OT: Wie beurteilen Sie heute Ihre Hilfsmittelversorgung von 1981?
Andreas Pröve: Grau, uniform, schwer und unhandlich: 1981 musste ich mit einem handelsüblichen Rollstuhl aus Chrom mit Stoffbespannung leben. Der Wendekreis war riesig, zwischen mein Becken und der Seitenlehne passte eine ganze Tasche. Und jeder Rollstuhl war serienmäßig mit Armlehnen ausgestattet. Außerdem konnte man den Rollstuhl nur mit Greifhandbewegungen bedienen. Gepäck war nicht wirklich vorgesehen. Man konnte lediglich einen Rucksack über die Rückenlehne hängen. Der durfte aber nicht zu schwer sein, weil sonst der Rollstuhl umkippte. Die Rollstühle zielten eher auf einen gemütlichen als auf einen aktiven Alltag. Alles zusammengenommen waren das keine guten Bedingungen für einen aktiven Menschen wie mich. Deshalb habe ich als erste Maßnahme die Armlehnen abmontiert, weil sie mich beim Fahren nur behindert haben. Zum Glück kam schon wenige Jahre darauf Farbe ins Spiel, was ich als sensationell empfand. Ich entschied mich für ein rotes Modell, wozu Mitte der 1980er Jahre viel Mut gehörte. Dieser Farbe bin ich seit 35 Jahren treu geblieben.
OT: Was hat sich seither noch verändert?
Pröve: Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte kann ich nur als revolutionär bezeichnen. Inzwischen kann man Rollstühle in Höhe und Breite in Abstufungen von zwei Zentimeter erhalten. Einige Anbieter verfügen auch über Modelle mit noch mehr Abstufungen. Diese Passgenauigkeit ist natürlich ein Gewinn. Ein wichtiger Schritt hin zu robusteren, strapazierfähigeren Rollstühlen war die Einführung von abnehmbaren Rädern. Dadurch, dass die Fußstützen nicht mehr so hervorstehen, hat sich zudem der Wendekreis enorm verringert, sodass wir Rollstuhlfahrer nicht mehr so oft gegen Türen oder Wände stoßen und kleinere Bäder uns ausreichend Platz bieten. Zudem wurde das Gewicht der Rollstühle durch neue Materialien wie Aluminium und später Carbon massiv reduziert. Weniger Gewicht bedeutet mehr Mobilität, ob beim Heben des Rollstuhls ins Auto oder beim Reisen in ferne Länder. Die bedeutendste Innovation war die Erfindung des Handbikes. Im Jahr 1996 ließ ich mir aus den USA das erste Mal ein Handbike zum Testen kommen. Plötzlich konnte ich 15 oder 20 km/h fahren, und das auch noch über unebenes Gelände. Zudem muss man für ein Handbike viel weniger Kraft aufwenden als beim traditionellen Greifen der Räder, um den Rollstuhl fortzubewegen. Ebenso erlaubt ein Handbike die Mitnahme von mehr Gepäck, was für mich als leidenschaftlichen Reisenden enorm wichtig ist. Das war ein unglaubliches Gefühl damals! Die jüngste Neuentwicklung, die ich erst kürzlich testen durfte, besteht aus carbongefederten Rädern. Erstmals seit meinem Unfall konnte ich damit Schotterstraßen oder Waldwege mit Wurzeln schmerzfrei und problemlos überwinden. Ich bin begeistert und freue mich schon auf die weiteren Innovationen, die ich noch erleben darf.
OT: Wie sieht Ihre heutige Versorgung aus?
Pröve: Für den Alltag nutze ich einen handelsüblichen Rollstuhl, der etwa alle fünf Jahre mit Kostenübernahme durch meine Krankenkasse erneuert wird. Mein Verschleiß ist nicht so hoch, weil ich für alle meine Reisen, meinen privat modifizierten und finanzierten Reiserollstuhl verwende. Das gilt sowohl für die Reisen mit meiner Frau, meist innerhalb Europas, als auch für meine Reisen in die Ferne, die ich allein unternehme. Den Reiserollstuhl muss ich im Schnitt alle drei Jahre ersetzen.
OT: Welche Extras hat Ihr Reiserollstuhl?
