Dif­fe­ren­zi­al­dia­gnos­ti­sche Gang­ana­ly­se als Basis einer trans­dis­zi­pli­nä­ren The­ra­pie bei einer Pati­en­tin mit Chi­kun­gu­nya-Virus – eine Einzelfallstudie

K. Götz-Neumann, P. Klein, D. Kilk
Zur Behandlung der Spätfolgen der seltenen Chikungunya-Viruserkrankung gibt es bisher keine entsprechenden Empfehlungen und keinen transdisziplinären Konsens zwischen Physiotherapeuten, Ärzten und Orthopädietechnikern. Die nachfolgend dargestellte Einzelfallstudie schildert den Krankheitsverlauf einer Patientin mit diesem seltenen Virus und ihre lange Leidensgeschichte. Trotz eines neurophysiologischen Physiotherapie-Behandlungskonzepts und einer verstärkten analgetischen Behandlung verschlechterten sich die Symptome. Erst nach einer gezielten Gangdiagnostik und einer konsekutiv abgestimmten Therapie mittels Physiotherapie und Orthopädietechnik entsprechend dem Ethik-Kodex des Programms „Gehen Verstehen“ konnte eine Schmerzreduktion lumbal von 9/10 auf 1/10 auf der Numeric Rating Scale (NRS), eine Reduktion der Analgetikagaben sowie eine Reduktion der Stürze erzielt werden. Eine im Raum stehende Wirbelsäulenoperation konnte abgesagt werden. Angesichts der aktuellen Situation, in der das COVID-19-Virus die Welt fest im Griff hat, dessen Langzeitfolgen für die Erkrankten noch nicht ausreichend erforscht sind, befürchten viele Experten schon heute weitere ähnliche Virus-Epidemien. Auch vor diesem Hintergrund ist das hier vorgestellte Fallbeispiel mit dem seltenen Chikungunya-Virus relevant.

Ein­lei­tung

Für Phy­sio­the­ra­peu­tin­nen und ‑the­ra­peu­ten, die nach den Vor­ga­ben der Obser­va­tio­nal Gait Ins­truc­tor Group (O. G. I. G.) 1 arbei­ten, sind eine exak­te Erfas­sung des Gang­bil­des durch Beob­ach­tung, Doku­men­ta­ti­on und Ana­ly­se sowie eine adäqua­te Befun­dung Grund­la­ge der von ihnen vor­ge­nom­me­nen Behand­lun­gen. Die­se basie­ren auf den Vor­ga­ben evi­denz­ba­sier­ten Arbei­tens und aktu­el­ler wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis­se, um eine opti­ma­le und effi­zi­en­te Behand­lung von Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten mit einer Geh­be­hin­de­rung zu gewähr­leis­ten. Dar­aus wird eine soge­nann­te trans­dis­zi­pli­nä­re The­ra­pie abge­lei­tet, um eine signi­fi­kan­te Ver­bes­se­rung der Lebens­qua­li­tät des Ein­zel­nen zu errei­chen. Der übli­che Begriff „Inter­dis­zi­pli­na­ri­tät“ beschreibt ledig­lich die Zusam­men­ar­beit ver­schie­de­ner Dis­zi­pli­nen, bei der die Gren­zen zwi­schen den ein­zel­nen Dis­zi­pli­nen aber nicht auf­ge­ho­ben wer­den. Erst mit­tels „Trans­dis­zi­pli­na­ri­tät“, so die Über­zeu­gung der Autoren, wer­den die Per­spek­ti­ven der Betei­lig­ten sub­stan­zi­ell ver­än­dert 2 3 4 5: Alle Dis­zi­pli­nen, die an der Ver­sor­gung betei­ligt sind, ste­hen unter­ein­an­der in ste­tem Aus­tausch. Dabei gel­ten Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten als Haupt­ak­teu­re des Teams. Nur die­se Ein­be­zie­hung der Betrof­fe­nen gewähr­leis­tet, so die Ansicht der Autoren, einen dau­er­haf­ten Erfolg der Behand­lung 1 6.

Im Fol­gen­den wird anhand einer Ein­zel­fall­stu­die die prak­ti­sche Umset­zung die­ses Ansat­zes vor­ge­stellt und anhand der Ergeb­nis­se dis­ku­tiert. Im Mit­tel­punkt steht eine Pati­en­tin, die seit vie­len Jah­ren an den Lang­zeit­fol­gen einer Infek­ti­on mit dem Chi­kun­gu­nya-Virus lei­det und die erst im August 2018 in der phy­sio­the­ra­peu­ti­schen Pra­xis der Autoren vor­stel­lig wurde.

