Einführung
Größe, Sperrigkeit und Gewicht gelten als Hauptgründe für die Unzufriedenheit von Patienten mit orthetischen Versorgungen 1. Eine nutzergerechte Gestaltung von Orthesen im Sinne einer Gewichtsreduktion bei gleichbleibender Funktionalität und akzeptablen Abmessungen setzt die Kenntnis der auf die Komponenten wirkenden mechanischen Lasten voraus. Die Optimierung von Orthesenkomponenten ist jedoch aufgrund fehlender Standards schwierig. Die existierenden Normen (EN ISO 22523) schreiben lediglich Prüfmethoden für die statische Prüfung vor, ohne die Belastungsniveaus zu definieren 2. Als Konsequenz fehlender Richtlinien erfolgt die Orthesenentwicklung bisher auf empirischer Basis. Das führt einerseits dazu, dass einige Orthesenkomponenten unter Umständen nicht beanspruchungsgerecht ausgelegt werden und später im Feld versagen können. Auf der anderen Seite sind viele Orthesenkomponenten möglicherweise überdimensioniert, was zu schweren und sperrigen Konstruktionen und somit zu einer schlechten Patientenakzeptanz führt. Das liegt vor allem daran, dass bisher kaum gesichertes Wissen über die tatsächlichen Belastungen von Orthesen existiert. Zwar ist bekannt, dass eine Übertragung ganganalytisch erfasster Belastungen bei gesunden Probanden auf pathologische Fälle unzulässig ist 3 4 5. Es ist außerdem bekannt, dass die Belastungen einer Orthese von einer Vielzahl von individuellen Patienteneigenschaften (Muskelstatus, Fehlstellung, Gewicht etc.) und konstruktiven Eigenschaften der Orthese (z. B. Materialsteifigkeit, Hebellängen etc.) abhängig sind 5. Eine valide quantitative Vorhersage über die resultierenden Belastungen bei einer geplanten orthetischen Versorgung eines konkreten Patienten ist bis dato allerdings nicht möglich.
Bisherige Ansätze, das vorhandene empirische Wissen über die Belastbarkeit von Orthesen anhand analytischer Überlegungen zu systematisieren 6, können dem Orthopädie-Techniker zwar wertvolle Hinweise liefern, stellen am Ende aber nur einfache Modelle dar. Sie bedürfen wie alle Modelle einer (messtechnischen) Validierung und sind zudem nicht in der Lage, die Wirkung einzelner Einflussfaktoren miteinander zu verrechnen.
Die Kenntnis des Ursprungs und der Amplitude der Belastungen kann mit Hilfe sogenannter integrierter Sensorik gewonnen werden. Das sind Messsysteme, die sich in die Orthese integrieren lassen und die auf die Orthesenkomponenten wirkenden Belastungen direkt erfassen. Diese Messsysteme müssen sich unkompliziert in die Orthese einbauen lassen und dürfen den Patienten weder durch eine Volumen- oder Gewichtserhöhung noch durch eine aufwendige Verkabelung beeinträchtigen. Aus technologischen Gründen und wegen des damit verbundenen Aufwandes ist es bisher noch nicht gelungen, Orthesenbelastungen an ausreichend großen Probandenkollektiven zu untersuchen.
Stand der Wissenschaft und Technik
Die ersten Messungen von Orthesenbelastungen fanden bereits Ende der 60er Jahre statt: Kirkpatrick et al. 7 erfassten mit Hilfe einer instrumentierten Orthese die axialen Druckkräfte sowie die sagittalen und frontalen Biegemomente proximal des Knöchelgelenks. Da die Messung jedoch nur exemplarisch an einem gesunden Probanden erfolgte, hatten die Ergebnissekeine praktische Relevanz. Trappitt et al. 8 führten Anfang der 80er Jahre erste Belastungsanalysen an Orthesen der unteren Extremität mittels spezieller Mehrkomponentensensoren durch. Trotz des für die Zeit sehr fort schrittlichen messtechnischen Ansatzes wurdenaufgrund des hohen Aufwandes zur Herstellung individueller Messorthesen nur wenige Patientenmessungen durchgeführt.
