Im Interview berichtet der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses im BIV-OT über die Erarbeitung neuer Kalkulationsgrundlagen, Diskussionen auf Augenhöhe und die besonderen Herausforderungen von Verhandlungen über Videokonferenzen.
OT: Herr Mayer, die Pandemie wirkt sich auf alle Lebens- und Arbeitsbereiche aus. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Stunden an Vertragsverhandlungen Sie im Namen des BIV-OT in den vergangenen 12 Monaten per Video-Schaltung geführt haben?
Albin Mayer: Ich habe im Durchschnitt jeden Tag ein bis zwei Videokonferenzen auf dem Gebiet der Kassenverhandlungen. Wir haben in den letzten 12 Monaten 8 große Verträge mit einer Reichweite von über 70 Krankenkassen verhandelt und vereinbart. Das sind ca. 100 Verhandlungstage mit à 6 Stunden. Also 600 Stunden verhandeln. Hinzu kommen die Sitzungen mit den Arbeitsgruppen, die eine Art Vorverhandlung bilden und es kommen die Vorbereitungszeiten für die Ausarbeitung des Erstangebotes hinzu.
OT: Welche besondere Herausforderung bringt das Medium Video im Vergleich zu Gesprächen im gleichen physischen Raum mit sich?
Mayer: Eine sehr große Herausforderung ist tatsächlich das Verhandeln mit den Kostenträgern per Videokonferenz. Ganz viel Kommunikation geht ja über das „Zwischenmenschliche“, d. h. die Mimik, die Körpersprache etc. Man merkt sehr schnell, ob ein Vorschlag konsensfähig ist – das gesprochene Wort liefert da nur einen sehr kleinen Teil der Information. Aber es geht auch um ganz praktische Dinge: Im technischen Bereich kann man schnell eine Zeichnung erstellen oder ein Produkt im Original zeigen. Der Ablauf einer Videokonferenz ist ebenfalls ganz anders. Man findet sich nicht erst einmal gemeinsam in einem Raum ein und es gibt keine gemeinsamen Verhandlungspausen. Hier werden sonst oft Missverständnisse und Ungereimtheiten geklärt. Dann finden sich auch Ideen, wie man wieder einen gemeinsamen Weg zueinander im Vertrag findet. Am Bildschirm ist das nicht möglich. Oft haben die Mitarbeiter der Kassen keine Bildübertragung, so dass man sein Gegenüber auch nicht über eine Kameraübertragung vor sich sieht. Man hört nur die Tonspur. Das erschwert Kommunikation ungemein. Es fehlt die Wahrnehmung der Reaktionen und damit ein unglaublich wichtiger Feedback-Kanal. Mehr als 80 Prozent der Wahrnehmung erfolgt non-verbal. Was auch nicht zu unterschätzen ist: Es ist wesentlich anstrengender, 8 Stunden vor dem Bildschirm zu sitzen bei höchster Konzentration als einen strukturierten gemeinsamen Verhandlungstag zu begleiten. Wortmeldungen aller Beteiligten müssen ganz anders moderiert und koordiniert werden. Ein schneller Gedankenaustausch untereinander ist nicht möglich.
Ein großer Schritt in der qualitätsgesicherten Versorgung
OT: Mit mehreren Kostenträgern sind neue PG-24 (Beinprothetik)-Verträge geschlossen worden. Was hat es mit der neuen Struktur seitens des Verbandes auf sich?
Mayer: Der GKV-Spitzenverband hat das Hilfsmittelverzeichnis in der PG 24 untere Extremität komplett neu erarbeitet und schlüssig zum heutigen Stand der Technik erstellt. Er hat sich dabei auch am Kompendium „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der unteren Extremität“ der Deutschen Gesellschaft für Interprofessionelle Hilfsmittelversorgung orientiert und sehr vieles aufgenommen. Für uns als BIV-OT bedeutet dies einen großen Schritt in der qualitätsgesicherten Versorgung. Als die Aktualisierung des Hilfsmittelverzeichnisses für die PG-24-Versorgung mit Beinprothesen veröffentlicht wurde, glaubten wir zunächst blauäugig, dass wir nur den Nummernkreislauf des Hilfsmittelverzeichnisses anpassen müssen. Bei der näheren Sichtung zeigte sich sehr schnell, dass wir alle Kalkulationen im Handbuch der PG 24 neu erstellen und bearbeiten müssen. Eine spezielle Arbeitsgruppe unter der Leitung von Olaf Gawron hat dies in einem Zeitraum von 9 Monaten weitestgehend erledigt. Bei ihm und allen Mitgliedern des Arbeitskreises sowie den Unterstützern aus dem Hauptamt möchte ich mich für diese Leistung bedanken. Die Qualität der prothetischen Versorgung ist mit eindeutigen Leistungsbeschreibungen hinterlegt worden und wird dem Menschen mit einer Beinamputation in Zukunft eine qualitätsgesicherte Versorgung nach Stand der Technik garantieren.
