Einleitung
Bei der Versorgung Amputierter mit Beinprothesen müssen stets zwei Aspekte in Bezug auf die Schaftgestaltung vereint werden: Komfort und Funktionalität. Der Komfort trägt maßgeblich zur Akzeptanz der Prothese bei und wird in der Regel vom Prothesenträger als sehr wichtig eingestuft. Die Bewertung, wie komfortabel ein Schaft ist, erfolgt dabei eher subjektiv. Die Funktionalität beinhaltet Aspekte wie Aufnahme des Stumpfvolumens, Lastübertragung, Haftung, Bewegungsfreiheit und ‑übertragung. Sind diese Aufgaben nicht hinreichend erfüllt, so wird auch der Komfort geringer sein. Funktionelle Einbußen können entstehen, wenn der Schaft zugunsten des Komforts oder auch des kosmetischen Erscheinungsbildes zu stark reduziert wird. Dabei steht besonders der Verlust von wertvoller Schaftfläche und ‑länge im Vordergrund. So wird mit einer kleineren Fläche der Druck auf den Stumpf erhöht. Ebenso verschlechtern sich die Hebelverhältnisse zur Prothesensteuerung und die Möglichkeiten der propriozeptiven Wahrnehmung. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird aus diesem Grund der Frage nachgegangen, welchen konkreten Einfluss die Reduktion des Schaftes im Hinblick auf den Gang von unilateral transtibial Amputierten hat.
Versuchsaufbau und ‑durchführung
Zur Beantwortung der Fragestellung wurde eine dreidimensionale Ganganalyse mit 5 transtibial prothetisch versorgten Personen durchgeführt. Alle Probanden waren männlich, unilateral transtibial amputiert und verfügten über langjährige Prothesenerfahrung. Jeder der Teilnehmer war mit einem Liner und einem Vakuumschaft mit Kniekappe vorversorgt. Das Vakuum wurde bei diesen Versorgungen durch ein Ausstoßventil – in zwei Fällen durch eine zusätzliche Pumpe – hergestellt. Ein Proband war bereits in der Vorversorgung mit einem modifizierten Schaftrandzuschnitt versorgt. Weitere Daten sind Tabelle 1 zu entnehmen.
Im Vorfeld der Untersuchung wurde für die Probanden eine Prothese mit konventionellem Schaftrandzuschnitt angefertigt und angepasst (Abb. 1). Diese bestand aus einem Testschaft, einer Modular-Rohrverbindung und einem individuellen Fußpassteil. Die Stumpfbettung erfolgte zweckformorientiert in Verbindung mit einem 3 mm dünnen TPE-Cushion-Liner. Die Haftung wurde durch ein Ausstoßventil und eine Kniekappe gewährleistet.
Für den zweiten Teil der Untersuchung wurden die Schäfte mit konventionellem Schaftrandzuschnitt bei allen Probanden geändert (Abb. 2). Nach Palpation und Markieren der Randverläufe auf dem Stumpf wurden diese Maße auf den Testschaft übertragen und entsprechend freigelegt. So war gewährleistet, dass die frontalen Knieanteile bei Beugung genügend Freiraum haben und dennoch eine M‑L-Stabilität gegeben ist 1. Da es bei diesem Vorgehen trotz Liner häufig zu Kantendruck kommt, musste bei der Anpassung des Schaftes genauestens auf die Kantengestaltung geachtet werden. Insbesondere die vorderen Anteile der Kondylenanlagen (s. Abb. 2, gelb gestrichelt markiert) provozieren Kantendruck, wenn die Ränder nicht „vom Körper weg“ verlaufen 2.
