OT: Frau Schliephake, aktuell sorgt „ChatGPT“ wieder dafür, dass das Thema Künstliche Intelligenz in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Es wird in manchen Medien prophezeit, dass diese Applikation die Aufgaben von Menschen übernehmen wird. Klingt das nach einem Horrorszenario oder nach einer Zukunftsperspektive für Sie?
Judith Schliephake: Das lässt sich pauschal gar nicht so sagen. Natürlich habe ich mich auch gefragt, ob Anwendungen wie „ChatGPT“ irgendwann meine Arbeit als Wissenschaftlerin obsolet machen. Noch ist die Anwendung nicht so weit, aber es ist durchaus vorstellbar, dass sie in Zukunft einige Bereiche meiner Arbeit sehr gut übernehmen kann. Das kann man natürlich damit verbinden, Angst vor solchen KI-Anwendungen zu bekommen, aber vielmehr möchte ich dazu anregen, sich schon jetzt mit dem Thema KI auseinanderzusetzen, in seinem Alltag und auch beruflich KI als eine Option für die eigenen und betrieblichen Herausforderungen mitzudenken und neben den potenziellen Risiken, die definitiv in KI-Anwendungen stecken, auch die Chancen zu sehen, die damit einhergehen können. Einen Handwerksbetrieb kann „ChatGPT“ z. B. unterstützen, Stellenanzeigen zu verfassen und diese auch in verschiedene Sprachen zu übersetzen, Webseitentexte zu erstellen oder schnell Tipps zu verschiedenen Themen wie u. a. aktuell zum Stromsparen zu erhalten. Daher kann „ChatGPT“ als Impulsgeber dienen oder bei Recherchearbeit unterstützen. So kann Routinearbeit erleichtert werden und es ist möglich, sich mehr auf wertschöpfende und kreative Aufgabenbereiche zu konzentrieren oder im Alltag generell mehr Zeit zu haben. Auch hinsichtlich der Bekämpfung des Fachkräftemangels sind KI-Anwendungen eine Chance. Nichtsdestotrotz muss man sich bewusst sein, dass am Beispiel „ChatGPT“ der ausgegebene Inhalt kritisch geprüft werden muss oder dass diese KI die Inhaltshoheit übernehmen kann, wenn sie als einzige Quelle dient und man sich nicht kritisch und reflektiert mit den ausgegebenen Inhalten auseinandersetzt. Und genau dieser Ambivalenz, die in KI steckt, sollten sich die Anwendenden bereits vor der privaten Nutzung sowie der Implementierung im Arbeitskontext bewusst sein.
OT: Künstliche Intelligenz kann den Alltag, aber auch das Arbeitsleben erleichtern. Wo findet man schon heute KI, ohne es zu merken?
Schliephake: Wir haben mit vielen Unternehmenden und Beratenden von kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU, Anm. d. Red.) gesprochen und es gibt hier sehr häufig den „Aha-Effekt“. Insbesondere bei KI-Anwendungen, die z. B. mit automatisierter Bilderkennung oder Sprach- sowie Textverarbeitung arbeiten. Beispiele sind hierfür KI in Smartphones oder Navigationssystemen, virtuellen Assistenten, Übersetzungstools oder auch in personalisierten Empfehlungen von Streamingdiensten.
OT: Handwerksbetriebe ächzen unter der Last des Fachkräftemangels. Kann KI hier für Entlastung sorgen?
Schliephake: Auf jeden Fall. Das zeigen uns auch die vielen Beispiele aus dem Handwerk, die bereits auf KI setzen und hierdurch ihre Arbeitsprozesse effizienter gestalten können. Bäckereien nutzen z. B. KI, um besser ihren Bedarf tagesgenau zu prognostizieren. KI-gestützte Software ist auch auf Baustellen im Einsatz. Hier dient sie als Monitoring- und Managementtool, um komplexe Bauprojekte besser zu steuern und zu planen. Roboter und Cobots übernehmen körperlich belastende Tätigkeiten und wiederkehrende Routinearbeiten. Ebenso sind VR-Brillen unterstützend, wenn es um die Auswahl der richtigen Materialien und Werkzeuge geht. An den Beispielen kann man erkennen, dass KI insbesondere Routinearbeiten in Handwerksbetrieben abnehmen kann. Hierdurch können sich die Beschäftigten auf die wertschöpfenden Tätigkeiten und die eigentliche handwerkliche Arbeit konzentrieren. Zudem sieht man am Beispiel Robotik sehr gut, dass Handwerksbetriebe auch ihre Arbeitgeberattraktivität durch den Einsatz von KI steigern können, da die körperlich sehr beanspruchenden Tätigkeiten, die es nun mal in sehr vielen Gewerken gibt, wegfallen und deutlich erleichtert werden.
OT: Welche Bereiche eignen sich besonders dafür?
