„Mit diesen Gesetzen starten wir die dringend benötigte Aufholjagd bei Digitalisierung und Datennutzung. Durch eine schnelle und sichere elektronische Patientenakte bilden wir das Herzstück für eine bessere Behandlung und Forschung. Dabei wird Künstliche Intelligenz Patienten und Ärzte revolutionär unterstützen“, sagte Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach angesichts der neuesten Gesetzgebung zur Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens. Aus Sicht der Gesundheitshandwerke darf man die Entwicklung im politischen Berlin gewohnt argwöhnisch betrachten. Denn statt Aufholjagd fühlt es sich eher nach einem Bremsmanöver an, was da im Bundestag beschlossen wurde. Ab 2027 statt 2026 sollen die Gesundheitshandwerke nun mit dem E‑Rezept – beziehungsweise der E‑Verordnung – starten. So verschiebt sich die Aufholjagd für die Orthopädie-Technik um zwölf Monate nach hinten. Damit diese Zeit aber nicht verpufft, ist es für die Betriebe wichtig, rechtzeitig ihre Hausaufgaben zu machen und sich auf die bevorstehenden Herausforderungen vorzubereiten. Ein Blick in Richtung Apotheker:innen zeigt: Digitalisierung kann einiges einfacher und besser machen, der Weg dahin ist allerdings teilweise steinig.
Bereits jetzt gibt es Expert:innen in der OT-Branche, die sich mit Telematikinfrastruktur, Konnektoren oder Fachdiensten bestens auskennen. Das ist gut und bringt das Fach bei diesen zukunftsweisenden Aufgaben voran. Die tägliche Umsetzung geschieht aber in den Betrieben, vom Auszubildenden bis zu den Geschäftsinhaber:innen. Hier ist es nötig und wichtig, etwaige Wissenslücken frühzeitig zu schließen, um spätestens 2027 TI-ready zu sein. Der Verlag OT versteht sich als Partner der Betriebe und deshalb wird die OT-Redaktion die Betriebe auf dem Weg in die Digitalisierung begleiten. Wie soll das funktionieren? Mit einer Mischung aus Basisinformationen, exemplarischen Handlungsempfehlungen und der Vorstellung von praktischen Beispielen. Außerdem werden aktuelle Entwicklungen, beispielsweise aus dem Pilotprojekt E‑Verordnung für orthopädische Hilfsmittel des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT), beleuchtet und eingeordnet. Auf dem Fachportal des Verlags OT steht zudem ein Digital-Glossar bereit, das alle wichtigen Begriffe rund um die Digitalisierung kurz und informativ zusammenfasst. Während wir uns im ersten Teil mit der Gematik beschäftigt haben, lautet das Thema diesmal Telematikinfrastruktur:
In der heutigen Ära der digitalen Innovation hat die Telematikinfrastruktur (TI) eine zentrale Rolle im deutschen Gesundheitswesen eingenommen. Die TI ist ein komplexes Netzwerk von IT-Systemen, das es den verschiedenen Akteuren im Gesundheitsbereich ermöglicht, Gesundheitsdaten elektronisch auszutauschen und sicher zu speichern. Aus diesem Grund wird die TI auch häufig die Daten-Autobahn des Gesundheitswesens genannt. Die vier Grundsätze der Telematikinfrastruktur sind, dass der sektorenübergreifende Informationsaustausch durch die Förderung der Interoperabilität zwischen IT-Systemen im Gesundheitswesen sichergestellt wird. Außerdem ist der Schutz sensibler medizinischer Daten das Fundament der Telematikinfrastruktur. Dafür sorgen starke Sicherheitsmechanismen, verspricht die Gematik, die Nationale Gesundheitsagentur. Zudem ist das Ziel die Optimierung der Gesundheitsversorgung in Deutschland. Und letztlich werden durch die Konzeption und Zulassung von Komponenten und Diensten ein verlässlicher Betrieb sowie ein marktgerechter Aufbau gewährleistet. Dieser technologische Fortschritt verspricht eine effizientere Versorgung und markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Digitalisierung des Gesundheitswesens.
Der Weg zur Einführung der TI war jedoch lang und von zahlreichen Herausforderungen geprägt. Ein Blick auf die Geschichte der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen zeigt, dass langwierige Prozesse, Herausforderungen und Verzögerungen in der Vergangenheit eine große Rolle spielten. Bereits in den 1990er-Jahren gab es erste Bemühungen, den Einsatz von Informationstechnologie im Gesundheitswesen zu fördern. Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) im Jahr 2006 markierte einen wichtigen Meilenstein auf diesem Weg. Die eGK sollte eine zentrale Rolle bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens spielen und den Austausch von Patientendaten erleichtern. Allerdings war die Einführung der eGK von zahlreichen Verzögerungen und technischen Problemen begleitet, was zu Kritik und Skepsis führte.
