CP-Ver­sor­gung steckt noch in den Kinderschuhen

Welche Rolle 3D-Druck und Orthopädie-Technik bei der Versorgung von Kindern mit Cerebralparese spielen – Einblicke von OTM Stephan Schartner zu Funktion, Zusammenarbeit und Zukunftsperspektiven.

Die Gesund­heits­ver­sor­gung von Kin­dern mit Cere­bral­pa­re­se ist eine beson­de­re Her­aus­for­de­rung für alle Betei­lig­ten. Ange­fan­gen bei den kogni­ti­ven Fähig­kei­ten des Her­an­wach­sen­den bis hin zu den sich mit der Zeit wan­deln­den Anfor­de­run­gen im moto­ri­schen Bereich. Im Inter­view mit der OT-Redak­ti­on schil­dert OTM Ste­phan Schart­ner die Rol­le der Ortho­pä­die-Tech­nik in der inter­pro­fes­sio­nel­len Zusam­men­ar­beit und war­um er das Poten­zi­al bei der Ver­sor­gung mit ortho­pä­di­schen Hilfs­mit­teln als noch lan­ge nicht aus­ge­schöpft ansieht.   

Wel­che ortho­pä­di­schen Hilfs­mit­tel kom­men im Bereich der obe­ren Extre­mi­tät bei Kin­dern mit Cere­bral­pa­re­se kon­kret zum Einsatz?

Ste­phan Schart­ner:  Bei Kin­dern mit Cere­bral­pa­re­se wer­den unter­schied­li­che Hilfs­mit­tel ein­ge­setzt, abhän­gig von Art und Aus­prä­gung der Bewe­gungs­stö­rung. Beson­ders rele­vant für die obe­re Extre­mi­tät sind Hand- und Hand­ge­lenks­or­the­sen zur Sta­bi­li­sie­rung, Ver­bes­se­rung der Hand­funk­ti­on und Hem­mung der patho­lo­gi­schen Bewe­gungs­mus­ter. Dau­men­or­the­sen die­nen der funk­tio­nel­len Öff­nung der Hand. Zur Hem­mung star­ker Beu­ge­spas­ti­ken oder zur För­de­rung der Arm­stre­ckung bei ein­ge­schränk­tem Bewe­gungs­um­fang wer­den Ellen­bo­gen­or­the­sen ein­ge­setzt. Funk­ti­ons­ori­en­tier­te dyna­mi­sche Orthe­sen, zum Bei­spiel mit Feder­ge­len­ken oder mit einer dyna­mi­schen Unter­stüt­zung wie etwa einer Gas­druck­fe­der, assis­tie­ren bei bestimm­ten Bewe­gun­gen. Nacht­schie­nen wer­den zur Tonus­re­gu­la­ti­on und zur Kon­trak­tur­pro­phy­la­xe ein­ge­setzt. 3D-gedruck­te Hilfs­mit­tel eig­nen sich beson­ders für die indi­vi­dua­li­sier­te Form­ge­bung und ermög­li­chen die Nut­zung leich­ter Mate­ria­li­en. Das Ziel der Ver­sor­gung soll­te immer die Funk­tio­na­li­tät und nicht die rei­ne Kor­rek­tur der Fehl­stel­lung sein. 

Wie ändert sich das Spek­trum der Ver­sor­gungs­mög­lich­kei­ten je nach Alter des Kindes?

Das Ver­sor­gungs­an­ge­bot ver­än­dert sich par­al­lel zur moto­ri­schen Ent­wick­lung. Bei Kin­dern im Alter bis zu 3 Jah­ren soll­te der Fokus auf einer sen­so­risch-moto­ri­schen Sti­mu­la­ti­on und der All­tags­in­te­gra­ti­on lie­gen. Die Kon­struk­ti­on der Orthe­se soll­te aus wei­chen, fle­xi­blen Mate­ria­li­en bestehen, um den Tonus zu regu­lie­ren und frü­he Kon­trak­tu­ren zu ver­mei­den. Im Alter von 3 bis 10 Jah­ren wird die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung schon funk­tio­nel­ler. Die hier ange­wand­ten Orthe­sen unter­stüt­zen schon ziel­ge­rich­te­te Hand­funk­tio­nen wie Grei­fen, Spie­len, Schrei­ben und gewin­nen zuneh­mend an Bedeu­tung im All­tag. In die­sem Alter soll­te bereits eine inten­si­ve Zusam­men­ar­beit mit der Ergo­the­ra­pie, Phy­sio­the­ra­pie und der Schu­le statt­fin­den. Im Alter von 10–18 Jah­ren liegt der Fokus der Ver­sor­gung auf der Selbst­stän­dig­keit im All­tag, der Schu­le, Frei­zeit oder der Berufs­ori­en­tie­rung. Zusätz­lich soll­te die Prä­ven­ti­on von Sekun­där­schä­den wie zum Bei­spiel Kon­trak­tu­ren oder Schmer­zen mehr in den Vor­der­grund rücken. Die Orthe­sen müs­sen auch zuneh­men­der Kraft und Kör­per­grö­ße stand­hal­ten. Mit dem Alter steigt auch der Ein­be­zug des Kin­des in die Ent­schei­dungs­pro­zes­se, was Funk­ti­on und Aus­füh­rung betrifft. Dies ver­bes­sert die Akzep­tanz des Hilfs­mit­tels. 

Wie gestal­tet sich die Zusam­men­ar­beit zwi­schen den Pro­fes­sio­nen und wel­che Rol­le nimmt die Ortho­pä­die-Tech­nik ein?