Pröve: Zum Glück bin ich gelernter Maschinenbauingenieur, sodass ich eigenständig an meinem auf einem handelsüblichen Carbon-Rollstuhl basierendem Reisegefährt arbeiten kann. So toll ein Handbike-Antrieb ist, fordert er doch seinen Preis. Die Gelenke, insbesondere die Schultergelenke werden auf Dauer stark belastet. Für meine letzte große Reise 2018 nach China habe ich daher meinen Rollstuhl mit einem selbst entwickelten Schiebemotor, dem „Triebling“ ausgestattet. Der Verbrennungsmotor befindet sich als Anhänger am Gefährt und ermöglicht eine Geschwindigkeit von bis zu 50 km/h. Falls der Motor kaputt sein sollte oder mir das Benzin ausgeht, kann ich den Rollstuhl mit dem vorhandenen Handbike-Antrieb bewegen. Der handelsübliche Rahmen ist nicht für diese Geschwindigkeiten gebaut, daher habe ich ihn entsprechend verstärken müssen. Im Übrigen habe ich den Rollstuhl vor der Reise komplett auseinandergenommen und mit nur drei verschiedenen Schraubensorten zusammengebaut, damit ich für den Trip nur wenig Werkzeug einpacken musste. Tatsächlich konnte ich mit dieser Konstruktion „Marke Eigenbau“ die mehr als 6.000 Kilometer entlang des Flusses Jangtse quer durch China genießen. Nur die letzten Meter zur Quelle in Tibet musste ich mich von Sherpas tragen lassen. Ohne meine Umbauten wäre das nicht möglich gewesen, weshalb ich diese ganz besondere Reise auch in Buchform unter dem Titel „Gegen den Strom“ verarbeitet habe.
OT: Wie viel Geld und Zeit investieren Sie durchschnittlich in einen Reiserollstuhl?
Pröve: Das kommt sehr darauf an, wohin und wie weit ich reise. Die Konstruktion des Trieblings samt den Verstärkungen am Rollstuhl und zusätzliche Bremsen am Handbike für meine Chinareise haben mich sicher weit über 5.000 Euro gekostet.
OT: Sie leben seit 1983 als Autor, Blogger und Fotograf vom Reisen. Wie kam es dazu?
Pröve: Ehrlich gesagt, war das damals eine Notlösung. Ich fand nach meinem Unfall keinen Job mehr, weder als Tischler noch als Maschinenbauingenieur. Gleichzeitig wollte ich auf das Reisen nicht verzichten. Also habe ich auf meiner ersten großen Reise mit Rollstuhl 1983/1984 durch Sri Lanka und Indien viele Fotos gemacht und im Anschluss in Deutschland Vorträge darüber gehalten. Ich hatte großes Glück und wurde von Anfang an für die Vorträge bezahlt. Es hat aber dennoch einige Zeit gedauert, bis ich wirklich vom Reisen leben konnte, denn in den Trips stecken ja auch viele Investitionen. Mittlerweile halte ich in Deutschland, Österreich und der Schweiz öffentliche Vorträge und Multivisionen, mache aber auch in Schwerpunktkrankenhäusern und Reha-Zentren Station, um zur Rehabilitation „Frischverletzter“ beizutragen. Mir fehlte damals ein Vorbild. Ich kannte niemanden, der weite Reisen im Rollstuhl unternahm.
OT: Wie bereiten Sie sich auf Ihre Reisen vor?
Pröve: Zu Anfang habe ich mich ganz klassisch mit der Lektüre von Büchern vorbereitet. Längst nutze ich vorwiegend das Internet für die Recherche vor und auch während der Reise. China beispielsweise ist flächendeckend mit Highspeed-Internet ausgerüstet, was das Reisen vor Ort enorm erleichtert. Ich muss nicht jeden Weg im Voraus planen, sondern kann auch vor Ort per Google Earth sehen, wie befahren eine Straße ist oder welchen Belag sie hat. Beide Faktoren sind enorm wichtig, denn in Asien kommen die meisten Menschen im Straßenverkehr um. Ich reise daher nur auf Nebenstraßen mit möglichst wenig LKWs neben mir. Teils buche ich Unterkünfte vor. Da ich aber aus Sicherheitsgründen nie nachts fahre, klopfe ich oft spontan bei Bauern an, ob ich die Nacht bei ihnen verbringen darf. Eine Win-Win-Situation: Die Bauern verdienen sich etwas hinzu und ich bekomme einen Einblick in die wirklichen Lebensumstände fernab der normalen Reiserouten. Zur Reiseplanung gehört auch die Mitnahme von Ersatzteilen und Werkzeug. Auch wenn ich heute bis zu 20 Kilogramm Gepäck am Rollstuhl unterbringen kann, ist der Platz sehr begrenzt für die oft monatelangen Reisen. Ich muss also im Vorfeld ebenfalls genau bedenken, welche Ausrüstung ich für die unterschiedlichen Wetterlagen vor Ort benötige.
