Auch in der Orthopädie-Technik spielt bei der Auswahl von Materialien der Aspekt Nachhaltigkeit immer häufiger eine große Rolle – sei es in Bezug auf die Materialeigenschaften oder die Produktion. Im Gespräch der OT-Redaktion mit Lars Hellmich, Produktmanager bei Ottobock, wird daher unter die Lupe genommen, was aktuell schon aus Duderstadt an Materialien kommt und wann neue Entwicklungen zu erwarten sind.
OT: Herr Hellmich, Nachhaltigkeit hat viele Definitionen. Was bedeutet für Sie persönlich Nachhaltigkeit?
Lars Hellmich: Die Definition des Wortes Nachhaltigkeit ist sehr facettenreich. Genau zu beantworten, wann beispielsweise ein Prothesenschaft, der aus vielen unterschiedlichen Materialien besteht, nun nachhaltig hergestellt ist, ist für mich unmöglich. Aus diesem Grund verwenden wir bei Ottobock auch nicht die Bezeichnung eines nachhaltigen Produkts. Denn dafür sind die Prozesse bei der Herstellung eines Rohstoffs und deren Produktionsmittel, der Logistik usw. zu komplex. Aus meiner persönlichen Sicht sollte es aber das Ziel sein, nur so viel von der Erde zu nehmen und zu verbrauchen, dass es für kommende Generationen weiterhin zur Verfügung stehen kann. Das erreichen wir zum Beispiel durch die Verwendung von nachwachsenden Rohstoffen.
OT: Welchen Stellenwert hat Nachhaltigkeit für Ottobock?
Hellmich: Bei Ottobock sind verantwortungsvolles Handeln und wirtschaftlicher Erfolg eng miteinander verknüpft. Unser Engagement findet seinen besonderen Ausdruck etwa in dem positiven sozialen Impact unserer Produkte. Zudem ist Nachhaltigkeit in unserem Unternehmen strategisch verankert und in die Managementprozesse integriert.
OT: Mit der „GreenLine“ hat Ottobock eine eigene Produktlinie am Markt, die nachhaltig sein soll. Können Sie kurz erläutern, was die „GreenLine“ ist, wie viele Produkte sie umfasst und seit wann sie ein Teil des Ottobock-Produktangebots ist?
Hellmich: Hier darf ich die Definition des Begriffs „GreenLine“ leicht korrigieren. Unter dem Begriff der „Green-Line“ verstehen wir nicht, dass Produkte nachhaltig sind, sondern eine oder mehrere Eigenschaften haben, wie eine naturbasierte beziehungsweise organische Basis, Kompostierbarkeit, Effizienz beziehungsweise weniger Abfall produzieren oder den bestmöglichen Ausschluss von gefährdenden Inhaltsstoffen im Verarbeitungsprozess bieten. Wichtig für uns ist der Vergleich zum aktuell verwendeten Standardprodukt. Sobald wir ein Produkt identifizieren, das im Vergleich bessere Eigenschaften hinsichtlich der vier genannten Aspekte aufweist, qualifiziert es sich dafür, ein „GreenLine“-Produkt zu sein. Ein Beispiel wäre das Epoxidharz „OrthoEpox“, das zu 50 Prozent naturbasierte Rohstoffe sowie weniger gefährdende Inhaltsstoffe enthält. Unsere „GreenLine“-Serie besteht aktuell aus vier Produkten, die wir in den vergangenen fünf Jahren kontinuierlich in unser Materialien-Portfolio aufgenommen haben. In Deutschland bieten wir aktuell nur das „OrthoEpox“ an. Die weiteren Produkte folgen aber zum Mai und werden auf der OTWorld vorgestellt. Die große Herausforderung und der Grund, weswegen es bislang „nur“ vier Produkte sind, ist die technische Vergleichbarkeit. Wir benötigen bei Versorgungen ein hohes Maß an Stabilität, um ein sicheres Hilfsmittel herzustellen. Ein naturbasiertes Produkt, das nicht die notwendigen Stabilitätsstandards erfüllt, ist unbrauchbar. Und das ist in der Vergangenheit in einigen Fällen das Ausschlusskriterium gewesen. Das Ziel ist, unseren Kund:innen Alternativen anzubieten, die besser im Sinne der Gesundheits- und Umweltaspekte sind und gleichzeitig den hohen Ansprüchen in der Orthopädie-Technik genügen.