Das Chi­kun­gu­nya-Virus

Die sel­te­ne Chi­kun­gu­nya-Virus­er­kran­kung (s. Fak­ten zur Chi­kun­gu­nya-Infek­ti­on) aus dem asia­ti­schen Raum brei­tet sich welt­weit immer wei­ter aus 7. Auch aus Deutsch­land wer­den immer mehr Erkran­kun­gen gemel­det. Laut Robert Koch-Insti­tut (RKI) wur­den im Jahr 2018 ins­ge­samt 28 Chi­kun­gu­nya-Infek­tio­nen in Deutsch­land dia­gnos­ti­ziert 8. Neben hohem Fie­ber sind star­ke Mus­kel- und Gelenk­schmer­zen typi­sche Chi­kun­gu­nya-Sym­pto­me. Die­se sind teil­wei­se so schwer erträg­lich, dass Betrof­fe­ne kaum ste­hen und nur ein­ge­schränkt gehen kön­nen. Jüngs­te Stu­di­en wei­sen dar­auf hin, dass sich das Virus auch mit einer peri­phe­ren Poly­neu­ro­pa­thie asso­zi­ie­ren lässt 9 10. In der bio­lo­gi­schen Fach­li­te­ra­tur wird die Krank­heit seit Auf­tre­ten eines Peaks im Jahr 2014 in Euro­pa ver­stärkt dis­ku­tiert 10 11, bis­lang aller­dings nicht im Zusam­men­hang mit Aspek­ten der Ortho­pä­die­tech­nik oder der Phy­sio­the­ra­pie. Inso­fern bestehen hier­zu der­zeit auch kei­ne Handlungsempfehlungen.

Fall­be­schrei­bung

Die Pati­en­tin stell­te sich erst­mals Anfang August 2018 in der phy­sio­the­ra­peu­ti­schen Pra­xis der Autoren zur Erst­un­ter­su­chung vor. Sie war zu die­sem Zeit­punkt 39 Jah­re alt, 179 cm groß und wog 53 kg (BMI: 16,5 kg/m2). Nach ihren Anga­ben war sie zu die­sem Zeit­punkt seit 14 Jah­ren glück­lich ver­hei­ra­tet. Sie hat kei­ne Kin­der. Seit 2007 arbei­tet die Pati­en­tin als „Export Con­trol Mana­ge­rin“ in einem Unter­neh­men im Bereich Medizintechnik/Pharmaindustrie. Die Arbeit ist nach Aus­kunft der Pati­en­tin anstren­gend und „stres­sig“, sie berei­te ihr jedoch „viel Spaß“. Die Pati­en­tin übt ger­ne Yoga aus, was aber zum Zeit­punkt der Ana­mne­se auf­grund der Beschwer­den abnahm bzw. über­haupt nicht mehr mög­lich war.

Im Jahr 2008 zog sich die Pati­en­tin auf einer beruf­li­chen Aus­lands­rei­se das Chi­kun­gu­nya-Virus zu. Das Virus wird durch Stech­mü­cken über­tra­gen und löst eine infekt­ge­trig­ger­te Immun­erkran­kung 9 12 13 aus. Seit­dem lei­det die Pati­en­tin unter Spät­fol­gen in Form von Gleich­ge­wichts­pro­ble­men, häu­fi­gen Infek­ten, Sturz­nei­gung sowie einer Hemi­pa­re­se rechts. Wei­te­re Sym­pto­me waren kör­per­li­che Erschöp­fung und Kraftverlust.

Im Juli 2014 tra­ten zusätz­lich ver­stärk­te Schmer­zen in der Len­den­wir­bel­säu­le (LWS) auf. Eine Magnet­re­so­nanz­to­mo­gra­fie (MRT) vom Mai 2014 zeig­te eine Spon­dy­lo­lis­the­sis in L5/S1, die eine Harn­in­kon­ti­nenz zur Fol­ge hat­te. Die­se Spon­dy­lo­lis­the­sis wur­de im Sep­tem­ber 2014 in der Uni­kli­nik Frei­burg mit einer mini­mal­in­va­si­ven 360°-Stabilisierung mit­tels TLIF-Cage (TLIF = „trans­fo­r­ami­nal lum­bar inter­bo­dy fusi­on“; Ver­stei­fung der Len­den­wir­bel­säu­le) und Fix­a­teur inter­ne ver­sorgt. Zusätz­lich wur­den der Pati­en­tin bei anhal­ten­den lum­ba­len Schmer­zen ISG-Infil­tra­tio­nen mit Cor­ti­son inji­ziert. Gleich­zei­tig zeig­ten sich bei ihr eine Fuß­he­ber­pa­re­se rechts sowie Schmer­zen – nun ver­stärkt im Ili­o­sa­kral­ge­lenk (ISG) beid­seits, jedoch ver­stärkt rechts. Die ärzt­li­che The­ra­pie war zu die­sem Zeit­punkt gekenn­zeich­net durch Cor­ti­son-Infil­tra­tio­nen, medi­ka­men­tö­se The­ra­pie mit­tels Til­idin, Arcoxia und Quen­syl sowie eine phy­sio­the­ra­peu­ti­sche Inter­ven­ti­on ein bis zwei­mal pro Woche.

