Albin May­er: „Ver­ständ­nis für unser Handwerk”

Vor etwas mehr als einem Jahr hat Albin Mayer, Obermeister der Innung Sachsen und Thüringen, im Rahmen der Delegiertenversammlung des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT) die Wahl zum Vizepräsidenten im BIV-OT angenommen und blickt nun im Frühjahr 2021 auf eine ereignisreiche Zeit, in die bis heute unter anderem mehr als 100 Verhandlungstage mit Krankenkassen fielen.

Im Inter­view berich­tet der Vor­sit­zen­de des Wirt­schafts­aus­schus­ses im BIV-OT über die Erar­bei­tung neu­er Kal­ku­la­ti­ons­grund­la­gen, Dis­kus­sio­nen auf Augen­hö­he und die beson­de­ren Her­aus­for­de­run­gen von Ver­hand­lun­gen über Videokonferenzen.

Anzei­ge

OT: Herr May­er, die Pan­de­mie wirkt sich auf alle Lebens- und Arbeits­be­rei­che aus. Haben Sie eine Vor­stel­lung davon, wie vie­le Stun­den an Ver­trags­ver­hand­lun­gen Sie im Namen des BIV-OT in den ver­gan­ge­nen 12 Mona­ten per Video-Schal­tung geführt haben?

Albin May­er: Ich habe im Durch­schnitt jeden Tag ein bis zwei Video­kon­fe­ren­zen auf dem Gebiet der Kas­sen­ver­hand­lun­gen. Wir haben in den letz­ten 12 Mona­ten 8 gro­ße Ver­trä­ge mit einer Reich­wei­te von über 70 Kran­ken­kas­sen ver­han­delt und ver­ein­bart. Das sind ca. 100 Ver­hand­lungs­ta­ge mit à 6 Stun­den. Also 600 Stun­den ver­han­deln. Hin­zu kom­men die Sit­zun­gen mit den Arbeits­grup­pen, die eine Art Vor­ver­hand­lung bil­den und es kom­men die Vor­be­rei­tungs­zei­ten für die Aus­ar­bei­tung des Erst­an­ge­bo­tes hinzu.

OT: Wel­che beson­de­re Her­aus­for­de­rung bringt das Medi­um Video im Ver­gleich zu Gesprä­chen im glei­chen phy­si­schen Raum mit sich?

May­er: Eine sehr gro­ße Her­aus­for­de­rung ist tat­säch­lich das Ver­han­deln mit den Kos­ten­trä­gern per Video­kon­fe­renz. Ganz viel Kom­mu­ni­ka­ti­on geht ja über das „Zwi­schen­mensch­li­che“, d. h. die Mimik, die Kör­per­spra­che etc. Man merkt sehr schnell, ob ein Vor­schlag kon­sens­fä­hig ist – das gespro­che­ne Wort lie­fert da nur einen sehr klei­nen Teil der Infor­ma­ti­on. Aber es geht auch um ganz prak­ti­sche Din­ge: Im tech­ni­schen Bereich kann man schnell eine Zeich­nung erstel­len oder ein Pro­dukt im Ori­gi­nal zei­gen. Der Ablauf einer Video­kon­fe­renz ist eben­falls ganz anders. Man fin­det sich nicht erst ein­mal gemein­sam in einem Raum ein und es gibt kei­ne gemein­sa­men Ver­hand­lungs­pau­sen. Hier wer­den sonst oft Miss­ver­ständ­nis­se und Unge­reimt­hei­ten geklärt. Dann fin­den sich auch Ideen, wie man wie­der einen gemein­sa­men Weg zuein­an­der im Ver­trag fin­det. Am Bild­schirm ist das nicht mög­lich. Oft haben die Mit­ar­bei­ter der Kas­sen kei­ne Bild­über­tra­gung, so dass man sein Gegen­über auch nicht über eine Kame­ra­über­tra­gung vor sich sieht. Man hört nur die Ton­spur. Das erschwert Kom­mu­ni­ka­ti­on unge­mein. Es fehlt die Wahr­neh­mung der Reak­tio­nen und damit ein unglaub­lich wich­ti­ger Feed­back-Kanal. Mehr als 80 Pro­zent der Wahr­neh­mung erfolgt non-ver­bal. Was auch nicht zu unter­schät­zen ist: Es ist wesent­lich anstren­gen­der, 8 Stun­den vor dem Bild­schirm zu sit­zen bei höchs­ter Kon­zen­tra­ti­on als einen struk­tu­rier­ten gemein­sa­men Ver­hand­lungs­tag zu beglei­ten. Wort­mel­dun­gen aller Betei­lig­ten müs­sen ganz anders mode­riert und koor­di­niert wer­den. Ein schnel­ler Gedan­ken­aus­tausch unter­ein­an­der ist nicht möglich.

