Einleitung
Nach Abschluss einer Versorgung können sowohl Orthopädietechnikerinnen und ‑techniker als auch Patientinnen und Patienten in der Regel beurteilen, ob es sich um eine gute Versorgung handelt. Diese Einschätzung ist jedoch zunächst subjektiv und geprägt von individuellen Erwartungshaltungen, bestimmten Vorerfahrungen und eigenem Wissen. Die Rehabilitation von Menschen mit einer Amputation wird in Deutschland zwar innerhalb der gültigen AWMF-Leitlinie 1 beschrieben, die praktische Umsetzung im konkreten Einzelfall ist jedoch heterogen. Um eine Versorgung objektiv bewerten zu können, sollten eigens definierte Bewertungskriterien verwendet werden – wie sie beispielsweise für Abnahmekriterien von Prothesenversorgungen bestehen 2. Messbare Parameter sind die Voraussetzung für eine objektive Beurteilung. In einem größeren Zusammenhang hat sich das Schlagwort der „evidenzbasierten Medizin“ (EBM) beziehungsweise der „evidenzbasierten Praxis“ (EBP) etabliert. EBP wird definiert als die bewusste und systematische Nutzung verfügbarer Forschungsergebnisse bei Entscheidungen über die Versorgung einzelner Patienten 3 unter Einbeziehung individueller Informationen zur behandelten Person und der persönlichen Erfahrung des Versorgers 4. EBP dient hierbei neben dem offensichtlichen klinischen Ziel, Patienten die bestmögliche Versorgung zukommen zu lassen, gleichzeitig dem ökonomischen Ziel, die erbrachten Leistungen gegenüber Kostenträgern zu begründen und Erstattungsregelungen auf der Basis einer geeigneten Datengrundlage zu beeinflussen 5.
Die Frage, die dabei aufkommt, lautet, wie man sowohl in der Phase der frühen Rehabilitation als auch im späteren Verlauf (Stichwort „lifelong rehabilitation“) eine adäquate Erhebungs- und Evaluationsstruktur schaffen kann, die nachweislich gute von weniger guten Verläufen unterscheidet, um daraus klare Handlungsempfehlungen abzuleiten. Ziel könnte es also sein, die heterogene Versorgungslandschaft in Form einer Zusammenführung von Verlaufsdokumentationen zu strukturieren und Verläufe dadurch transparenter darzustellen. Hier bieten sich nach aktuellen Einschätzungen auch internationaler Gremien – z. B. des Konsensprojekts COMPASS (Consensus Outcome Measures for Prosthetic and Amputation ServiceS) der International Society of Prosthetics and Orthotics (ISPO) 6 – strukturierte Erhebungen und Assessments an, die nach Möglichkeit zentral und datenschutzkonform gespeichert, aufgearbeitet und später für weitere Analysen zur Verfügung gestellt werden können.
Solche Erhebungen können sowohl funktionelle als auch psychosoziale Dimensionen erfassen – selbstverständlich im Kontext der patientenspezifischen Gegebenheiten, der jeweiligen therapeutischen Intervention sowie der dazugehörigen Hilfsmittelversorgung. Derart komplexe Zusammenhänge und multidimensionale Hintergründe bedürfen einer klaren Struktur, die nach heutiger Einschätzung insbesondere Register erzeugen können. Auf diese Weise bestehen im Rahmen der klinischen Routine Chancen, patientenbezogene Versorgungsdaten multizentrisch zu erheben, um daraus resultierend einen Gesamtüberblick über die Versorgungen zu erlangen. Hierzu führt das MeTKo-Zentrum Heidelberg/Stuttgart (https://metko-zentrum.de) Projekte durch, die vom baden-württembergischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration gefördert werden. Im aktuellen Projekt „AMP-Register“ ist das Ziel, eine standardisierte Struktur zu schaffen, die eine versorgungsbegleitende Erhebung wichtiger Parameter ermöglicht, um Ist-Zustände und individuelle Verläufe zu dokumentieren, aber auch unter wissenschaftlichen Kriterien qualitätsorientierte Empfehlungen abzuleiten. So können auch Leistungserbringer ihre eigenen Prozesse evaluieren und im Kontext der Gesamtheit für sich bewerten. Darüber hinaus sind es nicht zuletzt auch regulatorische und somit legale Aspekte, die ein solches Register im Kontext der steigenden gesetzlichen Anforderungen maßgeblich unterstützen könnten. Klinische Bewertungen und Risikoabschätzungen wären damit auf Basis valider und fundierter Daten abbildbar. Auf diese Weise entsteht nicht nur eine versorgungsbezogene und patientenzentrierte Qualitätssicherung, sondern auch eine leistungserbringerbezogene Absicherung.