Zur Minimierung des Aufwandes wurden einige Versuche unternommen, Orthesenbelastungen mit Hilfe konventioneller ganganalytischer Methoden zu ermitteln. Exemplarisch dafür ist das EU-geförderte Projekt ORLOAD. Dabei wurden in vier europäischen Labors ganganalytische Messungen an insgesamt 164 Patienten durchgeführt und die auf die Gelenke wirkenden Momente mit Hilfe inverserDynamik berechnet 9. Die dabei getroffenen Annahmen (keine Verschiebungen zwischen Bein und Orthese, keine belastungsrelevante Wirkung von Muskeln und Bändern u. Ä.) entsprechen jedoch keineswegs den realen Bedingungen. Die in der Studie vorgenommene Mittelwertbildung über alle Patienten ohne Berücksichtigung der indikationsbezogenen Patienten eigenschaften ist zudem kritisch zu hinterfragen – die bei Patienten mit Beugekontrakturen gemessenen Flexionsmomente kompensieren bei der Mittelwertbildung die für die Patienten mit Genu recurvatum typischen Extensionsmomente.
Die Arbeitsgruppen von Andrysek et al. 3 und Bernhardt et al. 4 haben anschließend Versuche unternommen, Orthesenbelastungen mit Hilfe industrieller Kraftsensoren zu bestimmen. Die Kraftsensoren ersetzen dabei das Gelenk einer Orthese, weisen jedoch Limitationen hinsichtlich des Bauraumes auf und erhöhen das Gewicht der Orthese um bis zu 70 Prozent. Die biomechanische Funktion der Gelenke geht zudem verloren, sodass ausschließlich Messungen an versteiften Extremitäten möglich sind, die keine Aussage über die realen Belastungen erlauben. Zudem ist es aufgrund des Platzbedarfs nicht möglich, an bilateralen Orthesen medial zu messen oder den Sensor als Knöchelgelenk zu verbauen. Da die Sensoren aufgrund ihres Platzbedarfs nicht in existierende Orthesen eingebaut werden können, sind die Stichprobengrößen zudem weiterhin sehr klein.
Um diese Nachteile zu kompensieren, haben Hochmann et al. 5 instrumentierte Sensor-Adapter entwickelt, die in die bestehenden Orthesengelenke integriert werden können. Dadurch war es erstmalig möglich, die Belastungen am freischwingenden Kniegelenk und am Knöchelgelenk zu erfassen, allerdings nur in der Sagittalebene. Die zusätzliche Bauhöhe der Adapter veränderte jedoch die Gelenkabstände, sodass eine Neuanfertigung der Orthese nicht vermieden werden konnte.
Die Analyse des Standes der Wissenschaft zeigt, dass es erforderlich ist, ein Messsystem zu entwickeln, das in existierende Orthesen integriert werden kann und das die Belastungen auf allen Ebenen registriert. Nur durch den „einfachen“ Austausch der Original-Orthesengelenke gegen die Messgelenke ist ein größeres Patientenkollektiv erreichbar. Erst die massenhafte Datenerhebung an unterschiedlichen Patienten kann zu validen Modellierungen führen, wie es z. B. von Kaufman et al. 10 gefordert wird.
