Der Auditor mit langer Berufserfahrung im Bereich des Qualitätsmanagements berät Unternehmen und hält Vorträge zur MDR. Er kennt die Probleme und Fragen der Branche und hat sich intensiv damit auseinandergesetzt. Deshalb überrascht sein Urteil nicht, dass die MDR für Gesundheitshandwerke eine große Aufgabe darstellt, die noch lange nicht abgeschlossen ist. Veränderungen bei Fristen und Rahmenbedingungen zwingen die Betriebe stets, sich mit dem Thema auseinanderzusetzten. Im Gespräch mit der OT-Redaktion erklärt Roland Weghorn, wo der Schuh bei den Betrieben drückt.
OT: Welche Vorteile haben OT-Betriebe, wenn sie die MDR richtig umsetzen?
Roland Weghorn: Da die MDR ein Gesetz darstellt, heißt das, dass diese Betriebe im Rahmen des Gesetzes agieren und nicht illegal unterwegs sind. Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass die Branche über die Betriebe zeigt, dass sie „up to date“ ist und sich den Herausforderungen stellt.
OT: Wenn es Schwierigkeiten bei der Umsetzung gab bzw. gibt, welche Faktoren waren dann dafür ausschlaggebend aus Ihrer Sicht?
Weghorn: Aus meiner Sicht ist die größte Schwierigkeit die Unüberblickbarkeit der MDR. Mit 175 Seiten in Schriftgröße 9,5, 123 Artikeln, 17 Anhängen, 71 Begriffs-Definitionen und allein 13 Seiten mit 101 Gründen, warum es die MDR braucht, ist es für Handwerksbetriebe schwer, zu durchblicken, welche Regelungen überhaupt gelten – geschweige denn, inhaltlich richtig zu begreifen, was eigentlich gefordert ist. Beginnt man die MDR zu lesen, schläft man nach wenigen Seiten tief und fest – ein gutes Mittel gegen Schlafprobleme, aber schwere Kost. Sie verzeihen meine Ironie, aber jeder, der sich ernsthaft mit der MDR auseinandersetzt, wird bestätigen, dass Handwerksbetriebe bei der Umsetzung der MDR tendenziell vergessen wurden.
OT: Welche Rolle spielte die Größe des Betriebs bei der Umsetzung?
Weghorn: Bezüglich der Umsetzung spielt die Unternehmensgröße weniger oder gar keine Rolle, denn die Anforderungen zielen auf das Medizinprodukt ab und sollen den Schutz bei der Anwendung beziehungsweise die Vermeidung unnötiger Risiken gewährleisten und richten sich nach der Rolle, die Unternehmen einnehmen. Die hier gestellten Anforderungen gelten damit immer unabhängig von einer Unternehmensgröße. Positioniert sich ein Sanitätshaus ausschließlich als Händler, so gilt Artikel 14 mit seinen Anforderungen. Tritt das Unternehmen auch als Hersteller auf – und das sind die OT-Betriebe ja in aller Regel als „Sonderanfertiger“ –, so gilt Artikel 10 mit all seinen Forderungen inklusive der Überprüfung und Erklärung der Konformität ihrer Produkte. Kommt jetzt auch noch Vereinzelung ins Spiel, was im Care-Bereich häufig anzutreffen ist, dann folgt mit Artikel 16 ein Anforderungsreigen, der alles andere in den Schatten stellt. Und dann gibt es noch die Rolle des Importeurs und die des Bevollmächtigten, die auch nicht ohne sind. Tendenziell würde ich sagen, je größer der Betrieb, desto schwerfälliger und in der Regel auch komplexer wird die Umsetzung. Je kleiner, desto flexibler kann auf die Anforderungen reagiert werden. Allerdings fallen in kleineren Betrieben dann bisherige Angebote wie die Vereinzelung auch einfach weg, denn das ist in dem geforderten Maße gar nicht zu stemmen.
OT: Gibt es weiterhin Bedarf an Hilfestellung bezüglich der MDR?
