Spezielle Rollstühle für Adipositaspatienten ermöglichen den Betroffenen und ihrem Umfeld die alltäglichen Mobilitäts- und Transferleistungen. Ein sorgfältiges fachkundiges Vorgehen bei der Auswahl und der individuellen Konfiguration des Hilfsmittels ist entscheidend für die optimale Förderung der Patienten. Der Artikel beschreibt die Schritte, die in enger Kooperation zwischen Fachhandel und Hersteller für eine erfolgreiche und nachhaltige Versorgung notwendig sind.
Einleitung
Der Übergang von Übergewicht zu Adipositas lässt sich anhand des Body-Mass-Index (BMI) festlegen, der Körpergröße und Gewicht in Relation setzt: Bei einem BMI zwischen 30 und 34 spricht man von Adipositas Grad I, ein BMI von 35 bis 39 wird als Adipositas Grad II eingestuft, und ein BMI von mehr als 40 gilt als Adipositas Grad III, auch als „Adipositas permagna“ oder „morbide Adipositas“ bezeichnet. Das komplexe Krankheitsbild und die spezifische Situation der betroffenen Patienten erfordern grundsätzlich eine individuelle Auswahl und Konfiguration der geeigneten Rollstuhlversorgung, um Folgeerkrankungen durch falsches Sitzen und Positionieren zu minimieren. Entscheidend für die Festlegung des Versorgungsziels dürfen daher nicht ausschließlich die höhere Belastbarkeit und die Sitzbreite des Hilfsmittels sein. Für eine optimale Versorgung kommt es vor allem darauf an, dass das Hilfsmittel eine effiziente Lagerung des Betroffenen sowie auf die individuelle Situation des Patienten abgestimmte Mobilisierungs- und Transferleistungen ermöglicht. Oftmals wird die optimale Versorgungslösung durch das bestehende Wohnumfeld eingeschränkt – eine Wohnumfeldanalyse und eine Erprobung vor Ort sind daher entscheidende Bausteine für die Umsetzbarkeit der Versorgung.
Bei der Auswahl gilt es sämtliche Aspekte zu berücksichtigen, die für die Umsetzung einer ideal auf den Patienten abgestimmten Versorgung relevant sind. Die Grundlage bilden die Festlegung der Versorgungsziele, die Feststellung des Ist-Zustands, eine Wohnumfeldanalyse sowie eine Erprobung vor Ort.
Nach der Verordnung eines Rollstuhls durch den behandelnden Arzt macht sich der beauftragte Orthopädie-Techniker zunächst persönlich ein Bild von der Patientensituation. Das Krankheitsbild Adipositas ist im Rahmen der Hilfsmittelversorgung aktuell nicht konkret geregelt – das Patientengewicht ist maßgeblich für die Wahl des Hilfsmittels. Bei Adipositaspatienten mit einem Körpergewicht von bis zu 160 Kilogramm erstatten einige Träger nur die Kosten für eine Standardversorgung. Gerade im Bereich der Adipositasversorgung ist jedoch eine individuelle Anpassbarkeit grundlegend für eine erfolgreiche und nachhaltige Versorgung. Kommt der zuständige Orthopädie-Techniker zu dem Schluss, dass eine Standard-Rollstuhlversorgung mit größerer Sitzbreite und höherer Belastbarkeitsgrenze aufgrund des individuellen Krankheitsbildes keine ausreichende Versorgung darstellt, empfiehlt er eine Versorgung mit einem speziellen Adipositas-Rollstuhl. Diese muss auf der Basis einer ausführlichen Begründung beim zuständigen Kostenträger beantragt werden. Bei Menschen mit extremer Adipositas – das heißt einem BMI von mehr als 35 – ist die Versorgung mit einem Standardprodukt in der Regel nicht mehr möglich.
Insbesondere bei der Erprobung vor Ort kann ermittelt werden, ob der Patient motorisch in der Lage ist, sich selbstständig mit dem Rollstuhl fortzubewegen und vor allem auch den Transfer selbstständig zu vollziehen. Dabei gilt es, individuell verschiedene Lösungen abzuwägen: Bei Versorgungen mit einem manuellen Rollstuhl ist im Wesentlichen entscheidend, wie der Patient sich im Rollstuhl fortbewegt: durch Trippeln oder durch die Nutzung der Antriebsräder. Bei Versorgungen mit einem Elektro-Rollstuhl sind dagegen die Herausforderungen beim Transfer ausschlaggebend: Wie ist beispielsweise der Transfer vom Bett in den Rollstuhl oder vom Rollstuhl zur Toilette gelöst? Mischformen wie die Versorgung durch einen manuellen Rollstuhl mit Zusatzantrieb können den Aktionsradius des Patienten deutlich vergrößern und stellen gleichzeitig eine flexible und gut transportierbare Mobilitätslösung dar. Eine weitere Option ist die Versorgung mit einem manuellen Rollstuhl inklusive Schiebehilfe für die Begleitperson.