Eine erfolg­rei­che Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung erfor­dert ein eng abge­stimm­tes Team aus Ergo- und Phy­sio­the­ra­peu­ten, Ortho­pä­den, Neu­ro­päd­ia­tern, Ortho­pä­die­tech­ni­kern, Eltern und natür­lich auch dem Kind selbst. Die Ortho­pä­die-Tech­nik über­nimmt dabei eine Schlüs­sel­rol­le, da sie die the­ra­peu­ti­schen und ärzt­li­chen Zie­le in ein kon­kre­tes Hilfs­mit­tel umset­zen soll bzw. muss. Eben­so wird das Hilfs­mit­tel an die Ent­wick­lung, Wachs­tum und The­ra­pie­er­fol­ge ange­passt. Im opti­ma­len Fall fin­det ein kon­ti­nu­ier­li­cher Aus­tausch und Dia­log auf Augen­hö­he mit allen Pro­fes­sio­nen statt. 

Lässt sich sagen: „Viel hilft viel“ – oder kann es auch zu einer Über­ver­sor­gung kom­men? 

Eine Über­ver­sor­gung ist mög­lich und auch pro­ble­ma­tisch. Zu vie­le Hilfs­mit­tel kön­nen die Kin­der und die Fami­lie über­for­dern. Ein über­mä­ßi­ges Schie­nen oder Fixie­ren kann die spon­ta­ne Moto­rik und Lern­pro­zes­se der Kin­der hem­men. Eine schlech­te Akzep­tanz führt dazu, dass die Hilfs­mit­tel wenig oder gar nicht getra­gen wer­den. Statt­des­sen soll­te ver­sucht wer­den, die Com­pli­ance zu stei­gern, indem das Hilfs­mit­tel so bequem wie mög­lich gestal­tet wird, das Kind den Nut­zen ver­steht, und das Hilfs­mit­tel die All­tags­funk­ti­on ver­bes­sert. Die rea­lis­ti­schen Zie­le soll­ten klar for­mu­liert und mit allen Betei­lig­ten abge­stimmt sein. Man kann auch sagen: So viel wie nötig, so wenig wie mög­lich und immer funk­tio­nell begrün­det. 

Haben Sie dafür ein kon­kre­tes Bei­spiel? 

Wir kon­stru­ie­ren zum Bei­spiel Unter­ar­mor­the­sen als Nacht­la­ge­rungs­or­the­sen mit Fin­ger­fas­sung und Dau­men­füh­rung. Tags­über las­sen die­se sich als Dau­men­ab­duk­ti­ons­or­the­se nut­zen – oder auch als Unter­arm­la­ge­rungs­or­the­se, wobei die Fin­ger frei sind. Je nach Bedarf lässt sich die­se auf- oder abrüs­ten; es ist aber nur ein Hilfs­mit­tel. 

Wie aus­ge­prägt ist aktu­ell die Aus­sicht auf tech­no­lo­gi­sche Fort­schrit­te in der Orthe­sen­ver­sor­gung von Kin­dern mit Cere­bral­pa­re­se? 

Ich glau­be, dass wir in der Ortho­pä­die-Tech­nik noch ziem­lich in den Kin­der­schu­hen ste­cken, was den mög­li­chen tech­no­lo­gi­schen Fort­schritt betrifft. Wenn man sieht, was zuletzt auf der Formnext-Mes­se an 3D-Druck-Mög­lich­kei­ten ange­bo­ten wur­de, nut­zen wir die­se noch viel zu wenig im All­tag. Der 3D-Druck ermög­licht hoch indi­vi­du­el­le, leich­te Orthe­sen. Sen­so­ren zur objek­ti­ven Mes­sung der Nut­zung und Bewe­gungs­qua­li­tät gewin­nen immer mehr an Bedeu­tung. Mate­ri­alin­no­va­tio­nen wie fle­xi­ble Kunst­stof­fe und atmungs­ak­ti­ve Ver­bun­de ver­bes­sern den Tra­ge­kom­fort und dadurch auch die Com­pli­ance. Die digi­ta­le Ver­mes­sung, also der 3D-Scan, ver­kürzt die Pro­duk­ti­ons­zei­ten und ermög­licht prä­zi­se­re Pass­for­men. Fest steht, dass der Trend klar zu funk­tio­na­len, dyna­mi­schen und per­so­na­li­sier­ten Orthe­sen geht, statt zu rein sta­ti­schen Hilfs­mit­tel­ver­sor­gun­gen. 

Was wün­schen Sie sich per­sön­lich als „Take-Home-Mes­sa­ge“ im Anschluss an das „Focus CP/Re­ha­kind-Sym­po­si­um“ der funk­ti­ons­ori­en­tier­ten Therapie?
Hilfs­mit­tel sind dann sinn­voll, wenn sie die Selb­stän­dig­keit des Kin­des im All­tag erhö­hen. Eine erfolg­rei­che Ver­sor­gung ent­steht durch inter­pro­fes­sio­nel­le Zusam­men­ar­beit, klar erreich­ba­re Ziel­set­zung und eine akti­ve Ein­bin­dung der Kin­der und der Fami­lie. 

Die Fra­gen stell­te Micha­el Blatt.

Zur Per­son
Ste­phan Schart­ner arbei­tet als Ortho­pä­die­tech­nik-Meis­ter bei der Fir­ma Neja GmbH in Rosen­heim. Er ver­fügt über 25 Jah­re Erfah­rung in der Klini­schen Ortho­pä­die. Im Rah­men des „Focus CP/Reha­kind“-Kon­gres­ses in Dort­mund hält Schart­ner am 6. Febru­ar 2026 einen Vor­trag mit dem Titel Orthe­sen­ver­sor­gung der obe­ren Extre­mi­tät bei Zere­bral­pa­re­se.

 

Michael Blatt
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