Trotz dieser Startschwierigkeiten wurden in den folgenden Jahren weitere Schritte unternommen, um die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen voranzutreiben. Die Einführung der Telematikinfrastruktur (TI) ab 2019 sollte die Vernetzung der verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen ermöglichen und die elektronische Kommunikation zwischen Arztpraxen, Krankenhäusern, Apotheken und Krankenkassen erleichtern.
Die Umsetzung der TI gestaltete sich jedoch als komplex und herausfordernd. Technische Schwierigkeiten, Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes und bürokratische Hürden erschwerten den Prozess. Dennoch wurden in den vergangenen Jahren bedeutende Fortschritte erzielt, insbesondere mit der schrittweisen Einführung von digitalen Anwendungen – bzw. Fachdiensten – wie dem elektronischen Rezept (E‑Rezept) und der elektronischen Patientenakte (ePA). Diese digitalen Lösungen sollen dazu beitragen, die Versorgung der Patient:innen effizienter und patientenorientierter zu gestalten.
Estland als Vorreiter in Sachen Digitalisierung
Im Vergleich zu anderen Ländern wie Frankreich und Estland, die bereits frühzeitig umfangreiche Digitalisierungsvorhaben im Gesundheitswesen umsetzten, war Deutschland lange Zeit im Rückstand. Während Frankreich, dessen Gesundheitssystem mit dem deutschen System vergleichbar ist, bereits 2016 das Dossier Médical Partagé (DMP), eine elektronische Gesundheitsakte, eingeführt hat, gehört Estland mit seinem vollständig digitalisierten Gesundheitssystem zu den Vorreitern in Europa. Das kleine baltische Land hat schon sehr früh umfangreiche Digitalisierungsvorhaben umgesetzt und gehört zu den technologisch fortschrittlichsten Ländern Europas. Was sind die Gründe für Estlands Erfolg bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens?
Zum einen verfügt Estland über eine moderne und gut ausgebaute IT-Infrastruktur, die es ermöglicht, Gesundheitsdaten sicher und effizient zu verwalten. Das Land hat frühzeitig in den Aufbau einer digitalen Infrastruktur investiert und verfügt über ein hoch entwickeltes E‑Government-System, das es den Bürger:innen ermöglicht, viele Behördengänge online zu erledigen.
Darüber hinaus spielt auch die politische und gesellschaftliche Unterstützung eine entscheidende Rolle. Die estnische Regierung hat die Digitalisierung frühzeitig als strategisches Ziel definiert und entsprechende Maßnahmen eingeleitet. Auch die Bürgerinnen und Bürger Estlands stehen der Digitalisierung positiv gegenüber und nutzen die digitalen Angebote des Gesundheitswesens aktiv.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren im Gesundheitswesen. Arztpraxen, Krankenhäuser, Apotheken und Krankenkassen arbeiten eng zusammen, um die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben und innovative Lösungen zu entwickeln.
Insgesamt zeigt das Beispiel Estland, dass eine konsequente und ganzheitliche Strategie sowie die Bereitschaft zur Zusammenarbeit entscheidend für den Erfolg der Digitalisierung im Gesundheitswesen sind.
Dennoch hat Deutschland in den vergangenen Jahren bedeutende Fortschritte gemacht, insbesondere mit der Einführung der TI. Arztpraxen, Krankenhäuser, Apotheken und andere Leistungserbringer können sich nun schrittweise an die TI anschließen und von den Vorteilen der digitalen Vernetzung profitieren. Dazu gehören das elektronische Rezept, die elektronische Patientenakte und der sichere Austausch von Befunden und Behandlungsdaten.
Anschluss an die TI
Doch warum müssen sich OT-Betriebe und Sanitätshäuser überhaupt an die TI anschließen und geht es auch zukünftig ohne? Ganz klar: Nein – der TI-Anschluss ist Pflicht. Spätestens Mitte 2027 müssen die Hilfsmittelleistungserbringer in der Lage sein, die digitalisierte Verordnung – die E‑Verordnung – einzulösen. Dafür müssen sie an die TI angeschlossen sein, um mit den anderen Akteuren im Gesundheitswesen zu kommunizieren. Ist die Telematikinfrastruktur damit ein Projekt, das die Branche erst in drei Jahren betrifft? Erneut nein! Denn bereits in diesem Jahr wird es möglich sein, dass sich erste Betriebe für die TI freischalten lassen können. Allerdings werden ihnen dann noch nicht direkt viele Möglichkeiten zur Nutzung verfügbar sein. Wie gestaltet sich der Prozess des Anschlusses der verschiedenen Akteure an die TI? Dieser Prozess umfasst mehrere Schritte, die sorgfältig geplant und umgesetzt werden müssen.