Methodik
Um dieses Ziel zu erreichen, wurde eine Methode entwickelt, die die gängigen Orthesengelenke als Verformungskörper für die Instrumentierung mit Dehnungsmessstreifen (DMS) nutzt und diese in ein modulares Messsystem integriert 11 12. Da jedoch das ursprüngliche Design des Gelenks aufgrund der Bauteilsicherheit nicht wesentlich verändert werden darf, mussten zwei Hauptprobleme gelöst werden: Zum einen ist es aufgrund der hohen Steifigkeit des Verformungskörpers schwierig, einen ausreichenden Signalhub und ein akzeptables Signal-Rausch-Verhältnis zu erhalten. Zum anderen führt die asymmetrische Form des Gelenkkörpers zu einem hohen Quersprechen zwischen dem Sagittalmoment und den auf den anderen Ebenen gemessenen Momenten. Die räumliche Beschränkung in einer Orthese am Patienten und mögliche Beschädigungen durch mechanische Einflüsse stellen weitere Herausforderungen hinsichtlich der Miniaturisierung und des Schutzes des Gesamtsystems dar.
Die grundlegende methodische Vorgehensweise zur Überwindung dieser Herausforderungen ist in Abbildung 1 dargestellt. Ausgangspunkt der Sensorentwicklung ist ein marktübliches Orthesengelenk. Die Verfahrensweise für den methodischen Entwicklungsprozess erfordert den Aufbau eines abstrakten, aber der Realität entsprechenden Finite-Elemente-(FE-)Modells. Die Lagerungs- und Krafteinleitungsbedingungen sowie die Werkstoffdaten müssen dabei bekannt sein. Der Volumenkörper soll in geeigneten Bereichen idealisiert sein, über ein geeignetes FE-Netz mit entsprechender Netzsteuerung und Elementen mit erforderlichen Freiheitsgraden und Feinheit verfügen sowie die Lagerungs- und Krafteinleitungsbedingungen angemessen abbilden. Das Ziel lautet, den Sensor anforderungsgerecht hinsichtlich Mechanik und Sensorik (Bauraum, Festigkeit, Verformung, Linearität, Signalhub, Quersprechen, Signalrauschen) zu konzipieren.
Die Applikationsorte und die Ausrichtung der DMS leiten sich aus der Simulation ab. Die Sensorkonzeption ist ein iterativer Prozess mit parallel ablaufenden FE-Analysen und Modellrechnungen der technischen Mechanik. Die parallel ablaufenden mathematischen Ansätze bieten den Vorteil der gegenseitigen Plausibilitätskontrolle und bewirken eine Reduktion der Iterationsschleifen. Kernpunkt dieser Methodik ist das sogenannte Test-Operate-Test-Exit-Modell 13. Die Iterationsschleife wird beendet, sobald eine akzeptable Materialdehnung für die DMS-Messungen oder die zulässige Materialspannung erreicht ist. In einigen Fällen, z. B. bei einem Dorsalanschlag, ist der Verformungskörper nicht für die Instrumentierung geeignet. Hier muss die Vorgehensweise gegebenenfalls durch eine Sensor-Neuentwicklung ergänzt werden.
Nachdem ein Optimum an Modifikationen bestimmt wurde, erfolgt die fertigungstechnische Umsetzung durch die mechanische Bearbeitung des Verformungskörpers. Dieser wird mit geeigneten DMS und Applikationsmitteln in der jeweiligen Hauptspannungsrichtung instrumentiert und verschaltet. Die Gelenke werden anschließend in speziellen Vorrichtungen kalibriert – dies ermöglicht die Validierung der durchgeführten FE-Analysen und die Charakterisierung der Sensoren. Validierte Simulationen dienen anschließend im Rahmen einer Risikobewertung als Grundlage des Nachweises der Unbedenklichkeit der vorgenommenen Bauteilmodifikationen. Dazu werden die Verformungen versagenskritischer Gelenkbereiche für die vom Hersteller angegebenen maximalen Belastungen berechnet und bewertet. Das Blockdiagramm des Gesamtmesssystems ist in Abbildung 2 dargestellt. Es besteht neben den Messgelenken aus einer Elektronik zur Verstärkung und Speicherung von Signalen. Kalibrierungsdaten werden dabei direkt auf dem Chip gespeichert. Das System besitzt einen mobilen photoelektrischen Trigger zur Synchronisation mit der konventionellen Ganganalyse. Bei mobilen Messungen im Feld ermöglicht die in der Messelektronik auf dem Gelenk befindliche Inertialsensorik eine Stand- und Schwungphasenerkennung sowie eine Erfassung von Gelenkwinkeln. Die entwickelten Messgelenke lassen sich in kürzester Zeit und ohne Veränderung der Orthesenkonfiguration verbauen und dadurch einfach in eine Patientenversorgung integrieren. Das zusätzliche Gewicht beträgt dabei nur 60 g pro Gelenk. Da das System drahtlos ist, gibt es keine Kabel, die die beweglichen Teile der Orthese oder die Bewegung des Patienten stören könnten.