Unterstützung durch Produktspezialisten
Aufgrund der im Vergleich zu anderen Hilfsmittelversorgungen geringeren Fallzahlen stellen Adipositasversorgungen eine besondere Versorgungsleistung dar. Die bei der Auswahl und Konfiguration des Hilfsmittels zu berücksichtigenden Aspekte sind komplex. Spezialisierte Hersteller bieten in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, für die Auswahl und die Konfiguration geeigneter Lösungen fachkundige Unterstützung durch unternehmensinterne sogenannte Produktspezialisten anzufragen, die als Bindeglied zwischen dem Produkt und der individuellen Versorgungssituation fungieren. Produktspezialisten verfügen über eine langjährige Erfahrung im Bereich Adipositasversorgung und eine hohe technische Expertise zu möglichen Produktlösungen. Leistungserbringer und Produktspezialist tauschen sich zunächst vorab zu relevanten Eckdaten der Versorgungssituation aus und vereinbaren einen gemeinsamen Vor-Ort-Termin mit dem Patienten für eine ausführliche Befundaufnahme und Wohnumfeldanalyse.
Befundaufnahme
Eine ausführliche Befundaufnahme ist ein entscheidender Baustein für die Ermittlung der medizinischen Notwendigkeit der Hilfsmittelversorgung. Sie erfolgt auf der Basis eines detaillierten Berichtbogens. Zudem werden folgende Indikationen abgefragt und dokumentiert: der anhand des BMI ermittelte Grad der Adipositas, der Körpertyp (Abb. 1), Typ und Position der Fettablagerungen, zudem bereits existierende allgemeine oder akute Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes mellitus Typ II, Fettstoffwechselstörungen, Wirbelsäulenschäden, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Muskelabbau, Arthrose oder Lymphödeme sowie der allgemeine psychische Zustand des Patienten. Weitere wichtige Fragen betreffen eventuelle Funktions- und Bewegungseinschränkungen des Patienten: Kann er eigenständig aufstehen? Kann er laufen, und wenn ja, benötigt er dabei Gehhilfen als Unterstützung?
Maßnehmen
Ein für die Wahl des passenden Hilfsmittels wesentlicher Teil der Dokumentation ist das Maßnehmen am Patienten. Unterschiedliche Körperformen sowie anatomische Unterschiede zwischen Männern und Frauen müssen für eine ideale Versorgung ebenso berücksichtigt werden wie individuelle Körperproportionen. Neben Standardangaben wie Geschlecht, Größe, Gewicht und BMI werden weitere für die Konfiguration des passenden Rollstuhls entscheidende Maße genommen: Scheitelhöhe, Schulterhöhe, Achselhöhe, Armlehnenhöhe, Unterschenkel- und Oberschenkellänge, Unterarmlänge, Rumpftiefe und ‑breite sowie Hüftbreite (Abb. 2). Vor dem Vermessen wird die Zustimmung des Patienten eingeholt; vor allem weibliche Patienten könnten beispielsweise die Vermessung im Brustbereich als unangenehm empfinden.
Spezifische Versorgungsanforderungen
Im Befundungsbericht werden darüber hinaus besondere Versorgungsanforderungen festgehalten, die durch das Hilfsmittel abgedeckt werden sollen. Dazu zählen unter anderem eine Druckentlastung, die Möglichkeit einer Umpositionierung für eine wechselnde Lagerung oder Positionierung des Patienten im Rollstuhl, eine Anti-Dekubitus-Prophylaxe und eine notwendige Kompression bestimmter Körperregionen, zum Beispiel bei Wassereinlagerungen. Zudem wird festgehalten, in welchen Bereichen die Mobilisierung stattfinden soll: nur innerhalb oder auch außerhalb der Wohnung? Ist beispielsweise ein Transfer in Fahrzeugen notwendig, ist die Wahl eines unkompliziert transportablen Rollstuhls sinnvoll. Ebenso relevant ist die Frage nach persönlichen Aktivitäten und der sozialen Integration des Patienten: Ist er in der Lage, eigenständig einkaufen zu gehen oder Kontakt zu Menschen außerhalb seines Wohnumfelds zu pflegen? Wenn nein, wäre dies mit Unterstützung durch ein Hilfsmittel möglich, und wenn ja, welche Antriebsart wäre dazu notwendig?
