Verbesserungen sowohl bei den Bussen und Bahnen als auch bei den Haltestellen erreicht worden. Beispielsweise sind – gemäß des dritten Teilhabeberichts der Bundesregierung über die Lebenslagen der Menschen mit Beeinträchtigungen – rund 78 Prozent der Bahnhöfe stufenlos erreichbar, rund 53 Prozent aller Bahnsteige sind mit taktilen Leitsystemen ausgestattet, 61 Prozent der Linienbusse sind als Niederflurbusse im Einsatz. Barrieren bestehen dennoch fort. Der Teilhabebericht verweist zudem auf ein ausgeprägtes Stadt-Land-Gefälle. Menschen mit Beeinträchtigungen finden in ländlichen Gegenden viel schlechtere Bedingungen für ihre Mobilität vor. Die Note „befriedigend“ gebe ich versöhnlich, weil es wesentlich besser als vor ca. 40 Jahren geworden ist. Damals mussten Menschen mit Behinderungen auf die Straße gehen, um auf die Missstände im ÖPNV aufmerksam zu machen, organisierten Demos, führten Straßenbahnblockaden durch. Die erste wurde 1975 vom Dortmunder Aktivisten Gusti Steiner organisiert. Heute ist die Gruppe derjenigen, die den ÖPNV nicht nutzen können, kleiner geworden. Es wurden zwar Barrieren abgebaut, aber es ist noch nicht barrierefrei.
OT: Mit welchen Problemen müssen sich Menschen mit Beeinträchtigung im Verkehr häufig auseinandersetzen?
Stöppler: Das muss man differenziert beantworten. Es gibt ja unterschiedliche Formen der Beeinträchtigung, beispielsweise in den Bereichen Sehen, Hören, Motorik, Kommunikation, Orientierung. Menschen mit Beeinträchtigungen im Bereich Sehen haben Schwierigkeiten, wenn Informationen ausschließlich visuell angeboten werden. Zum Beispiel, wenn im Bus die nächste Haltestelle nur schriftlich angezeigt und nicht akustisch durchgesagt wird. Ein weiteres Problem können Hindernisse auf dem Gehweg sein, so etwa aktuell die wild abgestellten E‑Scooter. Menschen mit Beeinträchtigungen im Bereich Hören sind darauf angewiesen, dass die Informationen nicht nur auditiv, sondern auch visuell angeboten werden. Personen, die auf den Rollstuhl oder Rollator angewiesen sind, haben Probleme bei Stufen, Treppen, kaputten Aufzügen etc. Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen können Schwierigkeiten bei der Orientierung haben, zum Beispiel – wenn sie nicht lesen können – bei ausschließlich textbasierten Infos von Fahrplänen. Notwendig sind folgende Grundsätze: Zum einen das Zwei-Sinne-System, das heißt, alles muss für mindestens zwei Sinne angeboten werden, beispielsweise visuell und auditiv. Zum anderen das Fuß-Rad-System, das aussagt, dass alles, was zu Fuß, auch mit dem Rollstuhl und Rollator erreichbar sein muss. Und die KISS-Regel (= Keep it short and simply), die aussagt, dass man alles kurz und einfach, etwa mit leichter Sprache, erklären sollte.
OT: Welche Möglichkeiten haben beispielsweise Städteplaner, um Barrieren im öffentlichen Raum zu reduzieren?
Stöppler: Eine Möglichkeit bzw. große Chance ist es, die Erfahrungen der Menschen mit Beeinträchtigungen unbedingt einzubeziehen. Das bedeutet, die jeweiligen Interessenvertretungen der Behindertenverbände sind unbedingt einzubeziehen, wenn zum Beispiel ein Straßenabschnitt neugestaltet werden soll. Für eine inklusive Verkehrspolitik ist es Voraussetzung, Menschen mit Behinderungen als Expertinnen und Experten in eigener Sache mit an den Tisch zu holen, so sollten die regionalen behindertenpolitischen Netzwerke oder kommunalen Behindertenbeiräte immer mit dabei sein. Darüber hinaus ist eine Abstimmung zwischen Städtebauplanern und Verkehrsbetrieben notwendig.
OT: Werden diese Möglichkeiten laut Ihrer Erfahrung ausreichend genutzt?
Stöppler: Nein, denn der politische Wille, barrierefreie Mobilität zu berücksichtigen, muss vorhanden sein. Es ist immer abhängig von den politischen Entscheidungen. Es gibt sicherlich große regionale Unterschiede. Dabei würden viele Menschen von barrierefreien Zugängen profitieren, nicht nur Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern auch Menschen mit Kinderwagen, Fahrrädern, Gepäck etc.
OT: Welche Angebote sollte es idealerweise für Menschen mit Beeinträchtigung zum Beispiel in der Verkehrspädagogik geben? Und andersherum gefragt: Wird in der aktuellen Verkehrserziehung die Rolle von Menschen mit Beeinträchtigungen adäquat vermittelt?
Stöppler: Ich freue mich über diese Frage, weil Mobilitätsförderung und ‑bildung für Menschen mit Beeinträchtigungen oftmals vernachlässigt werden. Mobilitätsförderung ist von ganz zentraler Bedeutung, um Menschen auf die selbstbestimmtere und selbstständigere Teilnahme an Mobilität vorzubereiten, durch Förderung der mobilitätsspezifischen Kompetenzen wie Sehen, Hören, aufmerksam Sein sowie der Vorbereitung auf die jeweiligen Rollen der Verkehrsteilnahme, zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit Bus & Bahn etc. Aber auch in der Mobilitätsförderung von Menschen ohne Beeinträchtigungen sollte auf das Recht der diskriminierungsfreien Mobilität von schwächeren Verkehrsteilnehmerinnen und ‑teilnehmern – und dazu gehören ältere Menschen, Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen – hingewiesen werden. Hier geht es auch um soziale und emotionale Kompetenzen, wie etwa Verantwortlichkeit, Empathie, Perspektivenübernahme.