Parallel zu diesem Projekt wurde am Fraunhofer IPA in Stuttgart eine systematische Literaturrecherche zum Thema „performance-based assessments“ für Menschen mit Beinamputation durchgeführt, die sich derzeit (Stand: August 2022) in der finalen Auswertung befindet. Dieser Artikel zielt darauf ab, eine Übersicht über geeignete Assessments in der Orthopädietechnik zu vermitteln, speziell im Hinblick auf die Versorgung von Menschen mit Beinamputation. Dabei wird zum einen die Vielfalt geeigneter Untersuchungsinstrumente aufgezeigt, zum anderen werden aber auch praktikable Beispiele für deren Umsetzbarkeit im eigenen Versorgungsalltag vorgestellt.
Grundlagen zu Assessments
Definition des Begriffs „Assessment“
Assessments sind standardisierte Instrumente, die dabei helfen, den aktuellen Gesundheitszustand eines zu versorgenden Patienten zu quantifizieren und die Veränderung seines Gesundheitszustands im Laufe der Zeit zu bewerten, sodass die Veränderung auf den Einsatz einer bestimmten Intervention zurückgeführt werden kann 7. Der Begriff „Gesundheitszustand“ schließt verschiedene Aspekte ein, z. B. den funktionellen Status mit oder ohne Prothese, physische Leistungsmerkmale wie Kondition und Kraft, aber auch Schmerzen und sogar den Zustand der Prothese und Aspekte wie Schwitzen.
Arten von Assessments
Aussagekräftige Untersuchungsinstrumente (sog. Assessments) zielen darauf ab, Bedürfnisse und Anforderungen der untersuchten Patientengruppe zu erfassen und Veränderungen im Therapieverlauf sichtbar zu machen. Darüber hinaus ist es somit auch möglich, die Ergebnisse der Assessments eines Patienten gegenüber anderen einzuordnen. Daraus können Therapie- und Versorgungsentscheidungen evidenzbasiert abgeleitet werden.
Betrachtet man die internationale Studienlage, so findet man eine Vielzahl unterschiedlicher Assessments, die bei Menschen mit Beinamputation eingesetzt und validiert wurden 8 9 10 11. Prinzipiell lassen sich diese in verschiedene Kategorien unterteilen, wie nachfolgend beschrieben.
Zunächst gilt es zu unterscheiden, ob es sich um einen Fragebogen oder um einen Test handelt, bei dem die untersuchte Person motorische Aufgaben zu bewältigen hat, sogenannte „performance-based assessments“. Bei den Fragebögen wird unterschieden, ob diese von der untersuchten Person selbst („patient-reported outcome measures“, PROM) oder vom klinischen Experten („patient-centered outcome measures“, PCOM) ausgefüllt werden.
„Performance-based assessments“ untersuchen stets Aspekte der Mobilität wie z. B. das Gehen, Transfers oder das Gleichgewicht. Mit Fragebögen werden darüber hinaus Aspekte wie die Zufriedenheit mit der Prothese, Schmerzen oder die eigene Einschätzung zur Lebensqualität erhoben.