Weghorn: Unbedingt. Zum einen hat allein der Wechsel von der bisherigen Richtlinie in Verbindung mit dem MPG (Medizinproduktegesetz, Anm. d. Red.) zur MDR vieles verändert. Zum anderen erscheinen beinahe wöchentlich „Interpretationen“ der MDR durch zusätzliche Papiere der Koordinierungsgruppe Medizinprodukte (Medical Device Coordination Group – kurz MDCG, Anm. d. Red.), die es schwer machen, einerseits das Wissen aktuell zu halten und das dann gegebenenfalls auch noch in die Praxis umzusetzen. An dieser Stelle sei im Besonderen darauf hingewiesen, dass gemäß Artikel 8 der europäischen Medizinprodukteverordnung eine Konformität mit der MDR „vermutet“ wird, wenn harmonisierte Normen umgesetzt werden. Das bedeutet im Klartext, dass der Nachweis einer ISO-13485-Zertifizierung für das Qualitätsmanagementsystem als indirekter Nachweis für die Einhaltung der MDR in Bezug auf die QM-Forderungen gilt. Die ISO 13485 wird damit zu einer Art Leitplanke bzw. Hilfestellung bei der rechtskonformen Umsetzung der MDR. Da das QM-System gleichzeitig als Nachweis für das Einhalten der Sorgfaltspflichten gilt, bedeutet das im juristischen Sinn im Extremfall eine Beweislast-Umkehr, wenn jemand der Meinung ist, ein Unternehmen hätte nicht sorgsam gearbeitet und beispielsweise einen Schaden verschuldet. Es ist in der Praxis ein großer Unterschied, ob im Einzelfall das Einhalten aller Pflichten aus der MDR nachgewiesen werden muss, oder im Umkehrfall ein „Klagender“ genau nachweisen muss, wo ein Unternehmen seine Pflichten verletzt hat. Dabei ist auch wichtig zu wissen, dass diese Logik nicht für die Umsetzung einer ISO 9001 gilt. Diese ist keine mit der MDR harmonisierte Norm.
OT: An welchen Punkten gibt es den größten Beratungsbedarf?
Weghorn: In Bezug auf den Handel würde ich sagen, die Prüfung des Produkt-Portfolios gemäß Artikel 14 bereitet Schwierigkeiten und damit verbunden die Logik, aktuelle und gültige Konformitätserklärungen der Hersteller für die vertriebenen Produkte vorzuhalten. Bei der Hersteller-Rolle gemäß Artikel 10 (Sonderanfertiger, Anm. d. Red.) tun sich die Unternehmen bei der Umsetzung der Marktbeobachtung, der sogenannten Post Market Surveillance, einschließlich der jetzt geforderten Berichtspflicht schwer. Die Umsetzung des Artikels 16 in Bezug auf Vereinzelung ist, wie schon erwähnt, ein völlig neues und ungeahnt komplexes Thema, das derzeit so gut wie kein Unternehmen in Deutschland rechtskonform umsetzt. Aber hierzu gibt es ja viele Hilfsangebote seitens des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik wie Schulungen und Arbeitsmaterialien.
OT: Die MDR wurde seit dem verbindlichen Geltungsbeginn diskutiert und angepasst. Ergaben sich daraus Änderungen für OT-Betriebe?
Weghorn: Ja, das sind die zur letzten Frage angerissenen Themen. Händler sind jetzt für die Produkte, die sie verkaufen – im MDR-Deutsch „am Markt bereitstellen“ – verantwortlich. Stellen sie aus irgendeinem Grunde eine Nicht-Konformität mit der MDR fest, dürfen die Produkte nicht mehr verkauft werden. Hersteller beziehungsweise Sonderanfertiger – der klassische OT-Betrieb – müssen jetzt einen Entwicklungsprozess und einen Bericht über die Produkte im Markt vorhalten. Vereinzelung von Produkten ist nur noch mit einem Nachweis einer Benannten Stelle möglich. Wohl gemerkt – hier reicht eine ISO 13485 Management-Zertifizierung nicht aus – es muss eine Bescheinigung einer Stelle sein, die im Markt Produkte zulassen darf. Einige Herausforderungen leiten sich außerdem aus den Fristverlängerungen für Produkte ab Klasse IIa und den damit verbundenen Herausforderungen für Händler ab, wo zurzeit immer wieder Unklarheit herrscht, ob Produkte mit einer Zulassung nach alter Richtlinie noch verkauft werden dürfen oder nicht – Stichwort „Legacy Devices“. Da es für Klasse-I-Produkte keine Übergangsregelung gibt, gilt, dass hier Produkte, für die der Hersteller eine Konformitätserklärung nach Richtlinie liefert, kategorisch nicht mehr verkauft werden dürfen, während beispielsweise ein Blutdruckmessgerät aufgrund der Übergangsregelung gegebenenfalls sehr wohl noch verkauft werden darf.