OT: Stichwort Verkehrswende: Der Öffentliche Personennahverkehr spielt eine zentrale Rolle für die Verkehrswende. Wie weit sind die Verkehrsgesellschaften mit dem barrierefreien Zutritt zu Bus und Bahn?
Stöppler: Das Gesetz für Barrierefreiheit im ÖPNV, genauer das Personenbeförderungsgesetz, sagt aus, dass seit einem Jahr der öffentliche Nahverkehr in Deutschland barrierefrei sein soll. Doch die Realität sieht anders aus. Die Aktivistin Cécile Lecomte nennt das Gesetz einen „Papiertiger“. Vor allem bei der Deutschen Bahn ist es immer noch ziemlich schwierig. Spontanes Reisen ist für Menschen im Rollstuhl nicht möglich, man muss Fahrten mit IC und ICE anmelden, man kann nur zu eingeschränkten Zeiten reisen, weil Personal für Ein‑, Um- und Ausstiegshilfen da sein muss etc.
OT: Gibt es in diesem Zusammenhang Leuchtturmprojekte, die Ihnen bekannt sind, die als Vorbild für weitere Projekte für barrierefreie Mobilität dienen können?
Stöppler: Ein positives Beispiel stellt in diesem Kontext Bremen dar. Die Stadt hat relativ früh begonnen, sich mit dem Thema Barrierefreiheit zu beschäftigen, Standard und Flexibilität sind dort größer.
OT: Hilfsmittel, wie zum Beispiel Rollatoren, können einen Beitrag zur Mobilität von Menschen mit Beeinträchtigungen sein. Im Gegensatz zu Fahrrädern müssen Rollatoren aber beispielsweise standardmäßig keine Leuchte haben, um im Dunkeln eine bessere Sicht und Sichtbarkeit zu gewährleisten. Sollte aus Ihrer Sicht hier nachgesteuert werden und falls ja, welche Maßnahmen würden Sie sich wünschen?
Stöppler: Diese Frage sollte individuell beantwortet werden. Leuchten würden sich anbieten, um bei Dunkelheit und schlechten Lichtverhältnissen sowohl die Sichtbarkeit zu erhöhen als auch den Benutzer:innen zu helfen, zum Beispiel Wege, Hindernisse und Gefahren besser zu erkennen. Dadurch würde das Risiko der häufigen SRS-Unfälle (Unfälle durch Stolpern, Rutschen, Stürzen, Anm. der Red.) vermindert werden. Alles trägt zum Sicherheitsgefühl bei. Auf der anderen Seite wird der Rollator durch zusätzliche Ausstattungen schwerer.
OT: Sanitätshäuser bieten aus eigenem Antrieb Rollatoren-Tage an, an denen die Rollatoren in der Werkstatt technisch überprüft und die Anwender:innen im Umgang geschult werden. Haben Sie Ideen, was bei diesen Tagen vielleicht zusätzlich vermittelt werden sollte, und wären Kooperationen beispielsweise mit der Polizei sinnvoll?
Stöppler: Rollatoren-Tage sind ein tolles Angebot der Sanitätshäuser! Empfehlenswert sind Schulungen der Anwender:innen im Umgang mit dem Rollator, etwa durch einen Parcours, aber auch in Kooperation mit den Verkehrsbetrieben. Man könnte diese bitten, mit einem ihrer Busse auf das Gelände zu kommen und entsprechende Übungseinheiten durchzuführen – wie sicheres Ein- und Aussteigen, Hinsetzen etc. Zum anderen sollten die Busfahrer:innen geschult und sensibilisiert werden. Auch Mitarbeitende in Verkehrsbetrieben müssen auf die Anforderungen von Fahrgästen mit Beeinträchtigungen eingestellt sein und ihnen kompetent begegnen können. Aspekte eines solchen Trainings sind zum Beispiel die Platzierung von Rollstühlen und Rollatoren im Bus, Informationen für Fahrgäste mit Hör- und Sehbeeinträchtigungen bei fehlendem audiovisuellen Leitsystem. Bewährt hat sich auch ein Perspektivwechsel durch praktische Sensibilisierungsübungen von Geh‑, Hör- und Sehbehinderungen, indem die Teilnehmer:innen mit Rollatoren, Ohrenstöpseln und Brillen die jeweilige Beeinträchtigung in etwa simulieren können.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
Zur Person
Prof. Dr. Reinhilde Stöppler hat die Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Geistigbehindertenpädagogik an der Justus-Liebig-Universität in Gießen inne. Seit 1989 veröffentlichte sie über 90 Beiträge in Zeitschriften und Sammelbänden zu ihren Forschungsschwerpunkten, zu denen unter anderem zählen: Grundlagen der inklusiven Pädagogik und Didaktik / Methodik bei geistiger Behinderung, Bildung und Teilhabe in der Lebenslaufperspektive und Mobilitätsbildung- und Verkehrserziehung bei Menschen mit geistiger Behinderung sowie Sexualpädagogische Bildungsangebote für Menschen mit geistiger Behinderung. Zu ihren Forschungsprojekten gehörten „eMo – Eigenständige Mobilität von erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung“ und „MogLi – Mobilität auf ganzer Linie“.
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