OT: Haben sich die Reisebedingungen für Rollstuhlfahrer ebenso rasant entwickelt wie die Hilfsmittelversorgung?
Pröve: Leider nein! Die Schwierigkeit beginnt mit der Definition der Barrierefreiheit. Jeder hat da seine eigene Version. Hinzu kommt, dass es „den“ Rollstuhlfahrer nicht gibt. Jede Erkrankung, jeder Unfall zieht andere Beeinträchtigungen und damit Bedürfnisse nach sich. Wirklich barrierefrei würde aus meiner Sicht heißen, dass zum Beispiel Waschbecken stufenlos verstellbar wären. Wie wollen wir in jahrtausende alten Sehenswürdigkeiten Fahrstühle oder Rampen einbauen? Wer soll das alles finanzieren? Vor allem in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern wird daran gearbeitet, Barrieren abzubauen. Eine tolle Sache ist etwa der Universalschlüssel für barrierefreie öffentliche Toiletten, den man sich für 23 Euro bestellen kann. Damit kann ich deutschlandweit barrierefreie öffentliche und vor allem saubere Toiletten öffnen. In Österreich und der Schweiz funktioniert das auch weitgehend. Bei meiner Reise durch Slowenien 2019 ließ sich leider nur eine von 30 Testtoiletten öffnen. Auch in Indien erlebe ich Fortschritte. In Neu Delhi ist immerhin ein Bahnsteig inzwischen mit einer Rampe ausgestattet. Das mag nicht viel sein, aber es ist ein Anfang. Meine Erwartungen sind eh nicht so groß. Aber ich erlebe viel guten Willen und große Hilfsbereitschaft.
OT: Worauf sollten Reisende im Rollstuhl bei der Buchung achten?
Pröve: Rollstuhlfahrer sollten grundsätzlich selber bei den jeweiligen Anbietern anrufen und sich nach den genauen „barrierefreien“ Umständen vor Ort erkundigen. Die Angaben in Portalen sind oft irreführend und die Definition „barrierefrei“ sehr ungenau. Darüber hinaus kennt jeder seine eigenen Einschränkungen und die dazu passenden Anforderungen an die Umgebung am besten.
OT: Welche zusätzlichen Services wünschen Sie sich von Bahn- und Fluggesellschaften oder Reiseveranstaltern?
Pröve: Die Situation bei der Deutschen Bahn ist aus meiner Sicht katastrophal. Noch immer muss ich meine Reise bis drei Tage vor Fahrtantritt bei der Bahn anmelden, damit Bahnpersonal bereitsteht, um mich mit einem Speziallifter in bzw. aus dem Waggon zu heben. Warum gibt es überhaupt noch Stufen in den Zügen? Könnten nicht neue Züge und neue Bahnsteige so gebaut werden, dass diese Barriere wie bei der U‑Bahn entfällt? Bei der Lufthansa etwa funktioniert der Service perfekt. Die Fluggesellschaft stellt einen sogenannten Boardwheelchair, mit dem man an Bord selbst die enge Bordtoilette benutzen kann. Der eigene Rollstuhl wird von Mitarbeitern im Gepäck untergebracht. Bei Inlandsflügen ist der Begleitservice kostenfrei, bei Interkontinalstrecken ist er kostenpflichtig, obwohl er hier besonders notwendig ist. Jeder, der schon mal 15 Stunden seinen Körper beherrschen musste, weiß, wovon ich spreche. Leider gilt ein solcher Service für die wenigsten Fluggesellschaften. Auch hier ist Vorbereitung alles: Vor Antritt einer langen Flugreise gilt es strategisch zu trinken und zu essen und den Darm frühzeitig zu entleeren. Für Gruppenreisen würde ich jedem Rollstuhlfahrer empfehlen, spezialisierte Reiseveranstalter zu nutzen.
OT: Gibt es noch Traumziele auf Ihrer Agenda?
Pröve: Meine Liste an Zielen ist unendlich lang. Zum Beispiel war ich noch nie in Südamerika oder in Australien. Aber ich will meine Reiseziele nicht abhaken wie eine Checkliste, sondern Länder und Leute intensiv erleben. Mein nächstes Ziel wird der Iran sein. Ich war bereits einmal dort und habe nie in meinem ganzen Leben herzlichere und hilfsbereitere Menschen getroffen.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
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