Der erste Teil der Untersuchung bestand aus einer instrumentierten Ganganalyse der Probanden mit konventioneller Versorgung (konventioneller Schaftrandzuschnitt, s. Abb. 1) und einer Befragung jedes Probanden zu dessen Eindruck zu ebendieser Versorgung mittels eines selbst konzipierten Fragebogens. Die Messungen wurden im Ganglabor des Instituts für Messtechnik und Biomechanik (IMB) an der Bundesfachschule für Orthopädie-Technik (BUFA) durchgeführt. Für die Bewegungsanalyse stand ein 3D-kinematisches Messsystem bestehend aus 12 Infrarotkameras und zwei ergänzenden Videokameras (frontal/dorsal, sagittal) zur Verfügung (Fa. Vicon). Die Erfassung der Bewegung fand dabei mit einer Messfrequenz von 200 Hz statt. Angewandt wurde für die 3D-kinematische Messung das Plug-in-Gait-Modell (PiG) 3 der unteren Extremität 456 (Abb. 3). Die Positionierung jedes hierzu notwendigen Markers ist im PiG-Protokoll festgelegt und orientiert sich an den anatomischen Strukturen des jeweiligen Probanden. Zu Beginn der Untersuchung wurden hierzu die PiG-Positionen palpiert und am Körper des jeweiligen Probanden markiert. Anschließend wurden die notwendigen Maße erfasst und die Marker auf die zuvor markierten Modell-Positionen geklebt. Die Messungen jedes Probanden fanden dabei an jeweils einem Termin und zeitlich direkt nacheinander statt. Auf diese Weise konnten die aufgeklebten Marker zwischen der ersten und der zweiten Versorgungssituation beibehalten werden. Dies kommt der Vergleichbarkeit der Daten zugute.
Beim vorliegenden Probandenkollektiv wurde darüber hinaus der Markerpunkt am Knie zunächst ohne Schaft palpiert und markiert. Daraufhin wurde die Prothese angelegt und der Knie-Markerpunkt auf den Schaft übertragen, erneut überprüft und mit einem Marker versehen. Die Positionierung der Marker auf dem Unterschenkel und dem Fuß fand analog zur erhaltenen Seite statt. Am Modularrohr musste zudem ein Abstandshalter angebracht werden, damit der Unterschenkel im 3D-Modell problemlos erkannt und berechnet werden konnte. Nach Modifikation des Schaftes und erneutem Anlegen der Prothese wurde zunächst die Passform sowie die Weichteilsituation im Schaftrandbereich überprüft. Wurden hierbei keine Probleme festgestellt, so wurde mit der Überprüfung der übertragenen Markerposition vom Knie auf den Schaft fortgefahren. In der vorliegenden Untersuchung war nach Modifikation des Schaftes und Überprüfung der Position jedoch keine Veränderung der Knie-Marker-Position notwendig. Die 3D-kinematische Bewegungsanalyse wurde darüber hinaus durch die simultane Erfassung der Bodenreaktionskräfte ergänzt. Hierbei wurden 2 Kraftmessplattformen (Fa. Amti) genutzt, die in die Gangstrecke integriert waren und mit einer Frequenz von 1000 Hz maßen.
Vor Beginn der 3D-kinematischen Datenerfassung gingen die Probanden zur Eingewöhnung mehrere Male die Gangstrecke in einer selbst gewählten Geschwindigkeit ab. Die Dauer der Eingewöhnung betrug dabei ungefähr fünf Minuten, dauerte jedoch mindestens so lange, bis jeder Proband ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle erlangt hatte. Anschließend wurde mit der Messung begonnen und die Probanden instruiert, in einer selbst gewählten Geschwindigkeit die Gangstrecke entlangzugehen. Um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten, gingen die Probanden mehrere Male über die Gangstrecke, sodass letztendlich mindestens 20 gültige Trials aufgezeichnet werden konnten. Ein Trial wird dabei als gültig verstanden, wenn mindestens eine Standphase (unilateral) vollständig von einer der Kraftmessplattformen aufgezeichnet werden konnte.
Anschließend wurden die Probanden mittels eines selbst konzipierten Fragebogens befragt, wie sie den Schaftkomfort, das Sicherheitsgefühl beim Gehen und Stehen, den Komfort im Sitzen sowie das allgemeine Trage gefühl des Schaftes empfinden. Die Bewertung erfolgte anhand einer 10er-Skala von 1 („schlecht“) bis 10 („gut“). Im zweiten Teil der Untersuchung bewerteten die Probanden zusätzlich den Zustand vorher (konventioneller Schaftrandzuschnitt) im Vergleich mit dem Zustand nachher (modifizierter Schaftrandzuschnitt). Da es sich bei der vorliegenden Untersuchung um eine Pilotstudie mit einem kleinen Probandenkollektiv handelt, fand die Auswertung der Daten rein deskriptiv statt.