Anwendung zur Charakterisierung des Patienten
Das Messsystem wurde in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Heidelberg dazu eingesetzt, die beim Tragen einer GRAFO wirkenden Belastungen zu erfassen 14. Die Messungen wurden in Kombination mit einer optischen Ganganalyse (Fa. Vicon) bei verschiedenen Aktivitäten durchgeführt; das Untersuchungskollektiv umfasste gesunde Probanden und ICP-Patienten.
Die Anwendung der Messgelenke zur Charakterisierung des Patienten lässt sich an den gewonnenen Daten exemplarisch demonstrieren. Abbildung 3 zeigt den sagittalen Momentenverlauf für das ebene Gehen einer gesunden Probandin, die mit einer unilateralen GRAFO und einem System-Messgelenk mit eingestelltem Dorsalanschlag von 0° versorgt war. Das über die inverse Dynamik bestimmte externe Knöchel-Gelenkmoment (gestrichelte Linien) ist im Vergleich zur gemessenen Orthesenbelastung (volle Linien) dargestellt. Man erkennt, dass das externe Moment zwar eine ähnliche Kurvenform aufweist, jedoch viel größer ist als das gemessene Moment im Orthesengelenk. Das bedeutet, dass der Großteil des äußeren Moments durch das interne Muskelmoment des Probanden kompensiert wird. Je größer der Unterstützungsbedarf des Patienten durch die Orthese ist, desto kleiner muss demnach die Differenz beider Momente ausfallen. Diese These wird durch die Messungen mit ICP-Patienten bestätigt. Abbildung 4 zeigt die gleichen Momentenverläufe für einen ICP-Patienten mit einem für die Indikation typischen Kauergang. Der Patient nutzte Gehstützen, die einen Kraftnebenschluss zu den Kraftmessplatten der Ganganalyse erzeugen, wodurch die externen Gelenkmomente fehlerbehaftet sind. Trotz dieser Einschränkung lässt sich gut erkennen, dass kaum noch eine Differenz zwischen beiden Momenten besteht. Die Ergebnisse legen nahe, dass durch die Kombination beider Systeme erstmalig die verbleibende Muskelfunktion eines Patienten und der Unterstützungsbedarf durch die Orthese quantifiziert werden können. Welche klinische Relevanz die gewonnenen Erkenntnisse haben können, muss durch weitere Untersuchungen geklärt werden. Weitere potenzielle Anwendungen sind z. B. die Erkennung und Charakterisierung von Spastiken.
Die Untersuchung wurde zudem genutzt, um die im Messgelenk integrierte Inertialsensorik mit dem Vicon-System als Goldstandard zu vergleichen. Bei allen untersuchten Aktivitäten waren die Unterschiede zwischen Vicon und dem hier vorgestellten System in den Zeit-Distanz-Parametern sehr gering (< 3 %). Die Abweichungen bei den Gelenkwinkelverläufen waren bis auf die Umkehrpunkte minimal.
