Bewerbungen für eine Ausbildung zu sichten, gehört für Thomas Lang zum Alltag. Vor rund einem Jahr löste ein Schreiben jedoch Verwunderung aus und machte den Geschäftsführer des gleichnamigen Dinslakener Sanitätshauses neugierig: Dr. Stephan Drucks, geboren 1971, Studienabschluss der Soziologie. „Warum macht der das?“, fragte sich Lang. Schnell stand für ihn fest: „Den muss ich kennenlernen.“ Heute ist Drucks als Auszubildender fester Teil des Teams.
Besondere Anekdoten im Anschreiben, gute Schulnoten, soziales Engagement, Praktika: Es gibt viele Dinge, mit denen Bewerber:innen hervorstechen können. Für Thomas Lang gilt allerdings grundsätzlich: Es geht doch um den Menschen, was ist eine Bewerbung auf Papier? Also musste ein persönliches Treffen her – und dabei lernte Lang den Menschen hinter der Bewerbungsmappe kennen. Die Aussage „Das Arbeiten an der Uni war nicht mehr meins“ konnte er als Beweggrund für den Wechsel ins Handwerk gut nachvollziehen. Und auch die Begründung, warum es jetzt ausgerechnet der Bereich Orthopädie-Technik sein sollte. Denn durch einen Schlaganfall seiner Mutter hatte Drucks schon vor Jahren Kontakt zu Sanitätshäusern, insbesondere zur Reha-Technik. Das Alter spielte von Anfang an keine Rolle, auch wenn der Durchschnittsbewerber für einen Ausbildungsplatz im Betrieb zwischen 17 und 20 ist. „Bei steigendem Renteneintrittsalter hat Herr Drucks noch einige Jahre vor sich“, betont der Geschäftsführer, der u. a. ebenfalls einen Quereinsteiger, Jahrgang 1969, beschäftigt. Was ihm dagegen eher zu denken gab: „Der Ton ist im Handwerk ein anderer als an der Uni“, sagt er und lacht. Doch Drucks schaute für ein paar Tage in der Werkstatt vorbei – und es passte sofort. Neben seinem großen Interesse am Beruf überzeugte er vor allem auch mit seinem Auftreten, Ausdrucksvermögen und Umgang. „Jugendsprache und Flausen im Kopf“ mussten ihm nicht ausgetrieben werden, stattdessen waren Gespräche mit Kund:innen auf Augenhöhe von Anfang an kein Problem.
In der Berufsschule überzeugt der 52-Jährige ebenfalls. Ein weiterer Vorteil: „Wenn man ihn zum Kunden schickt, merkt der gar nicht, dass es ein Azubi ist“, scherzt Lang. Was man Menschen 50+ zudem positiv unterstellen könnte: Die Lebens- und Familienplanung ist vermutlich schon abgeschlossen, mit einem Ausfall oder Weggang ist eher weniger zu rechnen. „Das ist für mich nicht relevant. Das Leben passiert einfach. Egal ob 20 oder 50.“ Für Lang ist entscheidend, ob jemand Interesse zeigt, handwerkliches Geschick mitbringt, ein gutes Auftreten hat und vor allem, ob der- oder diejenige menschlich ins Team passt. Aber ist ein Handwerk denn auch in höherem Alter tatsächlich noch etwas? „Der Beruf ist nicht mehr der gleiche wie vor 40 Jahren“, findet Lang. Während sein Vater noch an der Drehbank stand und Gelenke schmied, seien die Tätigkeiten heute deutlich weniger körperlich anspruchsvoll.