Ergebnisse
Im Folgenden werden die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung auszugsweise dargestellt und anschließend diskutiert. Im Hinblick auf die erhobenen Bodenreaktionskräfte sowie die aus dem Gangbild resultierenden Gangparameter waren für das untersuchte Probandenkollektiv keine Unterschiede zwischen den beiden Schaftsituationen zu erkennen. Die 3D-kinematischen Daten weisen in Bezug auf die Hüftgelenksbewegung in der Sagittalebene ebenfalls keine Unterschiede zwischen den beiden Schaftvarianten auf. Die Gelenkwinkelverläufe des Knies und des oberen Sprunggelenks (sagittal) lassen jedoch tendenzielle Unterschiede zwischen den beiden Versorgungssituationen erkennen (Abb. 4 u. 5). So zeigt sich bei Betrachtung der Kniegelenksbewegung (sagittal) (s. Abb. 4), dass die Modifikation des Schaftes eine leichte Zunahme an Flexion im Kniegelenk der versorgten Seite zur Folge hatte. Dies ist vor allem in der Belastungsübernahme sowie in der mittleren Schwungphase des versorgten Beines (links) zu erkennen. Ein vergleichbares Ergebnis ist in den Winkelverläufen des oberen Sprunggelenks (sagittal) zu erkennen (s. Abb. 5). Auch hier zeigt sich für die prothetisch versorgte Seite eine leichte Zunahme des Bewegungsausmaßes mit dem modifizierten Schaftrandzuschnitt, sowohl in Plantarflexion als auch in Dorsalextension. Ebenfalls ist in den Verläufen der Drehmomente des Kniegelenks (Abb. 6) eine Zunahme an flektierenden Momenten für die versorgte Seite mit modifiziertem Schaftrandzuschnitt erkennbar.
Die Ergebnisse der Befragung (Abb. 7) zeigen, dass die Probanden im direkten Vergleich beider Schaftrandzuschnitte zueinander im Durchschnitt 8 Punkte auf der Skala von 1 („schlechter“) bis 10 („besser“) angaben. Des Weiteren zeigen die Ergebnisse des Fragebogens eine geringfügig höhere Bewertung des Komfort-Aspektes beim modifizierten Schaftrandzuschnitt. So wurde im Durchschnitt der Schaftkomfort mit + 0,4 Punkten und der Komfort im Sitzen mit + 0,6 Punkten gegenüber dem konventionell gestalteten Schaft bewertet. Dagegen wurde der Aspekt der Sicherheit als geringer bewertet: So wurde das Sicherheitsgefühl im Stehen durchschnittlich mit ‑0,4 und das Sicherheitsgefühl beim Gehen mit ‑1,2 Punkten im Vergleich zum konventionellen Schaftzuschnitt angegeben.
Diskussion
Die Ergebnisse der vorliegenden Pilotstudie zeigen, dass eine Reduzierung des Schaftes zu Veränderungen im Gangbild der untersuchten Patienten führen kann. Das Ausmaß des Einflusses dieser Modifikation war im gewählten Kollektiv jedoch nicht homogen, sodass nicht bei jedem Probanden eine klare, wenn auch geringe Veränderung des Bewegungsablaufes zu erkennen war. Dennoch zeigen die exemplarisch dargestellten Ergebnisse, dass es durch die Veränderung des Schaftes zu erkennbaren Veränderungen im Bewegungsausmaß gekommen ist.