OT: Sie werben damit, dass Sie 50 Prozent des Materials aus nachwachsenden Rohstoffen gewinnen. Welches Material ist das?
Hellmich: Beim angesprochenen Produkt handelt es sich um das „OrthoEpox“, das zu 50 Prozent aus einem nachwachsenden Rohstoff besteht. Dieser ist Mais.
OT: Wie kommen Sie auf den Wert 50 Prozent? Ist es unter den derzeitigen Produktionsmethoden nicht anders möglich oder unwirtschaftlich oder steht nicht genügend nachwachsender Rohstoff zur Verfügung?
Hellmich: Der Wert stammt aus unserem gemeinsam mit unserem Partner durchgeführten Entwicklungsprojekt. Ein höherer Wert war zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich zu erreichen, aber es wird daran gearbeitet, ihn zu erhöhen.
OT: Ist es zukünftig möglich, die Produkte zu 100 Prozent „grün“ zu machen?
Hellmich: Im Fall des „OrthoEpox GreenLine“ ist das genau das Ziel. Bei den Flachsfasern, die in Kürze auf den deutschen Markt kommen, ist der Rohstoff schon zu 100 Prozent naturbasiert. Bei den Flachsfasern ging es nicht darum, das Material selbst zu entwickeln, da dieses schon lange im Markt existiert, sondern einen Legeplan zu entwickeln, mit dem Orthopädietechniker:innen einen sicheren Schaft bauen können. Dessen Herstellung aus Flachsfasern ist nicht Teil ihrer Ausbildung und der Umgang damit somit nicht bekannt, im Gegensatz zu Armierungsmaterialien wie Carbon- oder Glasfasern. Mit unserem entwickelten Legeplan geben wir unseren Kund:innen die Möglichkeit, mit Flachsfasern einen sicheren und geprüften Schaft zu bauen. Damit werden Flachsfasern zu einer Alternative in der Schaftarmierung und kommen hoffentlich häufiger zum Einsatz als in der Vergangenheit.
OT: Welche Materialien haben Sie identifiziert, die keine Zukunft mehr haben werden?
Hellmich: In der Orthopädie-Technik kommen im Produktionsprozess in der Werkstatt eine Vielzahl von Materialien zum Einsatz, die gesundheitsgefährdende Stoffe im Rohzustand beinhalten. Die Reduktion davon ist unser Ziel, und sobald ein Produkt gefunden wurde, das weniger gefährdend bei gleicher Funktion ist, wird es schnellstmöglich das Vergleichsprodukt ersetzen und dann auch nicht mehr angeboten. Bei Alternativprodukten, die auf den naturbasierten Aspekt abzielen, ist es nicht so leicht. Carbon zum Beispiel wird auf mittel- bis langfristige Sicht seine Daseinsberechtigung in der Orthopädie-Technik behalten. Speziell im Orthesenbau benötigen wir höchstmögliche Stabilität bei geringstmöglichem Gewichtseinsatz.
OT: In Ihrem Nachhaltigkeitsbericht steht: „Mit unserer Materialkompetenz arbeiten wir mit Hochdruck an Alternativen, die ganz oder teilweise aus nachwachsenden Rohstoffen aufgebaut sind.“ Welche Materialien haben Sie im Blick für welchen Verwendungszweck?
Hellmich: Der Absatz bezieht sich auf die beiden Produkte der Flachsfasern als Armierungsmaterial im Schaftbau und auf das Harz „OrthoEpox GreenLine“. Die Flachsfasern basieren auf einem nachwachsenden Rohstoff, dem Flachs, und das Harz basiert zu 50 Prozent auf dem Rohstoff Mais, welches zum Schaft- oder Orthesenbau verwendet werden kann.