Als ungewohnt empfindet der Geschäftsführer es jedoch, Drucks die gleichen – teils auch simplen – Aufgaben wie allen anderen Auszubildenden zu geben. Doch Gleichbehandlung schreibt er groß. Auf der anderen Seite sind die Ansprüche an Drucks manchmal dennoch etwas höher: „Man erwartet schon mehr von ihm als von einem 17-Jährigen. Allerdings nicht, was fachliche Dinge angeht, sondern dass er mitdenkt“, stellt Lang immer wieder fest. Jetzt, rund ein Jahr nach Ausbildungsstart, freut er sich nach wie vor über den Neuzugang im Team. Es kann sich also auf der Suche nach Nachwuchskräften lohnen, nicht den gewohnten Weg zu wählen, sondern nach links und rechts zu schauen. „Seien Sie offen“, rät er Personalentscheider:innen in anderen Betrieben. Immer wieder habe er Bewerber:innen, die andere vielleicht gar nicht wahrgenommen hätten, zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Und das mit Erfolg. Dass ein schlechter Schulabschluss kein Ausschlusskriterium sein muss, beweist z. B. einer seiner aktuellen Azubis. In der Berufsschule kommt er heute gut klar. „Er war direkt sympathisch und kann super mit Menschen umgehen“, hebt Lang weitere Kompetenzen des jungen Mannes hervor.
Welche Bewerbung flattert wohl als nächstes herein? Lang lässt sich überraschen und fegt mögliche Vorurteile wieder einmal vom Tisch.
Pia Engelbrecht
Ein Beruf mit Sinn
Im Gespräch mit der OT-Redaktion erläutert Dr. Stephan Drucks, was ihn dazu motiviert hat, Orthopädietechniker zu werden, wie Betriebe auf seine Bewerbung reagiert haben und warum er sich auch heute immer wieder für die Ausbildung entscheiden würde.
OT: Das Durchschnittsalter bei Ausbildungsstart liegt in Deutschland bei rund 20 Jahren. Warum haben Sie sich nach Ihrem Soziologiestudium und vielen Jahren im Beruf so spät noch für eine Ausbildung entschieden?
Stephan Drucks: Ich frage mich öfter, warum ich das nicht schon eher gemacht habe. Meine Eltern hatten beide eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich absolviert. Mir legten sie aber nie nahe, es ihnen nachzumachen. Mir wurde suggeriert, der erste Bildungsweg bis zum Studium sei der eigentlich normale und richtige Weg. Diese Erwartung schien selbstverständlich, ohne dass es in der Familie dafür ein Vorbild, eine Begründung, Austausch oder Unterstützung gegeben hätte. Ich mag Forschungsarbeit, aber als Professor sah ich mich nie, und andere Beschäftigungsmöglichkeiten werden durch Wissenschaftszeitvertragsgesetz und ultrakurze Verträge immer fragwürdiger. Schließlich entschied ich mich, stattdessen konsequent meinen Interessen zu folgen. Die Entscheidung zur Ausbildung war letztlich leicht: Orthopädie-Technik ist ein Beruf, mit dem man Menschen konkret und mitunter ganz existenziell weiterhelfen kann. Das macht Sinn. Ich wollte nicht irgendeine Ausbildung machen, sondern Orthopädie-Technik lernen. Mein vorheriger Beruf war nicht ansatzweise ähnlich, und eine Umschulung wurde mir nicht in Aussicht gestellt, also habe ich mich um einen Ausbildungsplatz beworben, um das Ganze gründlich zu machen.
OT: Warum war es Ihnen wichtig, einen handwerklichen Beruf zu erlernen? Und wie sind Sie auf den Bereich Orthopädie-Technik aufmerksam geworden?
