OT: „(…) Dabei haben Krankenkassen, ihre Landesverbände oder Arbeitsgemeinschaften jedem Leistungserbringer oder Verband oder sonstigen Zusammenschlüssen der Leistungserbringer Vertragsverhandlungen zu ermöglichen“, heißt es in §127 SGB V. Warum kam es dennoch nicht zu Verhandlungen zwischen dem BIV-OT und der IKK Classic?
Albin Mayer: Weil die IKK Classic genau dieser Textpassage des Gesetzes eine andere Bedeutung zumisst. Der Sprachgebrauch versteht unter Verhandeln etwas eingehend erörtern, besprechen, sich über etwas, in einer bestimmten Angelegenheit eingehend beraten, um zu einer Klärung, Einigung zu kommen. Eine Verhandlung ist dabei von einem gegenseitigen Aufeinanderzugehen geprägt.
Kai Swoboda (Stellvertretender Vorstandsvorsitzender der IKK Classic. Anm. der Redaktion) hat mir im Mai 2020 zugesagt, dass wir ihm bis Anfang August ein Angebot liefern sollen und wir dann in die Verhandlungen einsteigen. Der BIV-OT hat dementsprechend über eine gemeinsame ARGE aus Leistungserbringergruppierungen auch ein Angebot übermittelt. Über dieses Angebot wurde jedoch in der Folge nicht wirklich verhandelt.
Ende September erhielt ich telefonisch die Nachricht von Herrn Swoboda, dass die IKK Classic unser Angebot nicht berücksichtigen könne, weil der IKK Classic ein anderes Angebot eines Einzelunternehmens vorliegen würde, das wesentlich günstiger wäre und unter dem Gebot der Wirtschaftlichkeit müsste die IKK Classic dieses annehmen. Die IKK Classic habe nunmehr zehn Verträge geschlossen und er bedauere es sehr, dass die IKK Classic nicht mit dem BIV einen Vertrag schließen könne. Es kam also initial nicht einmal zu einem Austausch oder einer Diskussion über die unterschiedlichen Positionen. Der mit einem Einzelunternehmen abgeschlossene Vertrag sollte als unumstößlicher Maßstab für alle zukünftigen Versorgungen fungieren. Es stellte sich zudem nach näherer Recherche heraus, dass nicht mit zehn Leistungserbringern ein Vertrag geschlossen wurde, sondern zehn Verträge für einzelne Produktgruppen mit einem Unternehmen – der Firma Sanimed.
OT: Die IKK Classic hat einen Vertrag angeboten, dem sind die führenden Verbände und Leistungserbringergemeinschaften noch nicht beigetreten, warum?
Mayer: Die IKK Classic bot der ARGE bzw. deren Mitgliedern, respektive dem BIV-OT an, dem Sanimed Vertrag beizutreten. Erstens sieht der Gesetzgeber aber überhaupt nicht vor, dass ein Verband einem Einzelvertrag beitreten kann und zweitens haben alle beteiligten Leistungserbringergemeinschaften festgestellt, dass die Preise wirtschaftlich im Verhältnis zur geforderten Gegenleistung nicht seriös abbildbar sind. Der Vertrag weist zudem inhaltliche Mängel auf. Insbesondere sieht der Vertrag den Versand von verschiedenen Hilfsmitteln vor, was wir vor dem Hintergrund älterer und behinderter Patienten äußerst kritisch beurteilen.
OT: Die IKK Classic wirft ihnen vor, dass die Forderungen der Verbände deutlich über Marktpreisen lägen – man hört Zahlen von 3 bis 6 Mio. Euro. Woher kommen die Preissteigerungen?
Mayer: Also ich kann weder die „Preissteigerungen“ noch die drei bis sechs Mio. Euro nachvollziehen. Das müsste die IKK Classic uns erst einmal beweisen! Die von der ARGE angebotenen Preise bewegen sich auf einem marktüblichen Niveau. Marktüblich heißt in diesem Fall auch, dass regionale Krankenkassen berücksichtigt werden müssen. Da spielen dann die AOKs und die Betriebskrankenkassen eine wichtige Rolle. Im Vergleich zeigt sich, dass die dort verhandelten Preise wesentlich höher liegen als in dem IKK-Classic-Vertrag. Unabhängig hiervon muss zudem die Kalkulation zu jeder Einzelleistung Berücksichtigung finden, welche immer Ausgangspunkt für die wirtschaftliche Einordnung eines Angebotes ist.