Ein gro­ßer Schritt in der qua­li­täts­ge­si­cher­ten Versorgung

OT: Mit meh­re­ren Kos­ten­trä­gern sind neue PG-24 (Beinprothetik)-Verträge geschlos­sen wor­den. Was hat es mit der neu­en Struk­tur sei­tens des Ver­ban­des auf sich?

May­er: Der GKV-Spit­zen­ver­band hat das Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis in der PG 24 unte­re Extre­mi­tät kom­plett neu erar­bei­tet und schlüs­sig zum heu­ti­gen Stand der Tech­nik erstellt. Er hat sich dabei auch am Kom­pen­di­um „Qua­li­täts­stan­dard im Bereich Pro­the­tik der unte­ren Extre­mi­tät“ der Deut­schen Gesell­schaft für Inter­pro­fes­sio­nel­le Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung ori­en­tiert und sehr vie­les auf­ge­nom­men. Für uns als BIV-OT bedeu­tet dies einen gro­ßen Schritt in der qua­li­täts­ge­si­cher­ten Ver­sor­gung. Als die Aktua­li­sie­rung des Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis­ses für die PG-24-Ver­sor­gung mit Bein­pro­the­sen ver­öf­fent­licht wur­de, glaub­ten wir zunächst blau­äu­gig, dass wir nur den Num­mern­kreis­lauf des Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis­ses anpas­sen müs­sen. Bei der nähe­ren Sich­tung zeig­te sich sehr schnell, dass wir alle Kal­ku­la­tio­nen im Hand­buch der PG 24 neu erstel­len und bear­bei­ten müs­sen. Eine spe­zi­el­le Arbeits­grup­pe unter der Lei­tung von Olaf Gaw­ron hat dies in einem Zeit­raum von 9 Mona­ten wei­test­ge­hend erle­digt. Bei ihm und allen Mit­glie­dern des Arbeits­krei­ses sowie den Unter­stüt­zern aus dem Haupt­amt möch­te ich mich für die­se Leis­tung bedan­ken. Die Qua­li­tät der pro­the­ti­schen Ver­sor­gung ist mit ein­deu­ti­gen Leis­tungs­be­schrei­bun­gen hin­ter­legt wor­den und wird dem Men­schen mit einer Bein­am­pu­ta­ti­on in Zukunft eine qua­li­täts­ge­si­cher­te Ver­sor­gung nach Stand der Tech­nik garantieren.

Die betriebs­wirt­schaft­li­chen Kal­ku­la­tio­nen sind den aus­ge­ar­bei­te­ten Arbeits­schrit­ten und Pro­zess­ab­läu­fen der Ver­sor­gung nun ent­spre­chend ange­passt wor­den. Die Ent­wick­lun­gen in der Ver­sor­gung mit neu­en Schaft­tech­no­lo­gien, Ver­sor­gungs­tech­ni­ken wie auch der tech­ni­sche Fort­schritt in den Pass­tei­len wur­den zu 100 Pro­zent in den neu­en Ver­ein­ba­run­gen mit den Kran­ken­kas­sen umge­setzt. Dies erspart viel Zeit in der Zukunft beim Erstel­len eines Kos­ten­vor­anschlags, denn man muss die neue Tech­nik nicht immer wie­der neu dis­ku­tie­ren. Unse­re Betrie­be arbei­ten im All­tag mit „Hand­buch-Kal­ku­la­tio­nen“. Hier sind die Leis­tungs­be­schrei­bun­gen, Arbeits­zei­ten und der Mate­ri­al­ein­satz trans­pa­rent hin­ter­legt. Somit kann die Ver­sor­gungs­qua­li­tät nun trans­pa­rent dar­ge­legt wer­den und damit auch nach­ge­prüft werden.

OT: Wel­che Aus­wir­kung hat die genann­te Trans­pa­renz für den Versorgungsalltag?