Drucks: Ein paar Studienjahre lang hatte ich mehr gejobbt als studiert, dabei oft schwer körperlich gearbeitet. Daran dachte ich eigentlich immer gerne zurück. Privat baue ich mir immer mal Dinge selbst, hatte aber nie wie ein richtiger Handwerker mit speziellen Werkzeugen gearbeitet, und immer Leute beneidet, die das können. Nun wollte ich aber gar nicht vor allem irgendwas Handwerkliches machen, sondern etwas, was jeden Tag jemandem hilft. Mit technischen Hilfsmitteln befasse ich mich privat seit dem Schlaganfall meiner Mutter vor etwa fünf Jahren. Als ein vom Arbeitsamt vermittelter Coach mich auf mein früheres Interesse an Fahrrädern ansprach, wusste ich auf einmal, dass ich zwar nicht mehr an Fahrrädern, aber unbedingt an Rollstühlen schrauben wollte. Von Orthopädie-Technik hatte ich vorher schon gelesen und dann fiel der Entschluss ziemlich plötzlich. Der große Kontrast zur universitären Arbeit ist im Grunde folgerichtig: Dort wurde zunehmend zu Gesundheitskompetenz und deren systemischen Voraussetzungen gearbeitet. Ich hielt es für mindestens ebenso wesentlich, konkreten Personen tatkräftig gesundheitsrelevante Angebote zu machen. Medizin studieren wollte ich nun nicht gerade mehr. Aber Prothetik und Orthetik sind genauso wichtig.
OT: Hatten Sie Bedenken, dass Ihr Alter ein Ausschlusskriterium für Betriebe sein könnte oder Sie aufgrund Ihrer Vita womöglich als überqualifiziert wahrgenommen werden?
Drucks: Wegen meines Alters ausgeschlossen zu werden, hielt ich für möglich. Darüber nachzudenken, bringt einen aber in eine defensive Haltung und lenkt vom Wesentlichen ab. Ich bin froh, diesen Bedenken nicht nachgegeben zu haben. Es gab die Sorge, als überqualifiziert zu gelten, obwohl ich das ja offensichtlich nicht war. Soziologiestudium und Promotion in Erziehungswissenschaften qualifizieren selbstverständlich nicht für Orthopädie-Technik. Ich wäre dazu qualifiziert, Fragen nach Zuschreibungen wie „Überqualifikation“ oder Fragen nach Ausschlussrisiken in ein Forschungsprojekt umzuschreiben. Vielleicht bietet sich das ja irgendwann einmal an. Aber als Orthopädietechniker stehe ich halt ganz am Anfang.
OT: Wie haben die Betriebe schließlich auf Ihre Bewerbung reagiert?
Drucks: Ich bekam insgesamt wenig Rückmeldung. Ob das am Alter lag, weiß ich gar nicht. Wichtiger war vielleicht, dass ich mich erst recht kurz vor Ausbildungsbeginn zum Bewerben entschlossen hatte. Die einzige telefonische Rückmeldung kam vom Chef des Betriebes, in dem ich dann auch den Ausbildungsvertrag unterschrieb. Eine Bewerbung von jemandem in meinem Alter und mit meinen Qualifikationen wurde hier als eine Neuerung wahrgenommen, auf die man sich einfach mal einlassen kann. Das war dann wohl der Chef, den ich brauchte.
Voneinander lernen
OT: Was haben Sie aufgrund Ihrer Berufs- und Lebenserfahrung jüngeren Auszubildenden voraus?
Drucks: Konkrete Vorteile betreffen die Berufsschule. Ich schreibe vergleichsweise gerne und sicher Texte verschiedener Art und stehe mit größerem Vergnügen als viele Jüngere zum Referieren vorne im Klassenraum, weil das für mich gefühlt der beste und der natürliche Platz ist. Das erleichtert es, sich zum Lernen zu motivieren und etwas für die Noten zu tun. Inwiefern das anderen Azubis nützen kann und ob darin Vorteile für die praktische Arbeit und für den Betrieb liegen, könnte sich noch herausstellen bzw. besprochen und ausprobiert werden.
OT: Was lernen Sie im Gegenzug von Ihren Mitazubis?
Drucks: Von Mitazubis kann ich alles lernen, was die schon können und wissen, wenn sie mich daran teilhaben lassen. Das beruht auf Gegenseitigkeit und ist unabhängig vom Altersunterschied. Das wurde klar in der Woche überbetrieblicher Lehrlingsunterweisung im Juni. Wir arbeiteten parallel an verschiedenen Aufgaben. Man war immer mal irgendwo einen Schritt voraus und an anderer Stelle einen Schritt zurück. Und dann fragt und hilft man sich gegenseitig. Man tauscht sich halt aus.