OT: Bereits 2017 gab es Verhandlungen zwischen der IKK Classic und dem BIV-OT, die einen ähnlichen Verlauf nahmen.
Mayer: Das ist richtig. Schon damals hat die IKK Classic dasselbe Prozedere – ebenfalls mit der Sanimed als Vertragspartner – gegenüber dem BIV-OT angewandt. Es wurde kein Reha-Vertrag ausgehandelt, sondern man verwies auf einen Einzelvertrag mit der Firma Sanimed als Beitrittsmodell. Dieses Verhalten wirft große Fragen auf, denn eine solche Verfahrensweise unterdrückt den offenen Diskurs über die die Vertragsinhalte. Eine wohnortnahe Versorgung kann durch einen Einzelanbieter wie Sanimed nicht lückenlos bundesweit gesichert werden! Außerdem ist die preisliche Gestaltung fraglich. Der Versandhandel, der durch den Gesetzgeber überhaupt nicht gewollt ist, wird auf einmal im Vertrag aufgenommen, so dass Patientinnen und Patienten mit Handicap gegebenenfalls ihren Rollator oder Badewannenlifter im Paket an der Haustür entgegennehmen und dann selbst zusammenschrauben müssen. Das können die überhaupt nicht leisten. Auch sehen wir die uns zur Kenntnis gelangte Versorgungspraxis der Firma Sanimed, wonach notwendige persönliche Körpermaße des Versicherten für die Hilfsmittelversorgung lediglich per Telefon und nicht persönlich vor Ort ermittelt werden, sehr kritisch. Der Postversand geht völlig zu Lasten der Qualität der Patientenversorgung und zu Lasten der Patientensicherheit.
OT: Sind Ihnen andere Krankenkassen bekannt, die ein ähnliches Verhalten an den Tag gelegt haben?
Mayer: Wir können in verschiedenen Leistungsbereichen punktuell eine solche Vorgehensweise von Krankenkassen verzeichnen. Es wird ein Vertrag eines Einzelunternehmens präsentiert, auf dessen Konditionen und Inhalte alle weiteren Leistungserbringer gezwungen werden sollen. Eine solche Strategie findet Nachahmer. Wir verwehren uns gegen eine solche Form des Vertragsdiktats. Die IKK Classic ist uns in jüngster Zeit leider mehrfach mit einer solchen Verfahrensweise entgegengetreten.
OT: Warum entscheiden sich Einzelbetriebe, den Vertrag dennoch zu zeichnen?
Mayer: Derzeit haben nach unserem Kenntnisstand mehrere Betriebe den Vertrag unterzeichnet – hiervon auch viele Medizintechnikbetriebe oder Homecare-Unternehmen, welche nur punktuell einzelne Produkte in den Versorgungsmarkt geben. 80 Prozent aller unserer Mitgliedsbetriebe lehnen den von der IKK Classic vorgelegten Vertrag indes ab. Hierbei handelt es sich um Unternehmen, die klassisch im Rehabilitationsmarkt zu Hause sind und alle wesentlichen Produkte und Leistungen für die GKV anbieten (Vollsortimenter). Insofern ist die vorgebliche Flächendeckung zumindest kritisch zu hinterfragen. Zu hinterfragen ist auch, warum gerade spezialisierte Unternehmen die dargebotenen Vertragsinhalte sehr kritisch sehen und nicht akzeptieren.
OT: Wie sieht es bei den BIV-Mitgliedsbetrieben aus?