Dies wird bei der Betrachtung der Kniewinkelverläufe (s. Abb. 4) ebenfalls deutlich. Diese zeigen für die versorgte Seite ein höheres Maß an Knieflexion zum Zeitpunkt der Belastungsübernahme bis hin zur frühen mittleren Standphase sowie in der mittleren Schwungphase. Auch zeigen die Winkelverläufe des OSG (s. Abb. 5) einen größeren Bewegungsumfang für die versorgte Seite mit reduziertem Schaftzuschnitt. Die Vergrößerung des Bewegungsausmaßes kann an dieser Stelle als Zunahme an Gangdynamik verstanden und in Anlehnung an die Kriterien nach Wetz et al. (2002) 7 als positiv für den Patienten bewertet werden.
Die in Abbildung 6 exemplarisch dargestellten höheren knieflektierenden Drehmomente bis in die frühe mittlere Standphase und begleitend geringere knieextendierende Drehmomente bis zum Standphasenende auf der prothetisch versorgten Seite zeigen dabei ebenfalls einen Zugewinn für den Probanden mit reduziertem Schaftrandzuschnitt auf. Denn eine Zunahme an flektierenden und eine Abnahme an extendierenden Momenten auf der Prothesenseite ist nach Wetz et al. (2002) 7 ein Indiz für einen Zugewinn an Gangsicherheit.
Die Befragung der fünf Probanden zu den beiden Schaftrandzuschnitten zeigt, ergänzend zu den Ganganalysedaten, konträre Ergebnisse: Aufgrund des modifizierten, reduzierten Schaftrandzuschnittes wurde vor Beginn der Pilotuntersuchung bereits vermutet, dass der Komfort im Sitzen aufgrund der geringeren Schaftfläche im frontalen Schaftbereich besser bewertet wird. Dazu passt auch die bessere Bewertung des Schaftkomforts allgemein. Der Aspekt Sicherheit hat sich nach subjektiver Einschätzung der Probanden durch die Modifikation jedoch nicht verbessert, wohingegen die Bewertung beider Schaftrandzuschnitte im direkten Vergleich zugunsten des modifizierten Schaftrandzuschnittes ausfällt. Dies scheint zunächst unlogisch, ist die Sicherheit beim Gehen mit der Prothese doch von entscheidender Bedeutung. Allerdings wird hierbei deutlich, wie wichtig der Sitzkomfort für den Prothesenträger ist. Gerade bei Versorgungen mit Kniekappe (und Liner) wird häufig der Sitzkomfort bemängelt. Subjektiv betrachtet wird der modifizierte Schaftrandzuschnitt hier als der bessere bewertet.
Fazit
Die Möglichkeiten, den Prothesenschaft beliebig zu reduzieren, sind begrenzt. Dabei bleibt die Frage offen, wo genau die Grenze zwischen Komfortgewinn und Funktionsverlust liegt. Im Rahmen der vorliegenden Pilotstudie konnten zwar durchaus Unterschiede in den Gangbildern der Probanden durch die Modifizierung des Schaftrandes abgebildet werden. Der Einfluss der Schaftsituation beim untersuchten Probandenkollektiv stellte sich dabei jedoch als eher heterogen dar, sodass die Ergebnisse kein generelles Urteil über die Auswirkungen eines reduzierten Schaftrandverlaufes im Vergleich zu einem konventionellen Schaftrandverlauf zulassen. Dennoch ist in der Summe der Ergebnisse zu erkennen, dass sowohl in den erhobenen Ganganalysedaten als auch in der Befragung nach dem subjektiven Empfinden ein tendenzieller Zugewinn für die Probanden durch den modifizierten Schaftrandzuschnitt zu verzeichnen ist.
Perspektivisch sind weitere Untersuchungen mit einer größeren Anzahl an Probanden und unterschiedlich stark reduzierten Schaftzuschnitten nötig, um zu ermitteln, wo die konkreten Limitierungen eines modifizierten Schaftrandzuschnittes liegen. Auch sollte in Folgeuntersuchungen analysiert werden, welche biomechanischen Veränderungen durch eine Reduzierung des Schaftrandzuschnittes im Schaft entstehen.
Für die Autoren:
Jan Becker
Orthopädie-Techniker-Meister (CPO‑G)
Fachlehrer für Transtibiale Prothetik
Bundesfachschule für Orthopädie-Technik
Schliepstraße. 6–8, 44135 Dortmund
j.becker@ot-bufa.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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