OT: Welche Änderungen im EU-Recht bzw. auf nationaler Ebene könnten auf die Orthopädie-Technik zukünftig zukommen?
Weghorn: Da die MDR als EU-Verordnung über dem nationalen Recht steht, kann national nur geregelt werden, was die MDR nicht explizit regelt oder was hier explizit auf nationale Ebenen heruntergebrochen werden kann. In Bezug auf die oben erwähnten und an die jeweiligen Rollen gekoppelten Artikel 10, 14 und 16 und andere wird sich hier wenig ändern – abgesehen von den „Interpretationen“ der MDCG-Arbeitsgruppen. Bei uns in Deutschland gibt es seit dem MPG 1998 die Rolle des Medizinprodukteberaters. Diese Rolle ist in der MDR so nicht vorgesehen. Daher wurde diese Rolle im Rahmen des MPDG (Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetz, Anm. d. Red.) weitgehend unverändert in den § 83 des MPDG auf nationaler Ebene übernommen. In anderen Handwerksbereichen, beispielsweise in der Hörakustik, ist man jetzt den Weg gegangen, die Rolle des Sonderanfertigers nach MDR durch den „Anpasser“ zu ersetzen, um die Anforderungen der MDR als Hersteller zu umgehen. Dazu wurde im MPDG eine neue Rolle definiert, die aus meiner Sicht höchst fragwürdig ist. Sinnvoll wäre es – und das ist meine Hoffnung –, dass langfristig Auslegungen der MDR für Handwerksbetriebe beziehungsweise Sonderanfertiger eingeführt werden, die sich an der Praxis orientieren und für die Betriebe leistbar sind.
OT: Wenn Sie zwei Änderungswünsche an die MDR formulieren dürften, welche wären das?
Weghorn: Wunsch eins wäre die sofortige Abschaffung der Anforderung aus Artikel 10 Absatz 9, nach der jeder Hersteller – und damit auch jeder Sonderanfertiger – einen Entwicklungsprozess vorweisen muss. Jemand, der drei Jahre gelernt hat, eine Prothese oder eine andere Sonderanfertigung herzustellen, macht das auf Basis standardisierter Prozesse und Tätigkeiten, die erlernt wurden. Hier gibt es keine Entwicklung, das ist völlig sinnfrei.
Wunsch Nummer zwei ist eine Anpassung der Anforderungen aus Artikel 16 hinsichtlich Vereinzelung. Dass eine Eignung der vorhandenen Vereinzelungspraxis nachgewiesen werden muss, sehe ich als legitim an. Aber von einer Benannten Stelle? Hier wünsche ich mir eine Neuauslegung der MDR für Handwerksbetriebe über die Integration in ein vorhandenes QM-System. Warum soll ein Auditor im Rahmen einer ISO-13485-Begutachtung nicht auch ein sachgerechtes Vereinzeln mitauditieren und bestätigen können – und das mit nur kleinem Aufwand? Auch wenn es nicht pauschal gilt, bei einem meiner großen Kunden schlägt Stand heute die Auditierung nach Artikel 16, wo ausschließlich im Care-Bereich Vereinzelung stattfindet, mit mehr Auditzeit zu Buche als die komplette ISO-13485-Auditierung des gesamten Betriebs. Das kann ich niemandem vernünftig erklären.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
Roland Weghorn informiert interessierte Betriebe im Rahmen der von der Confairmed GmbH veranstalteten MDR-Seminare zu den Themen „Spezielle Anforderungen an Händler, Importeure & Bevollmächtigte“, am 19. September von 9 bis 12.30 Uhr, sowie „Spezielle Anforderungen an Hersteller bzw. Sonderanfertiger“, am 19. September von 13.30 bis 17 Uhr. Weitere Informationen sowie weitere Seminare gibt es auf der Website der Confairmed.
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