Ferner kann man die international zur Untersuchung von Menschen mit Beinamputation eingesetzten Assessments dahingehend unterscheiden, für welche Patientengruppe sie ursprünglich entwickelt wurden 8. Da Menschen mit Beinamputation eine sehr heterogene Gruppe darstellen, kann dies für die Auswahl eines Assessments relevante Hinweise geben. Beispielsweise wurden manche Assessments ursprünglich für neurologische Patienten in der Akutrehabilitation, wieder andere diagnoseunspezifisch für alle (also auch verhältnismäßig gesunde) Patienten entwickelt. Je nach Gesundheitszustand und Zeit seit der Beinamputation ist dann das eine oder andere Assessment besser geeignet. Mittlerweile existieren aber auch etliche Assessments, die speziell für Anforderungen von Menschen mit Beinamputation entwickelt wurden. In Studien mit Menschen nach Beinamputation werden aber eben auch häufig diagnoseunspezifische Assessments oder solche Untersuchungssysteme eingesetzt, die ursprünglich für andere Patientengruppen gedacht waren (vgl. Abb. 1). Insbesondere dann, wenn verschiedene Patientengruppen mit einem einheitlichen Assessment untersucht werden sollen, ist es für Versorgungszentren relevant zu wissen, ob die Assessments auch für Menschen mit Beinamputation valide Ergebnisse liefern.
In einer Literaturübersichtsrecherche konnten im Jahr 2014 insgesamt 52 Assessments identifiziert werden, die für Menschen mit Beinamputation in Studien eingesetzt wurden 9. Mittlerweile überblicken die Autoren nahezu 60 Assessments, ohne dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.
Aus der Vielzahl der unterschiedlichen Assessments geht aber auch hervor, dass keines dieser Assessments als sogenannter Goldstandard gelten kann 8 9 12. Umso wichtiger ist es, zu verstehen, welche Assessments sich für die jeweils zu versorgende Person am besten eignen und welche für Orthopädietechniker zudem gut umsetzbar sind.
Neben den räumlichen und zeitlichen Anforderungen eines Assessments geben bestimmte Gütekriterien einen Hinweis darauf, wie gut es für die Anwendung bei einer bestimmten Patientengruppe geeignet ist. Auf diesen Aspekt wird im Folgenden genauer eingegangen.
Gütekriterien für Assessments
Immer wenn Menschen medizinisch untersucht werden, besteht die Gefahr, dass unerwünschte Einflussfaktoren zu einer Verfälschung des Ergebnisses führen. Sogenannte Gütekriterien bzw. psychometrische Eigenschaften gelten als Maßstab dafür, wie ausgeprägt oder geringfügig die Tendenz eines Assessments ist, unabsichtlich verfälscht zu werden. Ziel ist es, jene Werte zu ermitteln, die die Realität möglichst exakt widerspiegeln. „Objektivität“, „Reliabilität“ und „Validität“ sind definierte Kriterien zur Bestimmung dieser genannten Güte 13, wie nachfolgend näher erläutert:
- Mit Objektivität ist die Unabhängigkeit eines Assessments von örtlichen und personellen Rahmenbedingungen gemeint; in Bezug auf orthopädietechnische Belange können z. B. unterschiedliche Stufenhöhen oder Anweisungen an verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Ergebnissen bei derselben untersuchten Person führen.
- Reliabilität bedeutet, dass ein Assessment bei wiederholter Bewertung durch denselben Untersucher („Intratester-Reliabilität“) oder bei der gleichzeitig durch mehrere Untersucher („Intertester-Reliabilität“) evaluierten Person möglichst dieselben Ergebnisse erbringt.
- Validität bedeutet, dass das Assessment auch wirklich das aussagt, was es zu untersuchen vorgibt.
Es sollte daher bei der Anwendung von Assessments stets angestrebt werden möglichst immer die gleichen Rahmenbedingungen zu schaffen, um die extrinsischen Einflussfaktoren so gering wie möglich zu halten.
Darüber hinaus sind Assessments nur dann sinnvoll einsetzbar, wenn sie möglichst praktikabel sind, das heißt, wenn sie in den orthopädietechnischen Alltag zeitlich und von den räumlichen Gegebenheiten her gut integriert werden können. Angesichts der sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den einzelnen Betrieben gibt es dafür keine einheitliche Festlegung.