Als die Pati­en­tin sich im August 2018 in der phy­sio­the­ra­peu­ti­schen Pra­xis der Autoren vor­stell­te, bestand das Haupt­pro­blem in per­ma­nen­ten Schmer­zen, auch in Ruhe im ISG und in der Len­den­wir­bel­säu­le, teil­wei­se mit Aus­strah­lung ins lin­ke Bein. Die Schmerz­qua­li­tät gab die Pati­en­tin mit „ste­chend“ an. Kurz­fris­ti­ge Lin­de­rung emp­fand die Pati­en­tin bei Kom­pres­si­on durch die Appli­ka­ti­on von Kine­sio­tape. Zusätz­lich klag­te die Pati­en­tin über Schmer­zen im rech­ten Knie retropa­tel­lar; auch die­se Schmer­zen wur­den von der Pati­en­tin als „ste­chend“ wahr­ge­nom­men. Die­se Schmer­zen tra­ten über­wie­gend bei Belas­tung – etwa beim Spa­zie­ren­ge­hen mit dem Hund – auf. Wei­ter­hin stör­te die Pati­en­tin eine ver­stärk­te Gang­un­si­cher­heit auf­grund ihrer Fuß­he­ber­pa­re­se und der Insta­bi­li­tät des rech­ten Knies sowie der Hemi­pa­re­se rechts. Am meis­ten bedau­er­te sie die Tat­sa­che, dass sie kei­ne län­ge­ren Spa­zier­gän­ge von 30 bis 60 Minu­ten mit ihrem Hund mehr unter­neh­men konn­te und sogar schon mehr­fach gestürzt war. Auf­grund der zahl­rei­chen Beschwer­den ver­rin­ger­te sich ihre beruf­li­che Arbeits­leis­tung in den letz­ten Mona­ten vor der Kon­sul­ta­ti­on zudem von Voll­zeit auf nur noch 16 bis 20 Stun­den pro Woche.

Befund­er­he­bung

Die Befund­er­he­bung im Rah­men des Pro­gramms „Gehen Ver­ste­hen“ ist stan­dar­di­siert: Zu Beginn erfolgt eine Ana­mne­se, der eine bild­ge­ben­de Bewe­gungs­dia­gnos­tik nach O. G. I. G.-Vorgaben folgt 1. Dazu wird das stan­dar­di­sier­te „Funk­tio­nel­le Gang­ana­ly­se­for­mu­lar“ der O. G. I. G. zur Dar­le­gung der Abwei­chun­gen der phy­sio­lo­gi­schen Gang­funk­tio­nen im Gang­bild bzw. zur Schil­de­rung kri­ti­scher Bewe­gungs­er­eig­nis­se ver­wen­det. Die­ses Pro­gramm weicht inso­fern von der übli­chen phy­sio­the­ra­peu­ti­schen Vor­ge­hens­wei­se der „dia­gno­se­be­zo­ge­nen sta­ti­schen Bank­un­ter­su­chung“ ab, als dabei eine dyna­mi­sche Gang­dia­gnos­tik in den Mit­tel­punkt rückt. Dabei wer­den zunächst alle in der Bewe­gung auf­fäl­li­gen patho­lo­gi­schen Gang­funk­tio­nen iden­ti­fi­ziert (unab­hän­gig von der medi­zi­nisch gestell­ten Dia­gno­se). Dar­auf­hin wird eine Detail­un­ter­su­chung mit einer stan­dar­di­sier­ten Test­bat­te­rie kli­ni­scher Tests durch­ge­führt, die nur die in der Bewe­gung tat­säch­lich auf­fäl­li­gen Funk­tio­nen untersucht.

Anhand einer Vor­her-nach­her-Unter­su­chung wer­den die Ansteue­rung der Mus­ku­la­tur bzw. die Mus­kel­funk­tio­nen ermit­telt 1 6 14. Alle Ergeb­nis­se der Befun­dung wer­den im Netz­werk unter Ein­be­zie­hung der Pati­en­ten dis­ku­tiert. Dar­über hin­aus wer­den bei der Aus­wahl der The­ra­pie­maß­nah­men wei­te­re sinn­vol­le, mehr­fach evi­denz­ba­sier­te Kon­zep­te wie z. B. die soge­nann­te OPTI­MAL-Theo­rie (Akro­nym für „Opti­mi­zing Per­for­mance through Intrin­sic Moti­va­ti­on and Atten­ti­on for Lear­ning“) 15 oder die die­ser zugrun­de lie­gen­den Fra­ge­stel­lun­gen des Kon­zepts der Salu­to­ge­ne­se 16 angewendet.

Im Anschluss an die Ana­mne­se der Pati­en­tin erfolg­ten eine Gang­ana­ly­se, eine phy­sio­the­ra­peu­ti­sche sowie eine neu­ro­lo­gi­sche Unter­su­chung. Die­se drei Schrit­te wer­den im Fol­gen­den genau­er aufgezeigt.

Gang­ana­ly­se

Bei der Gang­ana­ly­se zeig­ten sich in den ein­zel­nen Gang­pha­sen fol­gen­de Auffälligkeiten:

  • „initi­al cont­act“ (IC): Es wur­de eine Plant­ar­fle­xi­on im rech­ten Fuß diagnostiziert.
  • „loa­ding respon­se“ (LR): Die prä­ti­bia­le Mus­kel­ak­ti­vi­tät, die wäh­rend des „heel rocker“ beim IC exzen­trisch not­wen­dig ist, konn­te nicht ange­steu­ert wer­den. Es zeig­ten sich eine Adduk­ti­on sowie Innen­ro­ta­ti­on des rech­ten Hüft­ge­len­kes bei gleich­zei­ti­ger Media­li­sie­rung des Knie­ge­lenks. Wei­te­re Fol­ge war die Über­deh­nung der hüft­sta­bi­li­sie­ren­den Abduk­to­ren; die Pati­en­tin sta­bi­li­sier­te das LR-Dreh­mo­ment durch Adduk­ti­ons­ak­ti­vi­tät. Eine glu­teale Mus­kel­ak­ti­vi­tät, die eine zen­tra­le Sta­bi­li­sie­rung für die Wir­bel­säu­le und für das Hüft­ge­lenk abwärts zum Knie sowie das obe­re Sprung­ge­lenk bewirkt, konn­te somit nur mini­mal regis­triert wer­den. Die Mus­kel­funk­ti­ons­test-( MFT-)Werte der Hüft-Abduk­to­ren wur­den mit 2 links bzw. 1 rechts gemes­sen. Zusätz­lich war in LR eine deut­li­che Late­ral­fle­xi­on des Ober­kör­pers nach links mit in der Fol­ge wei­te­rer exzes­si­ver Bewe­gung in der LWS in der Fron­tal­ebe­ne zu erkennen.
  • „ter­mi­nal stance“ (TSt): Das OSG steht in Dor­sal­ex­ten­si­on, und die Plant­ar­flex­o­ren arbei­ten. Es erfolg­te kei­ne Fer­sen­ab­he­bung, was zu einem inad­äqua­ten Vor­fuß­ro­cker führ­te. Dies zeigt sich bei der Tes­tung der zu schwa­chen Plant­ar­flex­o­ren (rechts MFT 1).
  • „ter­mi­nal swing“ (TSw): Die Pati­en­tin zeigt eine Plant­ar­fle­xi­on im obe­ren Sprung­ge­lenk. Sie been­det die Schwung­pha­se in der „Mid-swing“-Phase.

Phy­sio­the­ra­peu­ti­sche Gang­dia­gnos­tik – Schmerz­lo­ka­li­sa­ti­on und ‑inten­si­tät

Die Pati­en­tin gab bei ihrer Ana­mne­se an, zen­tra­le Schmer­zen in der LWS zu emp­fin­den. Die­se strahl­ten bren­nend-dumpf ins rech­te Bein im Ver­lauf des Der­m­atoms von L5/S1 aus. Die Schmerz­in­ten­si­tät gab die Pati­en­tin mit einem Wert von 9 von 10 auf der Nume­ric Rating Sca­le (NRS) 17 18 an. Her­vor­ge­ru­fen wur­den die­se vor allem bei Bewe­gun­gen wie dem all­täg­li­chen Gehen. Fol­gen­de Befun­de erga­ben sich:

  • Stand: Fle­xi­on und Exten­si­on in der Wir­bel­säu­le waren deut­lich ein­ge­schränkt. Der Fin­ger-Boden-Abstand (FBA) lag bei der Pati­en­tin bei defi­zi­tä­ren 15 cm. Der Zehen­stand war auf der rech­ten Sei­te nicht ein­nehm­bar; das vol­le Bewe­gungs­aus­maß konn­te nicht erreicht wer­den. Ledig­lich ein Fibril­lie­ren der plant­ar­flex­ori­schen Mus­kel­fa­sern konn­te getas­tet wer­den. Der Mus­kel­funk­ti­ons­wert (MFT) lag rechts bei 1, auf der lin­ken Sei­te bei 5. Die Dor­sal­ex­ten­si­on lag im rech­ten Fuß bei MFT 1, im lin­ken Fuß bei 4.
  • Lie­gen: Die funk­tio­nel­le Exten­si­ons­fä­hig­keit der Hüf­te wur­de mit dem Tho­mas-Hand­griff auf der kon­tra­la­te­ra­len Sei­te sowie einer akti­ven Bewe­gung auf der ipsi­la­te­ra­len Sei­te unter Ver­hin­de­rung einer Hyper­ex­ten­si­on in der LWS ermit­telt. Dabei ergab die Mes­sung ein eben­falls nicht vor­her fest­ge­stell­tes funk­tio­nel­les Exten­si­ons­de­fi­zit von 24°. Die Abduk­to­ren der Hüf­te zeig­ten ein Kraft­de­fi­zit. Die rech­ten Hüft-Abduk­to­ren wie­sen einen Mus­kel­funk­ti­ons­wert (MFT) von 1, die lin­ke Hüf­te von 2 auf.

Neu­ro­lo­gi­sche Untersuchung

Bei der neu­ro­lo­gi­schen Unter­su­chung zeig­te die Pati­en­tin fol­gen­de Symptome:

  • Patel­la­seh­nen­re­flex im Sei­ten­ver­gleich unauffällig;
  • Achil­les­seh­nen­re­flex rechts abgeschwächt;
  • Myo­tom L4: Fer­sen­gang nicht möglich;
  • Myo­tom S1: Zehen­gang beid­seits abge­schwächt, rechts domi­nan­te­re Schwäche;
  • Sen­si­bi­li­täts­be­schwer­den: Taub­heits­ge­fühl vom rech­ten Knie bis zur late­ra­len Fußkante;
  • wei­te­re neu­ro­lo­gi­sche Tests zur Prü­fung der Moto­rik der unte­ren Extre­mi­tät wie neu­ro­dy­na­mi­sche Tests, Slump-Test sowie Straight-Leg-Rai­se erga­ben kei­ne Auffälligkeiten.

