Mit einem Treppensturz vor rund 15 Jahren begann die Krankenhausodyssee der heute 50-Jährigen. Die Folge des Sturzes waren zahlreiche Operationen. Der passionierten Badmintonspielerin und ambitionierten Hobbysportlerin wurde schließlich das rechte Bein amputiert. Erst bis zum Knie, dann unterhalb der Hüfte. Im Verlauf der Eingriffe wurde der Oberschenkelknochen immer kürzer. Nicht zuletzt orthopädietechnisch herausfordernd. Und ihre Orthopädietechniker haben die Herausforderung angenommen, wie im Gespräch deutlich wird. Heute arbeitet die gelernte Erzieherin als Motivationscoach, wohnt mit ihrem Lebensgefährten in der Steiermark in Österreich, läuft, schwimmt – und will demnächst mit dem Radfahren starten. Im Interview berichtet Sigrun Passelat, was sie motiviert, welche Rolle ihr Orthopädietechniker in ihrem Leben spielt und warum sie ihre Prothese nicht versteckt.
OT: Frau Passelat, seit wann tragen Sie Ihre aktuelle Beinprothese und wie war der Weg bis dorthin?
Sigrun Passelat: Bei einem Treppensturz 2005 habe ich mir das rechte Knie, Bänder und Knorpel, stark verletzt. Acht Jahre später musste ein künstliches Kniegelenk eingesetzt werden. Doch ein multiresistenter Keim – MRSA – infizierte die Wunde, es folgten mehrere Operationen. Ich wollte unbedingt wieder Sport treiben, doch das lag zunächst in weiter Ferne. Dann 2016 die Entscheidung zur Amputation, mit einer Borggreve-Umkehrplastik (dabei ersetzt das Fuß- das Kniegelenk). Nachdem dies scheiterte, weil meine Knochen nicht zusammenwuchsen, verkürzten weitere Amputationen mein rechtes Bein immer mehr – bis knapp unter die Hüfte. Im Herbst 2018 bekam ich endlich meine Prothese. Doch wieder gab es Komplikationen, aufgrund einer Knochenkrebsdiagnose wurde der Stumpf im Januar 2019 erneut operiert. Jetzt ist der Oberschenkelknochen nur noch sieben Zentimeter lang. Deshalb musste ein neuer Prothesenschaft gefertigt werden. Nach einer Interimslösung ab Mai 2019 erhielt ich dann meine heutige Versorgung. Ich trage das Rheo Knee XC von Össur. Als Prothesenmodel des Unternehmens habe ich die Möglichkeit, unterschiedliche Prothesenfüße wie den Pro-Flex LP Align oder den Pro-Flex auszuprobieren. Mein Standardfuß ist der Pro-Flex XC.
Nicht aufgeben – „Stay strong“
OT: Wie haben Sie sich immer wieder motiviert weiterzumachen?
Passelat: Meine Tochter und mein Sohn, heute 27 und 23 Jahre alt, waren meine wichtigste Motivation weiterzukämpfen. Sie waren mein Antrieb, gerade als ich nach der MRSA-Infektion auf der Intensivstation lag und es mir besonders dreckig ging. Doch es war ebenfalls der Sport, der mir ins Leben zurückgeholfen hat. Denn Sport und Wettkampf haben für mich schon immer eine große Rolle gespielt – ob Badminton als Leistungssport in meiner Jugend, später Halbmarathon. Ich wollte es einfach schaffen, wieder aktiv zu sein – und zu zeigen, was möglich ist, auch mit einem sehr kurzen Stumpf. Auf meinem rechten Unterarm ist „Stay strong“ eintätowiert. Ich will meine Grenzen überwinden, nach Rückschlägen immer wieder aufstehen. Aufgeben ist keine Option für mich! Das möchte ich ebenso anderen Amputierten vermitteln. Deshalb habe ich begonnen, als Motivationscoach zu arbeiten.