OT: Wie ist das Verhältnis zwischen Ihnen und (womöglich jüngeren) Ausbilder:innen und Mitarbeiter:innen? Spielen Ihr Alter und Ihre Berufserfahrung dabei eine Rolle?
Drucks: Eine spannende Frage. Es gibt nicht das eine Verhältnis zu allen anderen. Da sind Unterschiede, weil Leute eben unterschiedlich sind. Aber es gibt schon Irritationen durch diese ungewöhnliche Verknüpfung von Status, Alter und Lebenslauf. „Ausgelernt“ sein und Berufserfahrung als Orthopädietechniker, das sind scheinbar selbstverständlich an Lebensphasen gebundene, jedenfalls im Betrieb gültige Währungen. Ein Mensch mittleren Alters ohne solche Meriten erscheint sperrig, ja begründungsbedürftig. Ich möchte vor allem lernen, Hilfsmittel zu bauen und anzupassen. Möglicherweise gibt es aber unausgesprochene andere Erwartungen an mich. Dann wäre es am besten, mir diese deutlich zu sagen. Manches könnte ich ja vielleicht bedienen. Kommunikation ist immer herausfordernd, aber umso mehr, wenn mit Statushierarchien verbundene Vorstellungen irritiert werden. Hierüber machen sich Ausbilder:innen und Mitarbeiter:innen offensichtlich auch Gedanken. Eine sagte mir letztens, sie hätte sich erst an den Gedanken gewöhnen müssen, einem lebenserfahreneren Menschen Dinge „wie für Blöde“ zu erklären. Genau das aber eröffnet mir Chancen, zu lernen und mich anzupassen. Ich freue mich, wenn man mich wie einen Menschen behandelt, der einen technischen Beruf lernen möchte. Auf den Platz als „nur Auszubildender“ hingewiesen zu werden, finde ich gelinde gesagt überflüssig. Das mit der Weisungsbindung und den für Azubis typischen Aufgaben verstehe ich sowieso. Verkrampfungen beim Aussprechen von Kritik gibt es immer. Zuweilen liegt das aber auch am Altersunterschied. Ich würde bei Berufswahl und Ausbildung mit 50+ dazu raten, Sorgen wegen Altersunterschied und „Überqualifikation“ erst mal den anderen Beteiligten zu überlassen, aber später sensibel auf deren Zeichen zu achten und diese öfter aktiv anzusprechen, als ich das bislang getan habe. Das erleichtert womöglich einiges. Ich habe da Vorsätze. Insgesamt wäre ich für mehr ältere Auszubildende in den Betrieben, damit das normaler wird.
Die richtige Entscheidung
OT: Wie reagieren die Kund:innen auf Sie?
Drucks: Kund:innen erwarten vielleicht nicht als allererstes, dass ich der Auszubildende bin. Es steht aber auf meinem Namensschild. In Beratungsgesprächen zeigt sich schnell, dass eine Kollegin oder ein Kollege routinierter und kenntnisreicher auftritt und wie die Rollen verteilt sind. Um mögliche Zweifel auszuräumen, sage ich schon mal so etwas wie „die Kollegin hat das Kommando“.
OT: Jetzt, rund ein Jahr nach Ausbildungsstart: War es die richtige Entscheidung, den Weg Richtung Orthopädie-Technik einzuschlagen?
Drucks: Die Entscheidung halte ich immer noch für richtig, obwohl das erste Jahr schwierig war. Im November riss mir rechts die distale Bizepssehne. Das bedeutete monatelang Pause und immer noch Einschränkung. Damit stand alles infrage, zumal die Verletzung mit Vorverschleiß – also Alter – zu tun hatte. Ein „normaler“ Ausbildungsverlauf war dadurch nicht möglich, was für alle lästig ist. Aber letztlich möchte ich Orthopädietechniker werden. Außerdem arbeitet der Betrieb in motivierender Weise am Ausbildungskonzept.
Die Fragen stellte Pia Engelbrecht.
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