Ergeb­nis­se der Befunderhebung

Nach Abschluss der Befund­er­he­bung kris­tal­li­sier­te sich sowohl eine mecha­ni­sche als auch eine Stö­rung des zen­tra­len Ner­ven­sys­tems 12 19 her­aus. Die im Jahr 2014 vor­ge­nom­me­ne Ver­stei­fung der LWS führ­te zu einer Dekom­pres­si­on. Zudem bestand seit­dem eine Fuß­he­ber­pa­re­se. Zusätz­lich wies die Pati­en­tin ein Abduk­to­ren­de­fi­zit der Hüft­mus­ku­la­tur auf, das zu einem Becken­drop kon­tra­la­te­ral führ­te sowie eine Adduk­ti­on im Hüft­ge­lenk ver­bun­den mit einem dar­auf­hin ent­ste­hen­den media­len Kol­laps des Knies ab „loa­ding respon­se“ zur Fol­ge hat­te. Die Über­deh­nung der bereits geschwäch­ten Hüft­ab­duk­to­ren ist dabei bio­me­cha­nisch unver­meid­bar. Gleich­zei­tig führ­te die Pati­en­tin das Bein ab der „Mid-swing“ bis „Ter­mi­nal swing“-Phase in einem Cross­over. Dadurch fehlt die Stoß­dämp­fung durch die Becken­stel­lung für die LWS. In „ter­mi­nal stance“ erreich­te die Pati­en­tin kei­ne gro­ße Fer­sen­an­he­bung durch deut­lich man­geln­de Kraft der Plant­ar­flex­o­ren. Wei­ter­hin konn­te die Pati­en­tin kei­ne Exten­si­on im rech­ten Hüft­ge­lenk ein­neh­men, was sie durch eine Hyper­lor­do­sie­rung in der LWS kom­pen­sier­te. Aus Sicht der Autoren war davon aus­zu­ge­hen, dass sich bei der Pati­en­tin auf­grund der Ver­stei­fung eine Immo­bi­li­tät in der LWS mit einer Hyper­ex­ten­si­on in den dar­über sowie den dar­un­ter lie­gen­den Seg­men­ten her­aus­ge­bil­det hat­te. Dies führ­te zu einer mecha­ni­schen Über­rei­zung, was die bren­nend-dump­fen Schmer­zen vor allem bei Belas­tung wie z. B. beim Gehen aus­ge­löst hat­te (Tab. 1).

Ziel der Fallstudie

Fall­stu­di­en ermög­li­chen tie­fer­ge­hen­de Erkennt­nis­se auch über schwer zugäng­li­che For­schungs­fel­der bzw. sel­te­ne Erkran­kun­gen 20 21 und las­sen durch die damit ver­bun­de­ne viel­schich­ti­ge und offe­ne Her­an­ge­hens­wei­se Erkennt­nis­se über Zusam­men­hän­ge und typi­sche Vor­gän­ge zu. Sie ermög­li­chen zudem die Über­prü­fung von Ergeb­nis­sen, die mit einer bestimm­ten Erhe­bungs­me­tho­de gewon­nen wur­den. Damit kön­nen auch ein­zel­ne Metho­den wie das Gang­dia­gnos­tik- und Behand­lungs­pro­gramm „Gehen Ver­ste­hen“ der O. G. I. G. hin­sicht­lich ihrer Wirk­sam­keit über­prüft wer­den 22.

Im Fall der hier vor­ge­stell­ten Pati­en­tin wur­de im Sin­ne des Pro­gramms gemein­sam mit ihr, dem Phy­sio­the­ra­peu­ten, dem Arzt sowie dem Ortho­pä­die­tech­ni­ker nach der Aus­wer­tung der Befun­dungs­er­geb­nis­se ein „Pro­blem­lö­sungs­zeit­raum“ von 12 Wochen defi­niert. In die­ser Zeit soll­ten die aus­ge­wähl­ten Maß­nah­men Erfol­ge zei­ti­gen und dem gewünsch­ten Ziel der Pati­en­tin („Mit dem Hund spa­zie­ren­ge­hen“) näher­kom­men. Die Ziel­set­zung ori­en­tier­te sich am soge­nann­ten SMART-Prin­zip 23 (spe­zi­fisch, mess­bar, aus­führ­bar, rea­lis­tisch, terminierbar).

Neben der Ver­bes­se­rung der Gang­un­si­cher­heit wur­den fol­gen­de drei Ziel­set­zun­gen gemein­sam mit der Pati­en­tin präzisiert:

  1. Kurz­fris­ti­ges Ziel: Schmerz­re­duk­ti­on der LWS auf 3 bis 4/10. Dies ist wäh­rend des all­täg­li­chen Gehens mit­tels Visu­el­ler Ana­logska­la zu operationalisieren.
  2. Mit­tel­fris­ti­ges Ziel: Ver­län­ge­rung der Geh­stre­cke. Die­se lag bis­lang bei maxi­mal 1000 m, bzw. es tra­ten nach 1 bis 2 Minu­ten inten­si­ve Schmer­zen auf. Danach war es der Pati­en­tin sowohl auf­grund des Schmer­zes als auch der mus­ku­lä­ren Schwä­che nicht mög­lich wei­ter­zu­ge­hen, was teil­wei­se zum Kol­la­bie­ren der Pati­en­tin führ­te. Die Geh­stre­cke soll­te auf bis zu 3000 m mit einer maxi­ma­len Schmerz­in­ten­si­tät von NRS 3/10 in den fol­gen­den 12 Wochen gestei­gert werden.
  3. Lang­fris­ti­ges Ziel: Schaf­fung sowohl mus­ku­lä­rer als auch koor­di­na­ti­ver und kon­di­tio­nel­ler Vor­aus­set­zun­gen, um län­ge­re Stre­cken mit dem Hund zurück­le­gen zu kön­nen. Dabei soll­ten kei­ne kör­per­li­che Schwä­che und kei­ne Schmer­zen von mehr als NRS 1 bis 2/10 17 18 bestehen.