May­er: Auch in der Inte­rims­pro­the­tik wird man nun dem Nach­weis des tat­säch­li­chen Ver­sor­gungs­auf­wan­des gerecht. Die Stei­ge­rung der Mobi­li­tät wird doku­men­tiert und Funk­ti­ons­tei­le ent­spre­chend gewech­selt, bis die opti­ma­le Lösung für die Defi­ni­tiv­ver­sor­gung gefun­den ist. Her­stel­ler der Pass- und Funk­ti­ons­tei­le haben nun MDR-kon­form Inte­rims­pa­ke­te im Port­fo­lio und die Sicher­heit für den Leis­tungs­er­brin­ger im Ein­satz die­ser Miet­tei­le ist nun gege­ben. Damit die in den Ver­ein­ba­run­gen nie­der­ge­leg­te Ver­sor­gungs­qua­li­tät auch in den Ver­sor­gungs­all­tag kommt, haben wir ent­spre­chen­de Schu­lun­gen für die Betrie­be und auch Kos­ten­trä­ger ange­bo­ten. Ins­be­son­de­re für die Kran­ken­kas­sen haben wir die Sys­te­ma­tik des neu­en Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis­ses und den Über­trag in das Hand­buch vor­ge­stellt und ent­spre­chend geschult. Sehr vie­le Kas­sen sind bereits der neu­en Struk­tur gefolgt und wei­te­re kom­men hinzu.

Ich möch­te beto­nen, dass unse­re Fort­schrit­te hier nicht bedeu­ten, dass wir in der Ver­gan­gen­heit kei­ne qua­li­täts­ge­si­cher­te Ver­sor­gung aus­ge­führt hät­ten. Sie war nur nicht ent­spre­chend gere­gelt und trans­pa­rent mit den Kran­ken­kas­sen ver­ein­bart. In vie­len Tei­len wur­de unse­re Leis­tung damit auch nicht ver­gü­tet. Durch die Beschrei­bung der Leis­tung anhand der Ver­sor­gungs­pfa­de sind künf­tig auch alle Häu­ser in der Lage, klar zu erken­nen, wie eine qua­li­täts­ge­si­cher­te Ver­sor­gung zu erfol­gen hat. Auch die ande­ren Betei­lig­ten an der Ver­sor­gung wie z. B. Arzt und Phy­sio­the­ra­peut kön­nen durch die vor­lie­gen­den Ver­sor­gungs­pfa­de leicht sehen, wie eine Ver­sor­gung nach Stand der Din­ge lau­fen soll­te. Die­se Leis­tung wird heu­te auch durch die Kos­ten­trä­ger ver­gü­tet, so dass der Anspruch vom Men­schen mit einer Ampu­ta­ti­on auf eine opti­ma­le Ver­sor­gung nach Stand der Tech­nik sicher­ge­stellt wer­den kann.

OT: Die Mehr­heit der Kas­sen scheint in der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit dazu bereit gewe­sen zu sein, die Leis­tung der Häu­ser ange­mes­sen zu ent­loh­nen. Kön­nen Sie die­sen Ein­druck bestä­ti­gen und wie fällt dahin­ge­hend Ihr Fazit nach einem Jahr an der Spit­ze des Wirt­schafts­aus­schus­ses aus?

May­er: Das kann ich so unter­schrei­ben. Die Kos­ten­trä­ger zeig­ten ein sehr hohes Maß an Ver­ständ­nis für unser Hand­werk und unse­re Leis­tung. Die pro­the­ti­sche Ver­sor­gung ist sehr viel­fäl­tig und kein The­ra­pie­kon­zept gleicht dem ande­ren. Natür­lich waren alle Kas­sen am Anfang etwas vor­sich­tig. Denn die Kos­ten­stei­ge­rung bil­det mit der Abbil­dung der neu­en Struk­tur des Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis­ses auch nicht ein­fach die nor­ma­len Infla­ti­ons­aus­glei­che und Lohn­kos­ten­stei­ge­run­gen etc. ab. Aber wenn wir die Qua­li­tät der Ver­sor­gung und damit auch die dahin­ter­ste­hen­den Wert­schöp­fungs- und Kos­ten­ket­ten trans­pa­rent dar­stel­len, sper­ren sich Kos­ten­trä­ger nicht gegen die Ver­gü­tung. Auch für die Kos­ten­trä­ger steht die qua­li­täts­ge­si­cher­te Ver­sor­gung im Zen­trum der Verhandlung.

OT: Mit Ihrer Wahl zum Vize­prä­si­den­ten im BIV-OT hat sich der Wirt­schafts­aus­schuss neu kon­sti­tu­iert und eige­ne Arbeits­grup­pen zu den spe­zi­el­len Ver­sor­gungs­grup­pen von der PG 05 (Ban­da­gen) bis zur digi­ta­len Fer­ti­gung gegrün­det. Trägt die­se Spe­zia­li­sie­rung in der Pra­xis bereits Früchte?