Analyse des Wohnumfelds
Bei der Analyse des Wohnumfelds werden sowohl der Innen- als auch – sofern relevant – der Außenbereich berücksichtigt, in denen der Rollstuhl genutzt werden soll. Zusätzlich werden Unterstellmöglichkeiten für den Rollstuhl vermerkt. Im Innenbereich werden die Tür- und Durchgangsbreiten aller Räume des kompletten Wohnbereichs vermessen; vorhandene Schwellen oder Treppen werden dokumentiert und mit der jeweiligen Höhe beziehungsweise Stufenanzahl angegeben. Befindet sich die Wohnung des Patienten in einem Mehrfamilienhaus oder in einer Pflegeeinrichtung, wird auch das Stockwerk angegeben. Ist ein Aufzug vorhanden, der vom Patienten genutzt werden soll, ist auch für diesen die Breite zu notieren. Im Außenbereich geht es unter anderem um die Feststellung, ob ein Pkw genutzt wird, da der Rollstuhl in diesem Fall einfach zu transportieren sein sollte. Die Frage, wie stark eine eventuell vorhandene Steigung des Geländes in der Umgebung ist, kann ein entscheidendes Kriterium für die Entscheidung sein, ob ein manueller oder ein Elektro-Rollstuhl mit der entsprechenden Antriebsunterstützung benötigt wird.
Eigenschaften eines manuellen XXL-Rollstuhls
Aus der detaillierten Dokumentation der individuellen körperlichen und räumlichen Anforderungen des Patienten und der Begründung des Versorgungsziels ergibt sich die optimale Lösung. XXL-Rollstuhle bieten nochmals speziellere Konfigurations- und Einstellmöglichkeiten als normale Rollstühle. Ein qualitativ hochwertiger XXL-Rollstuhl zeichnet sich dadurch aus, dass er robust und bis ins Detail an die Anforderungen des Patienten anpassbar ist (siehe das Beispielmodell in Abb. 3). Sitzbreite, ‑höhe und ‑tiefe sollten gemäß den bei der Befundung erfassten Maßen des Patienten variabel einstellbar sein. Insbesondere Fettschürzen im Gesäß‑, Bauch‑, Ober- und Unterschenkelbereich müssen ausreichend Platz finden und entsprechend gestützt werden können.
Spezielle Rahmenformen verringern die Gefahr des Überkippens nach vorne. Bauteile wie eine verstellbare Achse sorgen für eine optimale Schwerpunktverteilung, skalierbare Abduktionsseitenteile oder abduzierte Beinstützen (Abb. 4) für eine ergonomisch optimierte Sitzposition. Zur Druckreduktion im Hüftgelenkbereich empfiehlt sich eine feste Sitzplatte. Für den Komfort des Anwenders ebenfalls wichtig sind stabile Fußplatten, die ihm sicheren Halt vermitteln, sowie eine flexible, verstellbare Rückenbespannung und spezielle Sitzkissen zur Verhinderung eines Dekubitus. XXL-Rollstühle müssen hoch belastbar und im Optimalfall gleichzeitig leicht zu transportieren sein – dies gelingt durch die bestmögliche Reduktion des Produktgewichts durch die Verwendung leichter, stabiler Materialien und durch innovative Faltmechanismen.
Jedes Produkt wird detailliert an den Patienten angepasst. Welche Konfiguration und Einstellung für den jeweiligen Patienten geeignet ist, entscheiden Leistungserbringer und Produktspezialist beim Termin vor Ort. Ist für die Versorgung eines Patienten mit extremer Adipositas eine noch individuellere Lösung notwendig, muss ein Sonderbau gefertigt werden.
Erprobung
In der Regel ergibt sich schon aus dem Vorgespräch zwischen Leistungserbringer und Produktspezialist, welche Versorgung für den Patienten in Frage kommt. Zum Patiententermin bringt der Produktspezialist dann bereits einen vorkonfigurierten Testrollstuhl zur Erprobung mit. Dieser kann direkt vor Ort detailliert in Sitzhöhe, ‑breite, ‑tiefe, Rücken‑, Armlehnen- und Fußplattenposition und gegebenenfalls weiteren Einstellmöglichkeiten an den Patienten angepasst werden (Abb. 5). Der im Rahmen der Erprobung verfasste Bericht fließt in den Bewilligungsantrag an den Kostenträger mit ein.
Erstellen eines Produktangebots mit Kostenvoranschlag
Für den Antrag auf Erstattung des Hilfsmittels durch den Kostenträger wird ein Produktangebot inklusive eines Kostenvoranschlags erstellt. Darin sind in Form eines ausführlichen Probeberichts die Begründungen für die Wahl der angegebenen Versorgung aufgeführt. Das Produktangebot liegt dem Leistungserbringer in der Regel innerhalb einer Woche vor. Nach der Genehmigung durch den Kostenträger und der Freigabe des Produktionsauftrags durch den Leistungserbringer wird die Fertigung gestartet.