OT: Welche Produkte eignen sich zukünftig dafür, in die „GreenLine“ aufgenommen zu werden?
Hellmich: Pauschal kann man das nicht genau sagen. In den kommenden Monaten wollen wir aber eine Produktlinie zur Erstellung von Handlagerungsschienen anbieten. Hier sind wir im Austausch mit einem externen Lieferanten. Es handelt sich um eine sehr spannende Produktreihe, die auf der Basis von Espenholz hergestellt wird und das Potenzial hat, den Einsatz von Gips obsolet zu machen.
Wichtig ist, dass wir kontinuierlich am Thema bleiben, denn es wird nicht zu einer Art disruptiven Entwicklung kommen, mit der wir kurzfristig alle Gesundheits- und Umweltaspekte gelöst haben. Es ist ein kontinuierlicher Prozess und es wird eine Vielzahl an kleinen Schritten und Entwicklungen notwendig sein, um ans Ziel zu kommen.
OT: Wie groß ist die Nachfrage bei den Kund:innen?
Hellmich: Das Interesse ist definitiv da. In Deutschland verwendeten vergangenes Jahr bereits 40 Prozent unserer Kund:innen das „OrthoEpox GreenLine“ anstatt der Standardlösung. Bevor sich aber bewährte Prozesse in einem Betrieb tatsächlich ändern, vergehen Monate bis Jahre. Diese Zeit sind wir aber auch bereit mitzugehen.
OT: Haben Anwender:innen bereits ein Bewusstsein für nachhaltige Hilfsmittel und ein Bedürfnis danach entwickelt?
Hellmich: Der Trend in der Gesellschaft ist eindeutig und allgegenwärtig. Wir verspüren aktuell noch keinen Druck von Anwender:innen, die naturbasierte oder „nachhaltigere“ Hilfsmittel aktiv einfordern, aber wir möchten diese Vorreiterrolle gerne einnehmen und bereit sein, wenn es dazu kommt. Wir sehen hier aber auch eine Möglichkeit für Orthopädiebetriebe, sich aktiv zu positionieren, einen passenden Schaft herstellen zu können, zum Beispiel aus Flachsfasern, wenn Nachhaltigkeit ein wichtiger Aspekt im Leben der Anwender:innen ist.
OT: Stichwort Kosten: Sind Produkte der „GreenLine“ gegenüber vergleichbaren Produkten teurer? Können mögliche Mehrkosten durch nachhaltige Materialien auch gegenüber Kostenträgern geltend gemacht werden?
Hellmich: Zum Preisaspekt kann ich keine endgültige Auskunft geben. Aber es wird sicherlich möglich sein, einen Schaft aus Flachsfasern herzustellen, wenn er zuvor aus Carbonfasern gefertigt wurde. Die Möglichkeit, Mehrkosten für Materialien aus nachwachsenden Rohstoffen gegenüber dem Kostenträger geltend zu machen, ist mir nicht bekannt, würde ich aber unterstützen. Anreize dieser Art sind notwendig, um eine Veränderung herbeizuführen.
OT: Welchen Benefit haben die Anwender:innen durch die Verwendung solcher Produkte?
Hellmich: In der Vergangenheit gab es hochwertige Versorgungen und da soll es in Zukunft auch keinen Unterschied geben. Die Qualität muss gewährleistet sein. Etwas anderes ist die persönliche Ebene. Ein Hilfsmittel, eine Prothese, der Schaft, eine individuelle Orthese, sind sehr persönliche Dinge, und die Identifikation mit der Versorgung beziehungsweise dem Hilfsmittel ist enorm wichtig für die Akzeptanz. Sollte diese aufgrund einer naturbasierteren Versorgung steigen, haben wir und die Orthopädietechniker:innen einen tollen Benefit für die Anwender:innen geschaffen.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
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