The­ra­pie­maß­nah­men

Die viel­schich­ti­gen Beschwer­den der Pati­en­tin erfor­der­ten breit gefä­cher­te trans­dis­zi­pli­nä­re The­ra­pie­maß­nah­men, sowohl ortho­pä­die­tech­nisch und phy­sio­the­ra­peu­tisch als auch im Bereich der Pati­en­ten­e­du­ka­ti­on. Dazu im Einzelnen:

Die ortho­pä­die­tech­ni­sche Ver­sor­gung erfolg­te in Form einer Hüf­tau­ßen­ro­ta­ti­ons­ban­da­ge sowie einer Ver­sor­gung des rech­ten Beins mit einer durch Phy­sio­the­ra­pie akti­vier­ten indi­vi­du­el­len Spi­ral­or­the­se. Die Aus­wahl der Spi­ral­or­the­se basiert im Rah­men der trans­dis­zi­pli­nä­ren Ver­sor­gung zum einen auf zwei bio­me­cha­ni­schen Kom­po­nen­ten (inad­äqua­ter Heel-Rocker in „initi­al contact“/„loading respon­se“ sowie inad­äqua­ter Vor­fuß-Rocker bei feh­len­der Fer­sen­ab­he­bung in „ter­mi­nal stance“), zum ande­ren auf dem Ethik-Kodex der O. G. I. G., laut dem die Pati­en­tin immer ein mün­di­ges Mit­spra­che­recht besitzt. In der vor­ab anbe­raum­ten Gang­kon­fe­renz mit der Pati­en­tin wur­de gemein­sam die Opti­mie­rung der Bewe­gung über­prüft, und es wur­de eine Spi­ral­or­the­se zur Errei­chung des Ziels gemein­sam von PT, OT und Pati­en­tin aus­ge­wählt. Mit Hil­fe der Orthe­se sowie per Hüft-Strap wur­den die ein­zel­nen Gang­pha­sen durch eine ver­bes­ser­te Fer­sen­ab­he­bung in „ter­mi­nal stance“, eine Sta­bi­li­sie­rung der Hüft­ab­duk­to­ren in „loa­ding respon­se“ sowie die Ver­hin­de­rung eines Cross­overs in „ter­mi­nal swing“ verbessert.

Basie­rend auf den signi­fi­kant bio­me­cha­ni­schen Abwei­chun­gen wäh­rend der spe­zi­fi­schen Gang­pha­sen wur­den ziel­ge­rich­te­te Maß­nah­men zur Opti­mie­rung bzw. Akti­vie­rung ergriffen.

Zum phy­sio­the­ra­peu­ti­schen Trai­nings­kon­zept zäh­len dem­nach fol­gen­de Übungen:

  • „ter­mi­nal stance“: Ver­bes­se­rung der Exten­si­ons­fä­hig­keit in der Hüf­te durch Deh­nung und gleich­zei­ti­ge Hüftextensionskräftigung;
  • „loa­ding respon­se“: Kräf­ti­gung der Hüft­ab­duk­to­ren durch Wider­stän­de bei­der Knie late­ral, Sides­teps mit einem Wider­stands­band unter Kor­rek­tur der Bein­ach­sen und Ent­lor­do­sie­rung der LWS;
  • „ter­mi­nal stance“: Kräf­ti­gung der Plant­ar­flex­o­ren in der Spi­ral­or­the­se und will­kür­li­che Fer­sen­ab­he­bung durch kon­zen­tri­sche Zehen­stän­de sowie exzen­tri­sches Hin­un­ter­las­sen in Rich­tung Dorsalextension;
  • „initi­al cont­act“: Akti­vie­rung der Dor­sal­ex­ten­so­ren durch lei­ses oder geräusch­lo­ses Gehen sowie leich­tes Berg­ab­ge­hen zur Akti­vie­rung der prä­ti­bia­len Muskulatur;
  • „loa­ding respon­se“: Gehen an einer Linie zur visu­el­len Ori­en­tie­rung zur Kor­rek­tur des Cross­overs. Die Füße muss­ten immer direkt rechts bzw. links von der Linie plat­ziert wer­den (Stür­ze kön­nen so ver­mie­den werden);
  • „loa­ding respon­se“: Ver­bes­se­rung der zen­tra­len Sta­bi­li­tät durch Akti­vie­rung der abdo­mi­na­len und der hüft­um­grei­fen­den Mus­ku­la­tur wäh­rend des Gehens. Durch eine Ent­las­tung mit­tels Ent­lor­do­sie­rung sowie sanf­te Kom­pres­si­on der ISG konn­te der Schmerz bereits nach 12 Wochen signi­fi­kant von NRS 9/10 auf NRS 5/10 15 16 redu­ziert wer­den. Lang­fris­tig ist von einer Redu­zie­rung auf 1/10 auf der NRS auszugehen.