Ziele von Assessments
Im Folgenden werden stichwortartig wesentliche Ziele der standardisierten Durchführung von Assessments im Zusammenhang mit orthopädietechnischen Versorgungen aufgeführt:
- erleichterte intra- und interdisziplinäre Kommunikation für einen strukturierten Austausch mit Kolleginnen und Kollegen der eigenen oder anderer Disziplinen;
- Konzeption einer angemessenen Versorgung und Therapie für den Patienten (je besser die Bedürfnisse und die Potenziale des Menschen mit Amputation verstanden werden, desto spezifischer können Versorgung und Therapie konzipiert werden);
- Gestaltung von Leitlinien fürs therapeutische Assessment als Standard für eine effiziente und evidenzbasierte Untersuchung sowie als Indiz zur Bestätigung oder Korrektur der Versorgungsmaßnahmen;
- Visualisierung des Therapieverlaufs (auch allmähliche Steigerungen können somit aufgezeigt werden; dies ist gleichzeitig Motivation für Patient und Versorger);
- prognostische Einschätzung des Therapieverlaufs oder gesteigerter Risiken; z. B. deutet eine Durchführungsdauer beim TUG (siehe unten) von mehr als 19 Sekunden bei Menschen mit einer Beinamputation auf ein erhöhtes Sturzrisiko hin 14; eine Durchführungsdauer von mehr als 21,4 Sekunden ist assoziiert mit einem gesteigerten Risiko, dass die prothetische Versorgung später nicht genutzt wird 15;
- langfristige Abkehr von der statischen Einteilung nach Mobilitätsgraden hin zu einer ICF-basierten Bewertung als teilhabeorientierterer Klassifikation;
- Erfüllung steigender Anforderungen an Dokumentation und evidenzbasierte Praxis; die am 26.05.2021 in Kraft getretene europäische Medizinprodukte-Verordnung (Medical Device Regulation, MDR) fordert u. a. die Untersuchung der klinischen Wirksamkeit sondergefertigter Hilfsmittel; mit Hilfe standardisierter Assessments kann dieser Forderung nachgekommen werden.
Die Standardisierung eines Vorgehens mit Assessments kann somit ein mächtiges Werkzeug sein, um sich im eigenen Handeln und in der Kommunikation mit anderen Stakeholdern abzusichern. Weiterhin sind natürlich stets auch die persönliche Erfahrung und die situationsbezogene Einschätzung der Orthopädietechnikerinnen und ‑techniker gefragt, um Patienten stets die bestmögliche Versorgung zuteilwerden zu lassen.
Beispiele praktikabler Assessments im orthopädietechnischen Alltag
Um sowohl im praktischen als auch im klinischen Alltag eingesetzt werden zu können, müssen Assessments möglichst effizient, selbsterklärend und entsprechend alltagstauglich sein. Ein Assessment mit hoher Praktikabilität darf nicht viel Zeit in Anspruch nehmen und keine großen, teuren und komplizierten Apparaturen voraussetzen. Dann kann es adäquat in alltägliche Abläufe integriert werden 16. Darüber hinaus müssen die Ergebnisse übersichtlich dargestellt werden können und die Interpretation unkompliziert sein. Assessments sollten hochverfügbar sowie kostengünstig oder kostenfrei nutzbar sein und insgesamt wenig Ressourcen beanspruchen.
Nachfolgend werden verschiedene international anerkannte Assessments vorgestellt, die in Studien im Hinblick auf Menschen mit einer Beinamputation auf ihre Gütekriterien hin untersucht wurden. In einer Übersichtsarbeit zu „performance-based assessments“ für Menschen mit Beinamputation werden u. a. die nachfolgend beschriebenen Instrumente TUG, L‑Test und 2MWT als Empfehlung genannt 10; hinzu kommt der Amputee Mobility Predictor (AMP) 17. Auch die ISPO empfiehlt TUG, 2MWT und AMP 7. Eine veröffentlichte Validierungsstudie zu einer deutschen Version des AMP liegt derzeit nicht vor.
„Performance-based outcome measures“ (PerfOM)
Der Timed-up-and-go-Test (TUG; Abb. 2) besteht darin, aus angelehnter Position von einem Stuhl (Sitzhöhe ca. 46 cm) mit Armlehne aufzustehen, mit selbst bestimmter, als angenehm empfundener Gehgeschwindigkeit um eine Pylone herumzugehen und auf den Stuhl zurückzukehren. Die Pylone steht drei Meter entfernt von den Fußspitzen des Probanden in sitzender Position. Statt der Pylone kann auch eine andere Markierung auf dem Boden verwendet werden; allerdings eignet sich ein höherer Gegenstand besser als eine Farbmarkierung auf dem Boden, da die Probanden den Test dann einheitlicher absolvieren und tatsächlich ein Hindernis umlaufen müssen. Der TUG verbindet mit seinen Aufgaben
- Sitz-Stand-Transfer,
- Gehen kurzer Strecken und
- Umdrehen um 180°
grundlegende Komponenten der Mobilität im Innenraum. Validität und Reliabilität für Menschen mit Beinamputation zeigten sich in diversen Studien 18. Die Qualität der Durchführung ist kein Teil der Bewertung.