Schliephake: Sicherlich gibt es in einigen Gewerken größere Potenziale und Einsatzmöglichkeiten als in anderen. Man kann jedoch Kriterien festlegen, die es erleichtern zu entscheiden, ob ein KI-Einsatz in meinem Unternehmen lohnenswert ist. Handelt es sich bei der Aufgabe um eine wiederkehrende und zeitintensive Tätigkeit und ist die KI entscheidungsunterstützend und bringt einen finanziellen Vorteil, stellt der KI-Einsatz sicherlich eine gute Option dar. In dem Bereich der Orthopädie-Technik könnte KI z. B. bei der vorrausschauenden Wartung von Orthopädietechnik-Produkten von Nutzen sein. Vorstellbar sind KI-basierte Lösungen, die Orthopädietechnik-Produkte automatisch optimieren und an die Bedürfnisse und anatomischen Eigenschaften der Kundschaft anpassen. Das spart Zeit und Ressourcen für die Betriebe. Letztendlich ist es gut zu schauen, wo im Unternehmen die Schmerzpunkte liegen und KI an dieser Stelle als eine unter vielen Optionen mitzudenken. KI sollte daher nie ein Selbstzweck sein, sondern immer ein konkretes Anwendungsproblem lösen.
OT: Gibt es Einsatzgebiete, in denen Sie Betrieben raten, die Finger von KI zu lassen?
Schliephake: Ich würde es nicht auf Einsatzgebiete beschränken, sondern bei jeder Anwendung vor der Implementation die Chancen und Risiken abwägen. Wichtig sind dafür auch die entsprechenden Kompetenzen und dies betrifft nicht unbedingt die technische Seite, sondern es bedarf an Gestaltungsvorstellungen der präventiven Arbeit, damit eine KI-Anwendung sich nicht nur wirtschaftlich lohnt, sondern auch menschengerecht in den Betrieb eingeführt werden kann. Ich würde daher abraten, KI zum Selbstzweck einzuführen, weil es gerade im Trend liegt oder aber zu implementieren, ohne diesen Prozess partizipativ und aktiv mit allen Beteiligten zu gestalten. Sonst muss man im Nachhinein für Akzeptanz sorgen, was ein äußerst langwieriger Prozess sein kann.
OT: Wenn ein Betrieb die Implementierung von KI beabsichtigt, welche Schritte sollte er vornehmen?
Schliephake: Wesentlich ist, dass die Akzeptanz für die KI-Anwendung im Unternehmen vorhanden ist und alle Beteiligten bereits vor der Implementation aktiv und partizipativ am Prozess beteiligt werden, damit die Akzeptanz hergestellt werden kann und nicht mühsam im Nachhinein erarbeitet werden muss. Zudem sind in diesem Prozess die Transparenz und Offenheit ganz entscheidend. Über bestehende Ängste der Belegschaft sollte gesprochen werden. Auch der Kompetenzaufbau im Bereich KI ist wichtig, damit alle Beteiligten von Anfang an mitgenommen werden können. Dies betrifft nicht nur die Fachkompetenzen, sondern auch Methoden‑, Sozial- und Personalkompetenzen, z. B. die Offenheit für Neues oder lebenslanges Lernen. Ebenso ist es gut, sich dem Einführungsprozess schrittweise zu nähern. Im learning by doing sind Handwerksbetriebe Meister. Gerade durch das wertvolle anwendungsnahe und praktische Erfahrungswissen entwickeln Betriebe innovative Problemlösungskompetenzen. Wenn sich Betriebe dieser Stärken bewusst sind und sie gezielt einsetzen, ist das ein enormer Vorteil, sich die Potenziale, die in KI stecken, zu erschließen.
OT: Welche Bedenken haben Betriebsinhaber:innen gegebenenfalls gegenüber der Einführung von KI?
Schliephake: Wir haben mit Inhaberinnen und Inhabern von kleinen und mittelständischen Unternehmen gesprochen und häufig fallen Bedenken wie der Arbeitsplatzverlust oder die Abhängigkeit von der KI und dass dadurch ein Kompetenzverlust bezogen auf das Wissen und die Fähigkeiten der Beschäftigten einhergeht. Jedoch sind unter den größten Hemmnissen, eine KI einzuführen der Datenschutz und die Datensicherheit. So fallen beispielsweise bei der Verarbeitung personenbezogene Daten von Beschäftigten an, oftmals auch solche, die besonders schützenswert sind. Da Daten in der heutigen Zeit von enormem Wert sind und insbesondere auch die Basis von KI darstellen, besteht zudem ein hohes Risiko für Diebstahl und Missbrauch. Hier schrecken gerade kleinere Betriebe aus Sicherheitsgründen vor einer KI-Einführung eher zurück.
OT: Lohnt sich der Einsatz von KI aus Ihrer Sicht auch für kleine Betriebe?