Im Rah­men der Pati­en­ten­e­du­ka­ti­on schließ­lich wur­den der Pati­en­tin mit­tels Video­feed­backs bzw. Gang­dia­gnos­tik ihre unbe­wusst voll­zo­ge­nen Bewe­gungs­kom­pen­sa­tio­nen als Fol­ge der lang­jäh­ri­gen Fehl­be­las­tun­gen auf­ge­zeigt. Die rele­van­ten bio­me­cha­ni­schen Aspek­te wur­den ihr auf ver­ständ­li­che Wei­se ver­mit­telt, sodass die Pati­en­tin in der Lage war zu ver­ste­hen, wie die ein­zel­nen The­ra­pie­maß­nah­men grei­fen. Auf Basis des­sen wur­de die Pati­en­tin ange­lei­tet, wie sie eigen­ver­ant­wort­lich die­se Gang­mus­ter durch täg­li­ches Üben neu­er Bewe­gungs­mus­ter durch­bre­chen kann 24. Auf die­se Wei­se sind ein effek­ti­ves und effi­zi­en­tes Ler­nen sowie eine neu­ro­syn­ap­ti­sche Neu­pro­gram­mie­rung des Bewe­gungs­ab­lau­fes mög­lich. Anhand von Vor­her-nach­her-Video­ver­glei­chen des Bewe­gungs­ab­laufs waren für sie inner­halb der The­ra­pie­zeit die eige­nen Erfol­ge sicht­bar und mess­bar (Tab. 1; Abb. 1–5).

Dank die­ses Bün­dels trans­dis­zi­pli­nä­rer The­ra­pie­maß­nah­men 6 15 25 war die Pati­en­tin nach 12 Wochen ihrem Ziel bzw. ihrem Wunsch ein gro­ßes Stück näher­ge­kom­men: Sie war nun in der Lage, 4 km am Stück zu Fuß zu bewäl­ti­gen. Eine wei­te­re Ver­bes­se­rung die­ser Aspek­te durch eine Fort­set­zung der Behand­lung ist zu erwarten.

Dis­kus­si­on

Die Pati­en­tin hat­te, bevor sie die phy­sio­the­ra­peu­ti­sche Pra­xis der Autoren auf­such­te, bereits eine mehr­jäh­ri­ge Lei­dens­ge­schich­te hin­ter sich. Durch kon­se­quen­te Anwen­dung des „Gehen-Verstehen“-Programms 1, eine adäqua­te Pati­en­ten­schu­lung 6 sowie eine gelun­ge­ne trans­dis­zi­pli­nä­re Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen The­ra­peut, Ortho­pä­die­tech­ni­ker, Arzt und Pati­en­tin ist sie heu­te fast beschwerdefrei.

Wie konn­te es zu die­ser lan­gen Krank­heits­ge­schich­te kom­men? Die Autoren ver­mu­ten, dass durch einen „dia­gno­sis bias“ (einen Bestä­ti­gungs­feh­ler oder Denk­feh­ler bei dia­gnos­ti­schen Ent­schei­dun­gen) 26 27 28 29 30 rele­van­te gang­spe­zi­fi­sche bio­me­cha­ni­sche Unter­su­chun­gen bei der Pati­en­tin aus­blie­ben und sich des­halb kei­ne Ver­bes­se­rung durch die gewähl­ten The­ra­pie­maß­nah­men ein­stell­te. Nach Auf­fas­sung der Autoren ist das in Deutsch­land ange­wen­de­te Klas­si­fi­ka­ti­ons­sys­tem der Dia­gno­sis Rela­ted Groups (DRG), in dem die Zuord­nung eines Fal­les zu einer Fall­pau­scha­le auf­grund ver­schie­de­ner Kri­te­ri­en (Haupt­dia­gno­se, Neben­dia­gno­se, Pro­ze­du­ren, Pati­en­ten­al­ter, Beatmungs­stun­den etc.) erfolgt, umstrit­ten und wis­sen­schaft­lich nicht eva­lu­iert 31. Im Gegen­teil begüns­tigt es die ärzt­li­che und the­ra­peu­ti­sche Vor­ge­hens­wei­se, dass pri­mär an ein­zel­nen Sym­pto­men gear­bei­tet wird, wor­aus schnell ein „dia­gno­sis bias“ 32 33 34 35 36 ent­ste­hen kann.

Ins­ge­samt bewer­ten die Autoren das Vor­ge­hen von Medi­zi­nern und The­ra­peu­ten nach Check­lis­ten, Finanz- und Zeit­vor­ga­ben ange­sichts die­ses Fall­bei­spiels kri­tisch. Ärzt­li­ches und the­ra­peu­ti­sches Han­deln soll­te stets pati­en­ten­zen­triert und indi­vi­du­ell sein 37, um die Hei­lungs­chan­cen von Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten zu maxi­mie­ren und die Pati­en­ten­si­cher­heit zu gewähr­leis­ten 38. Wie der Fall der hier vor­ge­stell­ten Pati­en­tin ein­drucks­voll zeigt, füh­ren inad­äqua­te Behand­lungs­maß­nah­men zu einer „Abwärts­spi­ra­le der Gesund­heit“ – im vor­lie­gen­den Fall bis hin zum Geh­ver­lust. Gehen ist aber ein Aspekt der Teil­ha­be und garan­tiert ein selbst­be­stimm­tes Leben.