Beim L‑Test (Abb. 3) handelt es sich um eine Modifikation des TUG. Der Proband steht dabei von einem wie beim TUG normierten Stuhl auf und geht eine zehn Meter lange Strecke in der Form eines L (mit einer 90-Grad-Drehung nach drei Metern), kehrt um und setzt sich wieder hin. Somit beinhaltet der Test eine Gehstrecke von 20 Metern, zwei Transfers und vier Drehungen, wobei mindestens eine davon in die nicht favorisierte Richtung vollführt werden muss.
Aufgrund der längeren Gehstrecke und des Erfordernisses, sich mindestens einmal über die nicht favorisierte Seite zu drehen, deckt der L‑Test den Alltag etwas realistischer ab als der TUG. Im Vergleich mit anderen Mobilitäts-Assessments korrelierte der L‑Test entsprechend stark mit den etablierten Assessments TUG, 10MWT und 2MWT (s. u.) 19. Im Sinne der Praktikabilität bedarf es dafür allerdings eines größeren Raums als beim TUG.
2MWT („2‑minute walk test“, 2‑Minuten-Gehtest) und 6MWT („6‑minute walk test“, 6‑Minuten-Gehtest) (Abb. 4) gelten als einfache und schnell durchführbare Tests und werden in vielen Studien zur Evaluation der Gehfähigkeit von Menschen mit Beinamputation ausdrücklich empfohlen. Eine standardisierte Anleitung existiert nicht; auch die Länge der Gehstrecke ist nicht definiert. Allerdings empfiehlt es sich gerade bei Menschen mit Beinamputation, eine möglichst lange Strecke zu wählen, da sie unterschiedlich lange benötigen, um eine 180-Grad-Drehung durchzuführen. Für eine adäquate Vergleichbarkeit sollte die Strecke zwischen den Pylonen dokumentiert werden. Die ISPO empfiehlt eine Gehstrecke von 30 Metern 7; wenn aber der Platz nicht ausreicht, können auch kürzere Strecken verwendet werden. Man sollte dies aber dann durch das Anfügen der Streckenlänge kenntlich machen. Bei einer Streckenlänge von 10 Metern würde die Bezeichnung somit „2MWT10m“ lauten.
Auch hierbei handelt es sich um ein rein quantitatives Untersuchungsverfahren: Das Ergebnis des Assessments ist eine Zahl in Metern; über die Qualität der Bewegung wird keine Aussage getroffen. Allerdings bietet es sich für den Untersucher an, zusätzlich das Gangverhalten des Probanden zu betrachten. Denn je nach dessen Belastbarkeit können potenzielle Hinkmechanismen oder Ausweichbewegungen über die Zeit auftreten, die auf kürzeren Strecken möglicherweise nicht auffallen. Aufgrund der hohen Vorhersagekraft bezüglich des 6MWT wird der kürzere 2MWT bevorzugt eingesetzt und empfohlen 20.
„Patient-reported outcome measures“ (PROM)
Als patientenzentrierte Fragebögen empfiehlt das Konsenspapier des ISPO COMPASS in der Standardvariante:
- die Subskalen „Nützlichkeit“ (UT) und „Stumpfbefinden“ (RL) des PEQ (Prosthesis Evaluation Questionnaire) 21 sowie
- den Fragebogen TAPES‑R 22 (eine auf 64 Items gekürzte Form der Trinity Amputation and Prosthesis Experience Scale).