Die betriebswirtschaftlichen Kalkulationen sind den ausgearbeiteten Arbeitsschritten und Prozessabläufen der Versorgung nun entsprechend angepasst worden. Die Entwicklungen in der Versorgung mit neuen Schafttechnologien, Versorgungstechniken wie auch der technische Fortschritt in den Passteilen wurden zu 100 Prozent in den neuen Vereinbarungen mit den Krankenkassen umgesetzt. Dies erspart viel Zeit in der Zukunft beim Erstellen eines Kostenvoranschlags, denn man muss die neue Technik nicht immer wieder neu diskutieren. Unsere Betriebe arbeiten im Alltag mit „Handbuch-Kalkulationen“. Hier sind die Leistungsbeschreibungen, Arbeitszeiten und der Materialeinsatz transparent hinterlegt. Somit kann die Versorgungsqualität nun transparent dargelegt werden und damit auch nachgeprüft werden.
OT: Welche Auswirkung hat die genannte Transparenz für den Versorgungsalltag?
Mayer: Auch in der Interimsprothetik wird man nun dem Nachweis des tatsächlichen Versorgungsaufwandes gerecht. Die Steigerung der Mobilität wird dokumentiert und Funktionsteile entsprechend gewechselt, bis die optimale Lösung für die Definitivversorgung gefunden ist. Hersteller der Pass- und Funktionsteile haben nun MDR-konform Interimspakete im Portfolio und die Sicherheit für den Leistungserbringer im Einsatz dieser Mietteile ist nun gegeben. Damit die in den Vereinbarungen niedergelegte Versorgungsqualität auch in den Versorgungsalltag kommt, haben wir entsprechende Schulungen für die Betriebe und auch Kostenträger angeboten. Insbesondere für die Krankenkassen haben wir die Systematik des neuen Hilfsmittelverzeichnisses und den Übertrag in das Handbuch vorgestellt und entsprechend geschult. Sehr viele Kassen sind bereits der neuen Struktur gefolgt und weitere kommen hinzu.
Ich möchte betonen, dass unsere Fortschritte hier nicht bedeuten, dass wir in der Vergangenheit keine qualitätsgesicherte Versorgung ausgeführt hätten. Sie war nur nicht entsprechend geregelt und transparent mit den Krankenkassen vereinbart. In vielen Teilen wurde unsere Leistung damit auch nicht vergütet. Durch die Beschreibung der Leistung anhand der Versorgungspfade sind künftig auch alle Häuser in der Lage, klar zu erkennen, wie eine qualitätsgesicherte Versorgung zu erfolgen hat. Auch die anderen Beteiligten an der Versorgung wie z. B. Arzt und Physiotherapeut können durch die vorliegenden Versorgungspfade leicht sehen, wie eine Versorgung nach Stand der Dinge laufen sollte. Diese Leistung wird heute auch durch die Kostenträger vergütet, so dass der Anspruch vom Menschen mit einer Amputation auf eine optimale Versorgung nach Stand der Technik sichergestellt werden kann.
OT: Die Mehrheit der Kassen scheint in der jüngeren Vergangenheit dazu bereit gewesen zu sein, die Leistung der Häuser angemessen zu entlohnen. Können Sie diesen Eindruck bestätigen und wie fällt dahingehend Ihr Fazit nach einem Jahr an der Spitze des Wirtschaftsausschusses aus?