Im vor­lie­gen­den Fall hat die Nicht­an­wen­dung gang­dia­gnos­ti­scher Kri­te­ri­en und das Nicht­er­ken­nen der bio­me­cha­ni­schen Haupt­pro­ble­me bei­na­he zu fata­len wei­te­ren fehl­ge­lei­te­ten The­ra­pien bzw. unnö­ti­gen Ope­ra­tio­nen im Sin­ne eines „dia­gno­sis bias“ geführt. Inso­fern war es für die­se Pati­en­tin eine lebens­ver­bes­sern­de Ent­schei­dung, dass sie den Weg zu einem Kom­pe­tenz­zen­trum des Pro­gramms „Gehen Ver­ste­hen“ mit trans­dis­zi­pli­nä­rer Ver­sor­gung (Phy­sio­the­ra­peu­ten, Ortho­pä­die­tech­ni­ker, Medi­zi­ner, Sport­wis­sen­schaft­ler) gefun­den hat. Ins­be­son­de­re Pla­teau Pati­en­ten mit Geh­be­hin­de­rung, wel­che kurz vor einer OP ste­hen, benö­ti­gen drin­gend eine dif­fe­ren­ti­al­dia­gnos­ti­sche, trans­dis­zi­pli­nä­re Gang­ana­ly­se. Wirt­schaft­li­che Schä­den des Gesund­heits­we­sens wären, so die Ansicht der Autoren, neben dem per­sön­li­chen Scha­den zu ver­mei­den, wenn Ortho­pä­die­tech­nik, Phy­sio­the­ra­pie, Arzt und letzt­end­lich der Pati­ent zusam­men am bio­me­cha­ni­schen Gang­pro­blem arbei­ten könn­ten. Um den Erfolg für das Gesund­heits­we­sen nach­zu­wei­sen, bedarf es ins­be­son­de­re Stu­di­en zur Gesundheitsökonomie.

Fazit und Ausblick

Die Dif­fe­ren­ti­al­dia­gnos­tik und das The­ra­pie­de­sign des Pro­gram­mes „Gehen Ver­ste­hen“ mit all sei­nen Kom­po­nen­ten hat bei der hier vor­ge­stell­ten Pati­en­tin zum Erfolg geführt. Sowohl die trans­dis­zi­pli­nä­re Zusam­men­ar­beit aller Betei­lig­ten als auch die hohe intrin­si­sche Moti­va­ti­on 14 24 der Pati­en­tin, die durch die Pati­en­ten­e­du­ka­ti­on for­ciert wur­de, haben dazu bei­getra­gen, dass die Pati­en­tin heu­te fast beschwer­de­frei ist. Als mün­di­ge Pati­en­tin hat sie sich zur „Co-Behand­le­rin“ ent­wi­ckelt und ihr Gang­bild durch selbst gestell­te Auf­ga­ben verbessert.

Die Autoren wün­schen sich, dass die vie­len posi­ti­ven Mög­lich­kei­ten des Pro­gramms für eine tat­säch­lich geleb­te gemein­sa­me und erfolg­rei­che Arbeit mit und für Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten aus­ge­schöpft [z. B. 39 40 41 42 43 44 45 und von allen gesund­heits­wis­sen­schaft­li­chen Beru­fen wahr­ge­nom­men wer­den. Gera­de bei Pati­en­ten mit Gang­ab­wei­chun­gen soll­te immer eine adäqua­te Gang­dia­gnos­tik durch­ge­führt wer­den. Das wie­der­um impli­ziert, dass eine spe­zi­fi­sche Gang­dia­gnos­tik-Qua­li­fi­ka­ti­on in allen medi­zi­nisch-the­ra­peu­ti­schen Beru­fen umge­setzt wer­den soll­te. Ein auf den Gang kon­zen­trier­tes kor­rek­tes Scree­ning ist not­wen­dig, um sowohl einen gang­in­ter­dis­zi­pli­nä­ren als auch einen phy­sio­the­ra­peu­ti­schen Behand­lungs­be­darf zu iden­ti­fi­zie­ren. Das The­ma einer gemein­sa­men „Gangs­pra­che“ und die Not­wen­dig­keit eines kri­ti­schen Über­den­kens der bis­he­ri­gen Vor­ge­hens­wei­sen wer­den aus Sicht der Autoren von allen betei­lig­ten Pro­fes­sio­nen bis­lang unter­schätzt. Dabei könn­ten – wie auch im hier vor­ge­stell­ten Fall – auf die­se Wei­se vie­le Lei­dens­ge­schich­ten ein Ende finden.

Für die Autoren:
Kirs­ten Götz-Neumann
Phy­sio­the­ra­peu­tin
Pre­si­dent O. G. I. G. (Los Ange­les, USA)
Mar­tin­stra­ße 42
40223 Düs­sel­dorf
Kirsten@gehen-verstehen.net

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
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