Allerdings sind weder PEQ noch TAPES als validierte Versionen auf Deutsch verfügbar. Alternativ weisen die Autoren dieses Artikels auf die folgenden deutlich weniger ausführlichen, jedoch auf Deutsch verfügbaren Fragebögen hin:
- LCI‑D (Locomotor Capabilities Index-Deutsch) 23 und
- PLUS‑MTM (Prosthetic Limb Users Survey of Mobility) 24
Einschränkend ist dabei allerdings anzumerken, dass der LCI Deckeneffekte bei Menschen mit Beinamputation mit höherer Mobilität zeigt. Das bedeutet, dass gerade Anwender mit höherer Aktivität frühzeitig hohe Ergebniswerte erzielen und dass weitere Verbesserungen aufgrund des Deckeneffekts nicht erkannt werden. An dieser Stelle bietet sich der Fragebogen „PLUS‑MTM“ an, bei dem dieser Effekt nicht auftritt. Den Fragebogen „PLUS‑MTM“ gibt es in Kurzversionen mit 7 oder 12 Fragen (sogenannten Items). Als weitere Besonderheit erlaubt die Auswertung des PLUS‑MTM eine Einordnung des jeweiligen Ergebnisses im Verhältnis zu einer Referenzstichprobe von 1091 Menschen mit einseitiger Beinamputation. Somit erhält man ein Bild der untersuchten Person in Relation zu sehr vielen anderen Betroffenen. Hieraus ergeben sich bessere Interpretationsmöglichkeiten im Vergleich zu den eher intransparenten Mobilitätsgraden.
Hinweise zur Interpretation der Ergebnisse von Assessments
An dieser Stelle wird explizit darauf hingewiesen, dass jedes Assessment lediglich eine Momentaufnahme des untersuchten Menschen abbilden kann und dass stets Kontextfaktoren mitberücksichtigt werden sollten. Gerade bei PerfOMs aber auch für Fragebögen bedeutet dies, dass die Untersuchung den jeweiligen Menschen mit Amputation in seiner aktuellen physischen und psychischen Tagesverfassung gemeinsam mit seiner momentanen prothetischen Versorgung bewertet. Es muss stets in Betracht gezogen werden, dass derselbe Mensch mit einer anderen Prothese abweichende Ergebnisse erzielen würde oder dass andere Faktoren seine tagesaktuelle Performance beeinflussen können (z. B. Stress, Krankheit etc.).
Auch Fragebögen, die die Lebensqualität erfassen, könnten in einer psychisch anspruchsvollen Zeit negativer ausfallen, völlig unabhängig von der prothetischen Versorgung. Dennoch erlauben die vorgestellten Erhebungen eine valide Wiedergabe der Ist-Situation des Probanden und – bei mehreren Erfassungszeitpunkten – auch des Verlaufs. Aufgrund der hohen Ansprüche kann jedes Assessment für sich betrachtet immer nur eine Facette der Gesamtsituation erfassen. Die Kombination aus klinischen Erhebungsdaten (klinische Untersuchung und Sozialanamnese), weiterführenden technischen Informationen (z. B. zur Prothese) sowie begleitenden Interventionen verhilft zu einer umfassenden Gesamtschau.
Fazit
Der Einsatz standardisierter Untersuchungsinstrumente, sogenannter Assessments, in der Orthopädietechnik bietet viele Vorteile und kann zudem einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung regulatorischer Anforderungen leisten. Angesichts der Vielzahl der bestehenden international verwendeten Assessments besteht die Herausforderung, aber auch die Chance darin, jeweils die am besten passenden Instrumente für die vorwiegend behandelte Patientengruppe auszuwählen. Einen universellen Goldstandard gibt es nicht, jedoch sind die hier vorgestellten Assessments zur Untersuchung von Menschen mit Beinamputation international gängig und werden insbesondere für die Mobilitätsgrade 1 bis 3 empfohlen.
Die in diesem Beitrag diskutierten Assessments sind kostenlos zu erhalten und benötigen nur wenig Zeit und Ressourcen bei ihrer Durchführung. Insofern sollten solche Assessments nach Auffassung der Autoren standardmäßig in die Versorgung von Menschen mit Beinamputation integriert werden.
Für die Autoren:
Urban Daub, M. Sc.
Gruppenleiter
Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA
Abt. Biomechatronische Systeme
Nobelstr. 12
70569 Stuttgart
urban.daub@ipa.fraunhofer.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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- Kinder mit Trisomie 21: Einsatz der Ganganalyse zur adäquaten Schuh- und Orthesenversorgung — 5. November 2024
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