OT: Wie sieht Ihr Sportprogramm aus?
Passelat: Zuerst habe ich intensiv im Fitnessstudio trainiert. Doch da bekam ich schnell massive Stumpfprobleme durch starke Volumenschwankungen. Mein Orthopädietechniker hat dann einen speziellen Schaft konstruiert, um dies auszugleichen. Inzwischen steht bei mir das Lauftraining im Mittelpunkt, um bei Langstreckenläufen erfolgreich ins Ziel zu kommen. Dann habe ich Ende 2019 den Schwimmsport entdeckt – ein optimales, ergänzendes Ganzkörpertraining für mich, das die Rumpfstabilität fördert. Eine Badeprothese nutze ich nicht. Mit meinem sehr kurzen Oberschenkelstumpf könnte ich die Bewegungen nicht richtig ausführen. Ein Triathlet aus Kiel, ebenfalls oberschenkelamputiert, hat mir über Social Media Tipps gegeben und mir meinen ersten Triathlonanzug gesponsert. So ein Anzug stabilisiert und gibt Auftrieb im Wasser, sofort haben sich meine Zeiten verbessert. Ich schwimme Langstrecke bis 1.500 Meter. Zuhause mache ich ein paar Übungen für den Stumpf, dehne zum Beispiel den Hüftbeuger.
OT: Wann war Ihr letzter großer Lauf?
Passelat: Den 5‑Kilometer-Run des virtuellen Graz-Marathons im Oktober 2020 habe ich zusammen mit meinem Lebensgefährten absolviert. Zuvor hatte ich Ende August am Rupertusthermen-Lauf in Bad Reichenhall teilgenommen. Ich war sehr stolz, den Nordic-Walking-Wettbewerb – 6,75 Kilometer bei 35 Metern Höhenunterschied – überhaupt geschafft zu haben und nach 1:46:15 als Letzte über die Ziellinie zu kommen. Weil mein Knie in Reparatur war, lief ich mit einer einfacheren Versorgung. Nach einem Drittel der Strecke schmerzte mein Stumpf und ich beschloss, den Rest ohne Prothese auf den Unterarmgehstützen zu bestreiten.
Finanzierung für eine Sportprothese
OT: Sie tragen keine Sportprothese?
Passelat: Nein. Ich hatte dieses Jahr noch in Deutschland bei meiner gesetzlichen Krankenversicherung den Antrag auf Kostenübernahme für eine Sportprothesenversorgung gestellt. Er wurde abgelehnt mit der Begründung, dass die Förderung des Freizeit- und Vereinssports grundsätzlich nicht zu den Aufgaben der Krankenkassen bei der Hilfsmittelversorgung gehört. Ich benutze bei den Langstreckenläufen mein Alltagsmodell, das eigentlich für solche Belastungen nicht ausgelegt ist. Mit der Teilnahme an Breitensport-Events möchte ich auf dieses Problem aktiver Menschen mit Prothese aufmerksam machen. Zudem sammle ich über eine Crowdfunding-Plattform (Möglichkeit, online Geldgeber für Projekte zu finden. Anmerkung der Redaktion) Geld, um eine Sportprothese zu finanzieren – 15.000 Euro sind dafür nötig. Testen durfte ich ein solches Spezialmodell bereits.
OT: Welche sportlichen Ziele haben Sie sich für die Zukunft gesteckt?
Passelat: Ich kombiniere ja bereits Schwimmen und Laufen. Ich will mir noch ein Fahrrad anschaffen. Immerhin hat mein Prothesenknie eine Radfahrerkennung – und man kann hier kilometerweit Fahrrad fahren.
OT: Wie wichtig ist Ihnen bei Ihren Vorhaben die orthopädietechnische Betreuung?
