In der vorangestellten Analyse des Gesetzentwurfs stechen zwei Argumente heraus. Erstens: Die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2014 habe keine „negativen Beschäftigungseffekte“ hervorgerufen – sprich, es sei zu keinem Personalabbau gekommen, der mit dem Mindestlohn in Verbindung gebracht werden kann. Zweitens: Der bisherige Mindestlohn reicht in einer Welt mit stets steigenden Kosten weder dafür aus, um „die Sicherung einer angemessenen Lebensgrundlage zu gewährleisten“, noch „um eine armutsvermeidende Altersrente zu erreichen“. Um dem zu begegnen, soll der Mindestlohn zum 1. Oktober 2022 – einmalig per Gesetz – auf zwölf Euro festgesetzt werden. Weitere Anpassungen des Mindestlohns sollen anschließend weithin im Aufgabenbereich der Mindestlohnkommission liegen. Diese Kommission hatte am 30. Juni 2020 ursprünglich festgelegt, dass der Mindestlohn in vier Stufen von 9,50 Euro auf 10,45 Euro (zum 1. Juli 2022) steigen sollte. Die regierenden Parteien möchten nun die vorgegebene Zielsetzung der Mindestlohnkommission korrigieren. Einhergehend mit dem steigenden Mindestlohn soll auch die Geringfügigkeitsgrenze von 450 Euro auf 520 Euro erhöht werden.
„Wir begrüßen grundsätzlich die Anhebung und damit die gesellschaftliche Anerkennung der Leistung. Mit der Anhebung des Mindestlohns verändert sich allerdings das gesamte Lohngefüge eines Betriebes. Schließlich muss ein Geselle deutlich mehr verdienen als ein Auszubildender und ein Meister deutlich mehr als ein Geselle. Erhöhen sich aber insgesamt die Personalkosten überdurchschnittlich, funktionieren die mit den Krankenkassen abgeschlossenen Verträge zur Hilfsmittelversorgung nicht mehr,“ erklärt Grun. Da die Verträge keine dynamischen Preisanpassungen erlauben, müssen die Kosten der Lohnerhöhungen zunächst komplett von den einzelnen Betrieben geschultert werden.
Arbeitgeberpräsident Dr. Rainer Dulger erklärte bereits am 23. Februar im Zuge der Veröffentlichung des ersten Entwurfs der Bundesregierung für ein Mindestlohnerhöhungsgesetz: „Mit dem heutigen Vorschlag der Bundesregierung zur Änderung des Mindestlohngesetzes wird die vertrauensvolle Zusammenarbeit der vergangenen Jahre in der Mindestlohnkommission schwer gestört. Der damit vorgenommene Systemwechsel von einer tarifpolitisch geprägten Mindestlohnentwicklung hin zu einer Staatslohnentwicklung ist folgenschwer. Bei Einführung des Mindestlohns hat die Politik die Zusage gegeben, dass die Mindestlohnkommission den Mindestlohn festlegt. Dieses Versprechen wird nun gebrochen und macht den Mindestlohn zum Spielball der Politik. Die Politik bleibt aufgefordert mit den Arbeitgeberverbänden zurück an den Tisch zu kommen, um eine fatale Fehlentwicklung im sozialen Gefüge der Bundesrepublik Deutschland zu vermeiden.“
Es gehe, so Grun, um die Anerkennung der Arbeitsleistung der Mitarbeiter:innen in den Gesundheitsberufen – sei es in der Pflege, Physiotherapie oder Orthopädie-Technik. „Schließlich arbeiten wir mit und am Menschen. Die Politik ist jetzt bei der Pflege aufgewacht – leider zu spät. Jetzt fehlen die Fachkräfte. ‚Helden‘ waren während Corona nötig, die für ein Trinkgeld und in definitiver Unterbesetzung auf der Intensivstation die schmale Grenze von Leben und Tod verantworten mussten. Orthopädietechniker verantworten die schmale Grenze zwischen Ausgrenzung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Sie sind existenziell für die Frage, ob und wie viel Lebensqualität nicht nur für Menschen mit Handicap möglich ist. Ein Leben mit orthopädischen Hilfsmitteln kann sehr unterschiedlich ausfallen“, erklärt Grun.
Der Ver.di-Vorsitzende Frank Werneke fordert: „Die Beschäftigten brauchen jetzt eine klare Perspektive für die baldige Anhebung des Mindestlohns. Das ist auch ein wichtiges Zeichen gegen Altersarmut. Falls die Arbeitgeber – ob politisch oder juristisch – weiter gegen dieses Gesetz vorgehen sollten, ist das nichts anderes als der Versuch, Armutslöhne dauerhaft zu zementieren.“
Für Lars Grun ist die Frage der Entlohnung auch immer eine Frage: „Was wollen wir uns als Gesellschaft leisten und wie wollen wir miteinander umgehen?“. Er sagt daher: „Statt Krokodilstränen geht es um gemeinsame Verantwortung. Daher sage ich klar: Die Anhebung des Mindestlohns kann nur ein Mosaikstein in der Anerkennung der Leistung von Gesundheitsberufen sein. Es geht um die Anerkennung im Solidarsystem der Krankenversicherung und daher können die Kosten nicht allein auf den Schultern der Betriebe abgeladen werden.“
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