Seit 1987 ist Ulrike Müller in der Gehschule am Berufsgenossenschaftlichen (BG) Klinikum Hamburg tätig. Und so viel lässt sich vorwegnehmen. Sie liebt und lebt ihren Beruf. Und missen möchte sie ihre Erfahrungen nicht, auch wenn sie diese schon oft an ihre Grenzen gebracht haben. Am Klinikum betreut die 59-Jährige Altamputierte sowie Frischamputierte, die kurz zuvor noch auf der chirurgischen Station waren. „Die meisten Patienten, die zum ersten Mal zu mir kommen, sind sehr aufgeregt, wissen nicht, was auf sie zukommt“, berichtet Ulrike Müller. Die anfangs größte Sorge: Schmerzen, die aufgrund der Stumpfkonditionierung vermutet werden. Diese Angst kann Müller meist schnell nehmen. „Die Patienten merken, dass die Wickel, die wir anlegen, anders sind als die Verbände auf den Stationen und diese auch besser halten.“ Der erste Schritt zum angekommen, zum gut aufgehoben Fühlen ist gemacht – und damit auch der Grundstein für Vertrauen gelegt. Eine wichtige Voraussetzung für die weitere Zusammenarbeit.
„Wir wissen nicht, wie es ist, eine Extremität zu verlieren“
In einem Vier-Augen-Gespräch zwischen Orthopädietechniker:in und Patient:in wird das Versorgungskonzept erarbeitet, Fragen rund um das Thema Prothese können besprochen werden. Damit sind die Hauptsorgen des Patienten erst einmal genommen. „Wann kann ich wieder laufen?“, laute häufig die erste Frage und gar nicht mal „wie“, berichtet Müller von ihren ersten Kennenlernen. Im Erstgespräch würden sich die meisten Patient:innen emotional eher zurückhalten, erst nach und nach würden sie sich öffnen und Müller an ihren Gefühlen teilhaben lassen. Und dazu gehöre anfangs vor allem Angst. Angst davor, wie das Leben weitergehen soll. „Anders ist das bei Patienten mit geplanten Amputationen. Die freuen sich oft auf die Versorgung“, sagt Müller, darauf, dass ihnen Schmerzen genommen werden und die Möglichkeit, wieder am Leben teilhaben zu können zurückgegeben wird. Nicht selten müsse Müller besonders ambitionierte Patient:innen bremsen, die zu schnell zu viel wollen, und ihnen klar machen, dass das Lernen und Leben mit Prothese ein langer, oft harter Prozess ist. Ulrike Müller ist bewusst: „Wir Therapeuten und Ärzte wissen nicht, wie es ist, eine Extremität zu verlieren. Denn das haben wir nicht. Ich kann mir vieles vorstellen und ich kann es auch simulieren, indem ich eine Probeprothese trage. Aber ich bin nicht amputiert.“ Vor diesem Hintergrund ist das Klinikum dabei, das Beratungsangebot „Peer Counseling“ weiter zu implementieren. Das Konzept: Patient:innen, die von einer Amputation betroffen sind, erhalten von Menschen mit gleichen Erfahrungen Beratung und Unterstützung. Schwer traumatisierte Patient:innen haben in der Klinik zudem die Möglichkeit, psychologische Betreuung in Anspruch zu nehmen. Denn das können weder die Physiotherapeut:innen noch die Ärzt:innen, Pfleger:innen oder Orthopädietechniker:innen leisten.
Seele und Körper gehen Hand in Hand. Das stellt Ulrike Müller immer wieder fest. Fühlen sich Patient:innen nicht gut, sind mit dem Kopf nicht dabei, sei das Prothesentraining hinfällig. Unter Zwang geht nichts. Die Patient:innen müssen wollen. Und das tun sie oft. Viele würden das Training sehr positiv angehen, später wieder zu Fuß laufen, in einem stabilen Umfeld leben und Träume haben, die sie motivieren weiterzukämpfen. „Ein Patient wollte seine Tochter zum Altar führen können“, erinnert sich Müller. Ein Wunsch, der in Erfüllung gehen sollte.