Passelat: Mein Orthopädietechniker ist ein wesentlicher Teil meines Lebens, er gehört dazu. Das Zwischenmenschliche muss stimmen, sonst klappt die ganze Versorgung nicht. Wichtig ist, dass er sich mit meinen Wünschen auseinandersetzt. Denn letzten Endes muss ja ich mit der Prothese klarkommen. Deshalb habe ich das letzte Wort. Bisher hat das gut funktioniert und wir haben an einem Strang gezogen. Orthopädietechnikmeister Thamm vom Sanitätshaus C. Beuthel (Wuppertal), der mich bis zu meinem Umzug nach Österreich im Sommer 2020 betreute, sagte immer: „Du bist die Anwenderin, du weißt genau, was du willst – und das ist gut so.“ Im Sanitätshaus hatte ich sogar einen Job in der Verwaltung gefunden, war außerdem Ansprechpartnerin für Menschen mit Amputationen, habe Vorträge vor Schulklassen gehalten.
OT: Auf Fotos ist Ihre Prothese auch im Alltag deutlich zu sehen – zeigen Sie Ihr „Hightech-Bein“ immer?
Passelat: Ich habe an all meinen Hosen das rechte Bein abgeschnitten. Die Prothese ist ein Teil von mir, ist mein neues Bein. Warum sollte ich sie verstecken? Außerdem funktioniert sie besser, wenn kein Hosenbein bzw. keine Schaumkosmetik übergezogen ist. Wenn ich Kleider trage, ist die Prothese ebenfalls zu sehen, ohne Kosmetik. Für besondere Anlässe habe ich zwei Schmuckcover, die ich aber selten einsetze, weil sie mit 600 bis 800 Gramm recht schwer sind.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
Drei Fragen an Holger Thamm, Orthopädietechnikmeister im Wuppertaler Sanitätshaus C. Beuthel, der die orthopädietechnische Versorgung Sigrun Passelats bis zu ihrem Umzug im Sommer 2020 verantwortet hat.OT: Worin lag die besondere Herausforderung bei dieser prothetischen Versorgung?
Holger Thamm: Durch die Operationen wurde der Knochen immer kürzer. Zudem waren die Stumpfschwankungen gravierend. Eine Prothese, die morgens gut passte, war abends zu weit oder zu eng. Das habe ich so noch nie erlebt. Sigrun hat ein Aktivitätstagebuch geführt und auch eingetragen, was sie gegessen hat. Doch wir konnten die Ursache nicht finden. Anfangs hat sie einen Liner mit Pin verwendet, doch es zeigte sich, dass der Stumpf mit dem Pin-System nicht kompatibel war. Denn der Schaft wird nur zu einem Drittel vom Knochen geführt, der Rest ist mit Weichteilen aufgefüllt. Wir stellten dann ein Standardunterdrucksystem ohne Liner her. Doch durch die Volumenschwankungen kam Luft in den Schaft. Er lockerte sich, sodass sie ihn verloren hat bzw. neu anziehen musste.OT: Welche Lösung haben Sie gefunden?
Thamm: Eine Mischung aus Liner und Unterdruck. Den Unterdruck, um das Volumen zu halten, sowie eine Verlängerung (Elongation) und Pin, um die Prothese vor Verlust zu sichern. Statt eines 40- oder 38- habe ich einen 34-er konischen transfemoralen Liner gewählt. Alles darüber zog Luft. Aber diese spezielle Konstruktion scheint besser zu funktionieren als die anderen Lösungen.OT: Was haben Sie aus der Arbeit mit Frau Passelat mitgenommen?
Thamm: Die Zusammenarbeit mit Sigrun war herausfordernd, hat aber großen Spaß gemacht. Sie will zeigen, was sie kann. Durch die geplanten Laufevents von Sigrun bzw. vorgesehene Foto-Shootings blieb für nötige Änderungen an der Prothese oft wenig Zeit. Sigrun war da sehr bestimmt – aber ebenfalls sehr geduldig. Sie hat uns im positiven Sinn unter Druck gesetzt.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
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