Produktion und Auslieferung
In komplexen Fällen entscheidet der Produktspezialist, ob im Vorfeld eine Probestellung des Hilfsmittels im Rohbau stattfinden soll. Handelt es sich um eine Versorgung aus dem Bereich Sonderbau, findet in jedem Fall eine Probestellung vor Fertigstellung statt. Grund dafür ist, dass die visuelle Planung des Sonderbaus durch die Erprobung im Rohbau nochmals verifiziert werden sollte, um gegebenenfalls finale Anpassungen vornehmen zu können – Änderungen an einem fertigen Produkt würden vom Aufwand her einem Neubau gleichkommen. Auch die Funktionalität des geplanten Sonderbaus kann nur bei einer Erprobung durch den Patienten in der Praxis festgestellt werden. Erst nach positiver Erprobung des Sonderbaus wird schließlich die finale Montage und Lackierung der Bauteile vollzogen. Bei der Auslieferung des fertigen Hilfsmittels ist die Anwesenheit des Produktspezialisten vor Ort sinnvoll, um gemeinsam mit dem Fachhandelspartner gegebenenfalls letzte Detailanpassungen vorzunehmen.
Höhere Autonomie in der Mobilität durch Elektro-Rollstuhl-Versorgung
Wird der Rollstuhl überwiegend innerhalb einer Wohnung oder Pflegeeinrichtung genutzt und ist der Patient körperlich in der Lage, ihn per Hand zu bewegen, ist eine Versorgung mit einem manuellen Modell in der Regel ausreichend (Abb. 6). Ist der Patient motorisch nicht in der Lage, den Rollstuhl per Hand anzutreiben, ist für Transferleistungen innerhalb des Wohnumfelds die Versorgung mit einem Elektro-Rollstuhl notwendig.
Die Wahl eines Rollstuhls mit Elektro-Antrieb kann jedoch auch bei Patienten sinnvoll sein, die den Rollstuhl überwiegend in Innenräumen nutzen oder motorisch in der Lage sind, ihn per Hand zu bedienen, da Adipositas-Rollstühle mit elektrischem Antrieb das Spektrum der Versorgungsziele nochmals deutlich erhöhen. Beispielsweise können eine elektrische Sitzkantelung sowie eine Rückenwinkelverstellung den gesundheitsfördernden Lagewechsel des Patienten zwischen Sitzen und Liegen sowie den Transfer aus dem Rollstuhl erleichtern (Abb. 7). Elektrische Beinstützen ermöglichen die Prophylaxe von Kontrakturen, eine lymphunterstützende Lagerung beziehungsweise einen Lagewechsel oder den vereinfachten Transfer aus dem Rollstuhl. Zentrale und elektrische Beinstützen verkleinern den Wendekreis des Rollstuhls, verbessern Sitzposition und Körpergefühl und sorgen für eine lymphunterstützende Lagerung oder eine Druckentlastung im Kniebereich. Patienten, die den Rollstuhl auch außerhalb des Wohninnenbereichs nutzen, haben mit Hilfe eines elektrisch angetriebenen Rollstuhls zudem die Möglichkeit, ihren Aktionsradius deutlich auszuweiten.
Fazit
Adipositas ist ein komplexes Krankheitsbild, das bei einer unzureichenden Versorgung mit einem nicht optimal geeigneten Hilfsmittel weitere körperliche Folgen (z. B. Druckstellen, Ödeme, begrenzte Bedienmöglichkeiten) und durch eine eventuelle soziale Isolation aufgrund einer eingeschränkten Mobilität auch psychische Folgeerkrankungen nach sich ziehen kann. Die für die Mobilität und den Transfer des Patienten notwendige Versorgung mit einem Rollstuhl sollte daher mit einem speziell auf das Krankheitsbild abgestimmten Produkt erfolgen und grundsätzlich durch einen Spezialisten geleistet werden, der aufgrund seiner Erfahrung und seines Produkt-Know-hows auf der Basis einer ausführlichen Befundaufnahme und einer Wohnfeldanalyse eine adäquate Versorgung auswählen und konfigurieren kann. Steht dem Leistungserbringer kein Experte im eigenen Haus zur Verfügung, leisten auf den Bereich Adipositas spezialisierte Hersteller Unterstützung.
Der Autor:
Maximilian Raab
Dietz GmbH Reha-Produkte
Reutäckerstraße 12, 76307 Karlsbad
info@dietz-reha.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Raab M., Auswahl und Konfiguration einer Rollstuhlversorgung für Adipositaspatienten. Orthopädie Technik, 2019; 70 (5): 34–38
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