Kein Platz für Gefühlsduselei
Ulrike Müller hat keine psychologische Ausbildung, hätte sich aber durchaus gewünscht, in der Ausbildungszeit auf das Thema Amputation sowie auf den Umgang mit Patient:innen und das eigene Gefühlsleben vorbereitet zu werden. „Wenn ich helfe, dann ist das mein Bauch, der hilft, und nicht mein Verstand“, betont sie. Ihrer Meinung nach ist es wichtig, in ihrem Beruf zwei offene Ohren zu haben, sich Zeit zu nehmen und den Patienten von sich aus kommen zu lassen. Er müsse bereit sein, sich zu öffnen, von seinen Gefühlen und Gedanken erzählen wollen. „Viele zeigen mir zwar ihren körperlichen Ist-Zustand, nicht aber ihre Seele.“ Das war nicht immer so. Früher seien die Patient:innen offener gewesen, haben das Team noch Jahre nach dem Klinikaufenthalt auf dem Laufenden gehalten. Warum sich das geändert hat, kann Müller nur vermuten. „Vielleicht ist dies auch der Zeit geschuldet, die uns nicht mehr in dem Maße zur Verfügung steht. Krankenhäuser werden Wirtschaftsunternehmen. Für Gefühlsduselei ist da kein Platz mehr.“ Ihrer Freude am Beruf und Motivation tut das jedoch keinen Abbruch. Ein anderer Arbeitsort komme für sie nicht in Frage. „Die Patienten kommen im Rollstuhl zu mir, machen mit mir gemeinsam die ersten Schritte und verlassen in 80 Prozent der Fälle die Klinik wieder zu Fuß“, sagt sie und lächelt. Besonders ergreifend: der Moment, wenn der Patient zum ersten Mal auf den Beinen steht. Tränen würden ihr schnell in die Augen steigen, vor Freude, doch gleichzeitig mache sich auch Ernüchterung breit – auf beiden Seiten lässt die anfängliche Euphorie nach. „Die Patienten werden schnell ruhig. Sie merken: Ich stehe, aber ich stehe auf einer Prothese.“ Und diese sei eben nur ein Hilfsmittel, ein lebloses Ding, das jedoch irgendwann zum Teil des Körpers werde, werden müsse. „Genau da möchten wir die Betroffenen hinführen und sie begleiten.“ Manche würden jedoch nie akzeptieren, dass sie eine Extremität verloren haben. Auch das musste Ulrike Müller lernen.
Erfahrung ist der Schlüssel
Dass sie einmal so sehr in ihrem Beruf aufgehen würde, hätte sich Müller anfangs nicht vorstellen können. In der Ausbildung war sie für ein halbes Jahr im Querschnittgelähmten-Zentrum tätig. Schnell stand fest: „Das möchte ich nicht, kann ich nicht, ist für mich und meine Psyche zu anstrengend. Der Patient sitzt sein Leben lang im Rollstuhl und fragt mich dann immer noch: Wann kann ich wieder laufen?“ Mit der Vermutung, „Gehschule ist das, was mir Freude macht und wird psychisch nicht so anstrengend sein“, startete sie dort. Ein Trugschluss, wie sich später herausstellen sollte. Sie betreute einen jungen Mann, damals ein Jahr älter als sie, der beide Beine und die rechte Hand durch einen Unfall mit einer Landwirtschaftsmaschine verloren hatte, und einen siebenjährigen Jungen, der unter einen Lkw gekommen war und dessen Oberschenkel amputiert werden musste. „Ich habe Heiligabend zu Hause gesessen und geweint“, gibt Müller zu. Während sie zu Berufsbeginn noch viele Schicksale stark belastet hätten, könne sie heutzutage professioneller damit umgehen. Ein absolutes Muss in ihrem Beruf. „Das ist Selbstschutz“, betont sie. Den Spagat zwischen Empathie und Distanz zu schaffen sei nicht leicht, aber notwendig. Der Schlüssel dazu: Erfahrung. Ein Tipp, den sie allen Berufsanfänger:innen mit auf den Weg geben möchte: Schema F gibt es nicht. Jeder Patient ist anders. Er ist ein Mensch, der auch als solcher gesehen werden muss. Und der Job ist nicht nur ein Job, er ist eine Herzensangelegenheit. Ebenfalls entscheidend: Teamwork. Denn die Versorgung und Betreuung der Patient:innen sind kein Einzelkampf. Therapeut:innen, Orthopädietechniker:innen, Pfleger:innen und Ärzt:innen arbeiten alle zusammen, um optimale Unterstützung leisten zu können. Am Ende des Tages verfolgen sie alle das gleiche Ziel: „Wenn die Patienten die Klinik mit einem lachenden Auge verlassen, haben wir gut gearbeitet“, betont Müller. „Und in der Regel tun sie das tatsächlich.“
Pia Engelbrecht
Was haben Sie als Orthopädietechniker:in für Erfahrungen während der Ausbildung oder im Berufsalltag gemacht? Wie gehen Sie mit Schicksalen von Patient:innen um? Lassen Sie uns teilhaben und schicken Sie eine Nachricht an redaktion@biv-ot.org. Wir freuen uns darauf, Ihre Geschichte in einer der nächsten OT-Ausgaben erzählen zu dürfen – gern auch anonym.
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