Anwendung zur Optimierung des Orthesenaufbaus
In Zusammenarbeit mit der orthopädischen Werkstatt UKM Protec in Münster wurde das Messsystem in einer gesperrten bilateralen KAFO-Testversorgung eines Polio-Patienten verbaut, um Empfehlungen zur Optimierung des Aufbaus liefern zu können. Der aktive Patient (65 Jahre alt, 180 cm groß, 68 kg schwer) wurde im Sanitätshaus bereits mehrfach versorgt, wobei es in der Vergangenheit zu Bauteilversagen bzw. starkem Verschleiß kam. Durch die Untersuchung sollten vorrangig die folgenden Fragen beantwortet werden:
- Ist ein unilateraler Aufbau der Orthese möglich?
- Welche minimale Systemschienenbreite kann als sicher betrachtet werden?
- Bei welchen Aktivitäten treten Überlasten auf?
Die Versorgung (Abb. 5) wurde so konstruiert, dass das Patientenbein kaum Druckbelastungen aufnehmen muss. Hintergrund dessen ist, dass das Bein des Patienten in der Vergangenheit bei zu großem Druck am Knöchel anschwoll. Die Orthese nimmt einen Teil des Patientengewichts über den Sitzbein-Aufsitz am proximalen Ende der proximalen Orthesenschale, über die Innenflächen sowie über die Verschlüsse und Klettgurte auf. Es wurden die Aktivitäten „ebenes Gehen“ (5 m), „Rampe aufwärts“ (3,5 m) und „Treppe abwärts“ (4 Stufen) untersucht. Exemplarische Messergebnisse für die Aktivität „ebenes Gehen“ sind in Abbildung 6 dargestellt.
Die Hauptbelastungen treten erwartungsgemäß in der Sagittalebene auf, wobei das Flexionsmoment am Orthesenkniegelenk stets geringer ist als das Dorsalextensionsmoment am Knöchelgelenk. Es zeigt sich, dass auf der Rampe die Belastungsdauer und die Amplitude des sagittalen Moments am Knöchelgelenk deutlich ansteigen, während die Sagittalmoment-Amplituden am Kniegelenk leicht abnehmen. Beim ebenen Gehen und auf der Rampe wirkt zudem auf das rechte Kniegelenk ein höheres Flexionsmoment als auf das linke Gelenk.
Die in der Untersuchung gemessenen Spitzenbelastungen wurden mit den Vorgaben des Herstellers abgeglichen, um die optimale Systemschienenbreite auszuwählen. Darüber hinaus wurden die gemessenen Momentein der Frontal- und Horizontalebene verwendet, um die Sicherheit eines möglichen unilateralen KAFO-Aufbaus zu bewerten. Bei den ohne Kenntnis der vorherigen Versorgungshistorie des Patienten getroffenen Empfehlungen wurde eine sehr gute Übereinstimmung mit dem Erfahrungswissen der versorgenden Orthopädie-Techniker festgestellt.
Neben der Festigkeitsbetrachtung liefern die gemessenen Werte auch Aussagen zur funktionellen Optimierung der Versorgung. So konnten die Auswirkungen der vorgenommenen Anpassungen am Dorsalanschlag unmittelbar in den Momentenverläufen der Gelenke registriert werden. Je früher der Dorsalanschlag wirksam wird, desto geringer wird verhältnismäßig das flektierende und umso größer das extendierende Kniegelenkmoment. Gleichzeitig steigen die Länge der Belastungsphase und die Höhe des extendierenden Knöchelgelenkmoments an; dies gilt insbesondere für das Aufwärtsgehen an der Rampe.
Die Ergebnisse zeigen, dass mit instrumentierten Orthesengelenken erstmalig Messungen zur Optimierung des Orthesenaufbaus mit verhältnismäßig geringem Aufwand, ohne Patienten-Beeinflussung und ohne Ganglabor möglich sind. Die Tatsache, dass die Messungen nicht ortsgebunden sind, erlaubt zudem längere Messungen in der gewohnten Umgebung des Patienten, die auch Gewöhnungseffekte sichtbar machen können.