May­er: Ja. Wir haben in vie­len Pro­dukt­grup­pen die Kal­ku­la­tio­nen über­prüft und Über­tra­gungs­feh­ler aus Zei­ten der Bun­des­pro­the­sen­lis­te aus­ge­räumt. Neue Mate­ria­li­en, die den heu­ti­gen Fer­ti­gungs­ver­fah­ren ent­spre­chen, sind hin­zu­ge­fügt. Auch die Fer­ti­gung mit Sili­kon in den Berei­chen Orthe­tik und Pro­the­tik wur­de in den Hand­bü­chern mit­auf­ge­nom­men. Wir haben und wer­den in Zukunft wei­ter­hin zu allen Hilfs­mit­teln in der Ortho­pä­die-Tech­nik die ent­spre­chen­den Leis­tungs­be­schrei­bun­gen und Kal­ku­la­tio­nen nach dem aktu­ells­ten Fer­ti­gungs­zu­stand besit­zen. Im Bereich der digi­ta­len Fer­ti­gung sind wir mit­ten bei der Arbeit und die ers­ten Pro­duk­te wer­den bald auch im Hand­buch ersicht­lich sein.

Neu­er Ver­trag in der PG 17

OT: Kön­nen Sie uns einen kur­zen Ein­blick in die aktu­el­len Ver­trags­ge­sprä­che mit Kos­ten­trä­gern gewäh­ren? Wo sieht es viel­ver­spre­chend aus? Wo hakt es?

May­er: Wir haben einen neu­en Ver­trag in der PG 17 mit einem Kos­ten­trä­ger geschlos­sen, der seit län­ge­rer Zeit kei­ne Ver­trä­ge mehr ver­han­delt hat. Eher „Open House“ und Aus­schrei­bung. Dass wir hier einen neu­en Ver­trag schlie­ßen konn­ten, ist auch in die­sem Sin­ne der rich­ti­ge Schritt in die rich­ti­ge Rich­tung. Wir ste­hen mit zwei Kos­ten­trä­gern seit eini­gen Mona­ten in der PG 24 in Ver­hand­lun­gen. Hier sind wir auf dem rich­ti­gen Weg und wer­den auch in Kür­ze ein Ergeb­nis sehen. Ins­ge­samt ist zu sagen, dass die Kos­ten­trä­ger unser Hand­werk respek­tie­ren und auch ent­spre­chend finan­zi­ell wür­di­gen. Kein ein­zi­ger der neu abge­schlos­se­nen Ver­trä­ge ist ohne Preis­stei­ge­rung ver­se­hen. Über 70 Kos­ten­trä­ger haben die PG 24 eins zu eins aus dem Hand­buch übernommen.

Anders sieht es im Bereich Reha aus, hier haben wir es mit einer bun­des­wei­ten Kas­se zu tun, die den Preis ein­sei­tig fest­ge­legt hat. Eini­ge Leis­tungs­er­brin­ger haben dies akzep­tiert, ohne den Ver­trags­in­halt genau geprüft zu haben. Das ist sehr trau­rig, doch nun mal nicht zu ändern.

OT: Die Ver­trags­ab­tei­lung im BIV-OT plant aktu­ell neue Hand­bü­cher von der PG09/23 (FES-Orthe­sen) bis zur PG 38 (Arm­pro­the­tik). Wie weit fort­ge­schrit­ten ist deren Umset­zung mit Blick auf eine Ver­öf­fent­li­chung für die Betriebe?

May­er: Hier sind wir sehr weit fort­ge­schrit­ten. Einen fes­ten Ter­min kann ich der­zeit nicht benen­nen, da noch die Feh­ler­ana­ly­se aus­steht. Sobald die jewei­li­gen Arbeits­grup­pen alle Doku­men­te frei­ge­ge­ben haben, prüft der Wirt­schafts­aus­schuss und gibt ent­spre­chend final frei. Die maß­geb­li­chen Gre­mi­en im BIV-OT bera­ten par­al­lel über die künf­ti­gen Zugriffs­rech­te der Hand­bü­cher. Eine Ent­schei­dung dar­über ist im April vorgesehen.

Die Fra­gen stell­te Micha­el Blatt.

Tei­len Sie die­sen Inhalt