Schliephake: Total. Man erkennt an den vielen guten Beispielen aus dem Handwerk, dass sich KI auch für kleine Betriebe als lohnenswert herausstellt. Gerade in Anbetracht des Fachkräftemangels kann KI einen Mehrwert bringen. Und meist sind es auch keine großen Veränderungen in den Betrieben, sondern kleinere Prozesse werden durch eine KI gesteuert und Beschäftigte von zeitaufwendigen Routinearbeiten entlastet. Natürlich ist es aber durch das operative Tagesgeschäft gerade für KMU schwieriger als für die größeren Betriebe, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Gut ist hierbei zu schauen, wie andere Betriebe vorgegangen sind und welche positiven wie auch negativen Erfahrungen sie gemacht haben und so von diesen Praxisbeispielen anderer zu lernen.
OT: Welche Potenziale schlummern in den kommenden zehn Jahren in der KI für Handwerksbetriebe?
Schliephake: Meines Erachtens werden wir um KI nicht mehr drumherum kommen. KI wird sich kontinuierlich weiterentwickeln sowie präziser und zugeschnittener auf die Einzelbedürfnisse und so auch auf die Bedürfnisse des Handwerks sein. Je mehr Handwerker:innen sie nutzen, desto besser entwickelt sich auch die KI weiter in diese Richtung. Die Potenziale, die KI jetzt schon hat, wie etwa Entlastung von zeitaufwendigen Routinearbeiten, Prozessoptimierung, Verbesserung des Kundenservices, Vorhersagen und Empfehlungen, werden meines Erachtens weiterhin bestehen bleiben, nur in einer höheren Qualität.
OT: Wie können Betriebsinhaber:innen die eigenen Mitarbeitenden im Umgang mit KI schulen oder gibt es Spezialist:innen, die künftig die Betriebe unterstützen werden?
Schliephake: In diesem Bereich passiert derzeit viel. In unserem Projekt „KomKI“ (Kompetenzen über KI aufbauen, Anm. d. Red.), welches vom BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Anm. d. Red.) gefördert wird, gilt es, eine KI-Qualifizierung zu entwickeln, die den Bedarfen von KMU gerecht wird und dabei unterstützt, Gestaltungsvorstellungen für die betriebliche KI-Einführung zu entwickeln. Oftmals gibt es ein überwältigendes Weiterbildungsangebot, jedoch fehlen die thematischen und methodischen Bezüge, die KMU brauchen. Hier besteht also die Möglichkeit, ein Angebot zu finden, das sich speziell an Führungskräfte, Betriebsräte sowie Beratende von KMU richtet. Zudem fließen bereits mehr Digitalisierungsinhalte in die berufliche Ausbildung mit ein. Auch die zuständigen Handwerkskammern, die Mittelstand-Digital-Zentren und Beratende von KMU können beim Technologie-Transfer und der Auseinandersetzung mit den Themen Digitalisierung inklusive KI unterstützen und den Zugang erleichtern. Natürlich gibt es aber auch Betriebe, die qualifiziertes Fachpersonal einstellen oder Datenwissenschaftler:innen und KI-Entwickler:innen zurate ziehen. Wesentlich ist aber der Austausch, um zu einem optimalen Ergebnis zu gelangen: Das implizite Erfahrungswissen der Bertriebe ist genauso zu beachten wie die IT-Expertise. Es bedarf hierfür „Übersetzungskompetenzen“, um diesen Dialog zwischen KI-Expertinnen und KI-Experten und den Akteur:innen in den Unternehmen zu ermöglichen.
OT: Letzte Frage: Kann Handwerk – mit Blick auf die Bevölkerungsentwicklung – auf KI überhaupt verzichten, um den Fachkräftemangel auszugleichen?
Schliephake: Ich denke nicht, dass wir an der Technologie KI vorbeikommen, insbesondere mit Blick auf die Bevölkerungsentwicklung. Natürlich wird es in einigen Gewerken mehr Möglichkeiten und Potenziale geben als in anderen. Wesentlich ist, dass KI nicht die Beschäftigten ersetzt, sondern ein Hilfswerkzeug sein kann, um Prozesse effizienter zu gestalten. Es gilt aber nun, Gestaltungsvorstellungen zu entwickeln, die ebenso auf eine menschengerechte Einführung und Nutzung von KI abzielen, damit man als Handwerksunternehmen sorgfältig abwägen kann, ob eine KI für den eigenen Betrieb sinnvoll ist oder nicht.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
Künstliche Intelligenz (KI) bedeutet, dass menschliches Lernen und Denken in eine Rechenmaschine – also die menschliche Intelligenz in eine Maschine – übertragen werden. Der Unterschied zu einem Computerprogramm ist, dass die KI nicht nur für einen singulären Zweck, wie zum Beispiel Textverarbeitung oder Bildbearbeitung programmiert wurde, sondern dank des eingespeisten Wissens eigenständig Antworten findet und selbstständig Probleme löst.
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