Mayer: Das kann ich so unterschreiben. Die Kostenträger zeigten ein sehr hohes Maß an Verständnis für unser Handwerk und unsere Leistung. Die prothetische Versorgung ist sehr vielfältig und kein Therapiekonzept gleicht dem anderen. Natürlich waren alle Kassen am Anfang etwas vorsichtig. Denn die Kostensteigerung bildet mit der Abbildung der neuen Struktur des Hilfsmittelverzeichnisses auch nicht einfach die normalen Inflationsausgleiche und Lohnkostensteigerungen etc. ab. Aber wenn wir die Qualität der Versorgung und damit auch die dahinterstehenden Wertschöpfungs- und Kostenketten transparent darstellen, sperren sich Kostenträger nicht gegen die Vergütung. Auch für die Kostenträger steht die qualitätsgesicherte Versorgung im Zentrum der Verhandlung.
OT: Mit Ihrer Wahl zum Vizepräsidenten im BIV-OT hat sich der Wirtschaftsausschuss neu konstituiert und eigene Arbeitsgruppen zu den speziellen Versorgungsgruppen von der PG 05 (Bandagen) bis zur digitalen Fertigung gegründet. Trägt diese Spezialisierung in der Praxis bereits Früchte?
Mayer: Ja. Wir haben in vielen Produktgruppen die Kalkulationen überprüft und Übertragungsfehler aus Zeiten der Bundesprothesenliste ausgeräumt. Neue Materialien, die den heutigen Fertigungsverfahren entsprechen, sind hinzugefügt. Auch die Fertigung mit Silikon in den Bereichen Orthetik und Prothetik wurde in den Handbüchern mitaufgenommen. Wir haben und werden in Zukunft weiterhin zu allen Hilfsmitteln in der Orthopädie-Technik die entsprechenden Leistungsbeschreibungen und Kalkulationen nach dem aktuellsten Fertigungszustand besitzen. Im Bereich der digitalen Fertigung sind wir mitten bei der Arbeit und die ersten Produkte werden bald auch im Handbuch ersichtlich sein.
Neuer Vertrag in der PG 17
OT: Können Sie uns einen kurzen Einblick in die aktuellen Vertragsgespräche mit Kostenträgern gewähren? Wo sieht es vielversprechend aus? Wo hakt es?
Mayer: Wir haben einen neuen Vertrag in der PG 17 mit einem Kostenträger geschlossen, der seit längerer Zeit keine Verträge mehr verhandelt hat. Eher „Open House“ und Ausschreibung. Dass wir hier einen neuen Vertrag schließen konnten, ist auch in diesem Sinne der richtige Schritt in die richtige Richtung. Wir stehen mit zwei Kostenträgern seit einigen Monaten in der PG 24 in Verhandlungen. Hier sind wir auf dem richtigen Weg und werden auch in Kürze ein Ergebnis sehen. Insgesamt ist zu sagen, dass die Kostenträger unser Handwerk respektieren und auch entsprechend finanziell würdigen. Kein einziger der neu abgeschlossenen Verträge ist ohne Preissteigerung versehen. Über 70 Kostenträger haben die PG 24 eins zu eins aus dem Handbuch übernommen.
Anders sieht es im Bereich Reha aus, hier haben wir es mit einer bundesweiten Kasse zu tun, die den Preis einseitig festgelegt hat. Einige Leistungserbringer haben dies akzeptiert, ohne den Vertragsinhalt genau geprüft zu haben. Das ist sehr traurig, doch nun mal nicht zu ändern.
OT: Die Vertragsabteilung im BIV-OT plant aktuell neue Handbücher von der PG09/23 (FES-Orthesen) bis zur PG 38 (Armprothetik). Wie weit fortgeschritten ist deren Umsetzung mit Blick auf eine Veröffentlichung für die Betriebe?
Mayer: Hier sind wir sehr weit fortgeschritten. Einen festen Termin kann ich derzeit nicht benennen, da noch die Fehleranalyse aussteht. Sobald die jeweiligen Arbeitsgruppen alle Dokumente freigegeben haben, prüft der Wirtschaftsausschuss und gibt entsprechend final frei. Die maßgeblichen Gremien im BIV-OT beraten parallel über die künftigen Zugriffsrechte der Handbücher. Eine Entscheidung darüber ist im April vorgesehen.
Die Fragen stellte Michael Blatt.
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