Anpassung des Systems an andere Gelenke
Ein breiter Einsatz der instrumentierten Gelenke in der Praxis ist nur dann möglich, wenn der technische Aufwand für die Anpassung an verschiedene Gelenkmodelle überschaubar ist. Um die technischen, zeitlichen und wirtschaftlichen Randbedingungen dazu zu klären, wurde die vorgestellte Methodik im Rahmen eines Kooperationsprojektes mit Roessingh R&D (Enschede, NL) auf ein anderes Gelenkmodell angewendet.
Die Anpassung des Messsystems an das Knöchelgelenk „Nexgear Tango“ (Fa. Ottobock) konnte unter Beibehaltung der existierenden Systemkomponenten (Messelektronik, Lichtschranken, Auswertesoftware etc.) und der Nutzung vorhandener Kalibrierstände erfolgen, sodass lediglich die Prozessschritte zur Instrumentierung, Kalibrierung und Validierung des Verformungskörpers durchlaufen werden mussten. Die Entwicklung konnte aufgrund des vorhandenen Know-hows innerhalb eines Monats abgeschlossen werden, obwohl die Konstruktion des Gelenks „Nexgear Tango“ eine Neuentwicklung der Sensorik zur Sagittalmomenterfassung erforderlich machte(Abb. 7). Es muss jedoch angemerkt werden, dass der Zugang zur technischen Dokumentation des Herstellers eine unabdingbare Voraussetzung für eine schnelle Anpassung darstellt.
Fazit und Ausblick
Die Ergebnisse zeigen, dass es möglich ist, marktübliche orthopädische Gelenke in ein modulares Messsystem umzuwandeln, das nicht unter den Einschränkungen früherer Studien wie hohes zusätzliches Gewicht und Veränderungen der Gangmuster leidet. Darüber hinaus können die Messungen auch außerhalb des Ganglabors im üblichen Umfeld des Patienten durchgeführt werden. Da das Messsystem äußerst kompakt ist und die Probanden nicht beeinflusst, sind Messungen im Feld einfach realisierbar.
Es wurde gezeigt, dass durch den modularen Ansatz die Anpassung des Messsystems an ein anderes Gelenkmodell in kürzester Zeit und mit einem geringen Kostenaufwand möglich ist. Damit sind erstmalig Reihenmessungen möglich, die die Grundlage für die Entwicklung der zukünftigen Qualitätsstandards und Aufbauempfehlungenbilden können. Des Weiteren lassen sich die Messgelenke in den regulären Versorgungen als Optimierungswerkzeug einsetzen. Andere mögliche Einsatzbereiche der Sensoren sind die Überwachung des Rehabilitationsstatus in der Therapie sowie die Steuerung intelligenter Hilfsmittelkomponenten.
Zunehmende Bedeutung können instrumentierte Gelenke im Rahmen der Konformitätsbewertung von Orthesenkomponenten gewinnen. Da die gültige harmonisierte Norm (EN ISO 22523) den Hersteller verpflichtet, die erforderlichen Festigkeitsparameter und die dazugehörigen Prüfverfahren zu definieren und zu dokumentieren, selbst aber keine Vorgaben bezüglich Prüfbelastung und Prüfdauer macht, muss der Hersteller die Belastungen seiner Produkte im Rahmen des Konformitätsbewertungsverfahrens klären. Das betrifft nicht nur Neuentwicklungen, sondern auch betriebsbewährte Produkte, da laut der EU-Medizinprodukteverordnung (MDR) alle vor Inkrafttreten der MDR zugelassenen Medizinprodukte erneut nach den neuen Anforderungen zertifiziert werden müssen.
Für die Autoren:
Prof. Dr.-Ing. David Hochmann
Fachhochschule Münster
Fachgebiet Biomechatronik
Stegerwaldstraße 39, 48565 Steinfurt
david.hochmann@fh-muenster.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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- Kinder mit Trisomie 21: Einsatz der Ganganalyse zur adäquaten Schuh- und Orthesenversorgung — 5. November 2024
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