Mayer: Einige wenige Betriebe haben sich von der IKK Classic überreden lassen, den Vertrag zu zeichnen. Den Betrieben wird nämlich in einem Telefonanruf geraten, den Vertrag zu unterschreiben und wenn der BIV-OT/die ARGE einen Vertrag auf Verbandsebene aushandelt, würden diese Preise für sie gelten. Durch diese Art der Kommunikation der IKK Classic haben sich einige Betriebe überzeugen lassen zu zeichnen, obwohl wir ja derzeit nicht von einer klassischen Verhandlung sprechen können. Das ist natürlich eine „kluge“ Strategie der Krankenkasse, weil sie so viele Betriebe zum Zutritt bewegen will, um anschließend nicht mehr verhandeln zu müssen, weil ihre Konditionen dann am Markt etabliert sind.
OT: Wie sieht das weitere Vorgehen des BIV-OT in diesen Verhandlungen konkret aus?
Mayer: Der Vertag mit der Sanimed ist am 1. Oktober in Kraft getreten, seitdem durften andere Leistungserbringer erst nach einem Beitritt zu dem Vertrag versorgen. Da eine wohnortnahe und flächendeckende Versorgung nicht gewährleistet war, hat die ARGE Mitte Oktober weitere Gespräche mit der IKK Classic geführt, die am 18. November für gescheitert erklärt wurden, weil die von der IKK Classic angebotenen Veränderungen am Vertrag keine grundlegende Verbesserung der Situation ergeben haben. Deswegen stehen wir jetzt vor der Situation, dass in der Hilfsmittelversorgung vermutlich eine Lücke klaffen wird, weil das, was vorher durch eine Vielzahl von Leistungserbringer geschafft wurde, nicht von lediglich einem Bruchteil dieser Menge bewältigt werden kann. Hier steht zu befürchten, dass die Versicherten, was die zeitliche, örtliche und persönliche Komponente in der Versorgung anbelangt, sprichwörtlich im Regen stehen werden.
OT: Wie kann man die IKK Classic wieder an den Verhandlungstisch bringen?
Mayer: Eine Möglichkeit wäre, dass der Vorstand der IKK Classic seine Leute wieder selbst an den Verhandlungstisch schickt. Es liegt auch an uns durch Kommunikationsbereitschaft die Tür für die IKK Classic offen zu halten. Wir haben uns, beispielsweise auch an Hans-Peter Wollseifer, Präsident des ZDH und gleichzeitig im Vorstand des IKK Classic e. V., gewandt, dass er auf eine Aufnahme von tatsächlichen Verhandlungen einwirkt. Außerdem könnte man noch ein Schiedsverfahren anstreben.
OT: Was fordern Sie von der Politik, damit nach Ausschreibungsverbot und Open-House-Vertrags-Verboten nun auch diese Grauzone in den Gesetzestexten verschwindet?
Mayer: Die Einzelverträge stehen noch im Gesetz drin, aber man sieht ja, wohin das führt. Krankenkassen schließen Einzelverträge und machen diese zum Maßstab für die Gesamtversorgung der Versicherten. Der Versicherte ist dabei der große Verlierer. Im Gegensatz hierzu bieten Verbandsverträge eine hinreichende Gewähr sowohl für die Qualität als auch die Wirtschaftlichkeit. Denn auf Verbandsebene findet regelmäßig eine genauere Prüfung der Vertragsinhalte statt. Die Fachlichkeit in Verhandlungen ist einfach höher einzuschätzen. Denn die Verbände bündeln die Fachkompetenz ihrer Mitgliedsunternehmen, auch auf der Verhandlungsebene. Die Folgen eines Einzelvertrages für Patientinnen und Patienten ist zumeist deren private wirtschaftliche Belastung, obwohl wir ein Sachleistungsprinzip haben. Unser Land verfügt über ein ausgezeichnetes Gesundheitssystem, deshalb dürfen wir es uns nicht leisten, Menschen mit einem Handicap unzureichend und zeitlich verzögert zu versorgen. Sie sind Teil unserer Gemeinschaft. Das muss auch für die IKK Classic gelten. Die Politik ist aufgefordert zu handeln, um den aufgezeigten Mechanismen Einhalt zu gebieten.
Die Fragen stellte Heiko Cordes.
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