1. Beantragung der Identifikation
In einem persönlichen Gespräch kann man sich leicht von der Identität des Gegenübers überzeugen. Im digitalen Raum ist dies nicht so einfach. Da im Gesundheitswesen aber mit sensiblen Daten gearbeitet wird, ist es wichtig zu wissen, wer Zugriff auf die Daten hat. Deswegen müssen sich die Akteure des Gesundheitswesens digital identifizieren. Dafür werden zwei Karten benötigt. Zum einen handelt es sich dabei um den sogenannten elektronischen Berufsausweis (eBA), der die Person identifiziert. Zum anderen ist eine sogenannte SMC‑B, welche als Institutionskarte die jeweilige Einrichtung ausweist, nötig. Beide Ausweiskarten sollen ab dem Sommer 2024 von den Handwerkskammern vergeben werden.
2. Technische Voraussetzungen erfüllen
Um die Telematikinfrastruktur nutzen zu können, müssen einige technische Voraussetzungen erfüllt werden. Basis ist ein normaler Internetzugang. Diesen können die Betriebe bei einem Anbieter ihrer Wahl abschließen. Des Weiteren wird ein Konnektor – vergleichbar mit einem Internet-Router – inklusive eines VPN-Zugangsdienstes gebraucht, der den eigenen Betrieb mit der TI verbindet. Zur Authentifizierung muss zudem mindestens ein E‑Health-Kartenterminal installiert werden. Im Augenblick wird an einer Aktualisierung der technischen Voraussetzungen gearbeitet. So gibt es beispielsweise schon heute Konnektoren in Rechenzentren, die dezentral die Rolle des kleinen Konnektors im Betrieb übernehmen. Außerdem werden Systeme geprüft, die mobil – also ortsunabhängig – funktionieren. Vor allem bei Hausbesuchen wird dieser Service benötigt.
3. Schulung und Unterstützung
Um sicherzustellen, dass die Betriebe die TI effektiv nutzen können, sollten die Leistungserbringer an Schulungen teilnehmen. Nur gut geschultes Personal kann dabei helfen, das volle Potenzial der digitalen Vernetzung auszuschöpfen. Außerdem erhöht es die Bereitschaft, bereits etablierte – analoge – Abläufe zu ändern und den neuen Gegebenheiten anzupassen.
4. Teilnahme an der TI
Sobald die Voraussetzungen erfüllt sind, können sich die Leistungserbringer an die TI anschließen. Für Mediziner:innen und Apotheker:innen gibt es bereits heute viele Fachdienste, die zur Anwendung kommen. Prominentes Beispiel ist das E‑Rezept für Arzneimittel. Für die Leistungserbringer im Hilfsmittelbereich wird es dagegen zum Start wahrscheinlich nur den Zugang zur Kommunikation im Medizinwesen (KIM) geben.
Die Zukunft ist jetzt
Der Weg zur vollständigen Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland ist noch nicht abgeschlossen, aber die Einführung der TI markiert zweifellos einen bedeutenden Fortschritt auf diesem Weg. Vor allem die Gesetzgebung in den vergangenen fünf Jahren hat dafür gesorgt, dass die Digitalisierung einen Schub erhalten hat. Man darf gespannt sein, welche Entwicklungssprünge in den kommenden Jahren zu erwarten sind. Bereits heute arbeitet die Gematik an der TI 2.0. Dazu gehört, dass künftig komplett auf Karten verzichtet werden kann und stattdessen digitale Identitäten die physischen Karten ersetzen. Außerdem soll zum Beispiel dank kontaktloser Kartenterminals bereits Ende 2024 der Zugang zur TI 2.0 vereinfacht möglich sein. Dritter Baustein der neuen Telematikinfrastruktur ist das Konzept der Zero-Trust-Architektur. Kein Vertrauen, das klingt grundsätzlich negativ, ist aber in Sachen Sicherheit ein hoher Standard. Durch Zero-Trust-Ansätze können Anwendungszugriffe besser präventiv abgesichert und insbesondere das Schadensausmaß bei Angriffen weiter reduziert werden. Zero Trust vereint dazu bekannte Sicherheitsmaßnahmen und Best-Practices in einem ganzheitlichen Ansatz. Ausgehend von einem datenzentrischen Modell bezieht sich die Schutzwirkung der Maßnahmen vorrangig auf die Schutzziele Integrität und Vertraulichkeit, nicht aber auf Verfügbarkeit.
Heiko Cordes
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