Kom­ple­xe Ver­sor­gung benö­tigt öffent­li­ches Forum

Kongresspräsident Michael Schäfer, Dipl.-Orthopädiemechaniker-Meister und Geschäftsführer der Pohlig GmbH, spricht über die aktuelle Stimmung in der Branche – und warum die digitale OTWorld.connect vom 27. bis 29. Oktober 2020 unbedingt einen Besuch wert ist.

OT: Herr Schä­fer, wie ist aktu­ell die Stim­mung in der Branche?

Micha­el Schä­fer: Da muss man sicher zwei Din­ge tren­nen – einer­seits die Gesamt­ent­wick­lung der Bran­che und ande­rer­seits die aktu­el­le Situa­ti­on unter der Coro­na-Pan­de­mie. Ins­ge­samt sind die Vor­aus­set­zun­gen für unser Fach nach wie vor gut, bedingt durch die demo­gra­fi­sche Ent­wick­lung spe­zi­ell in Deutsch­land und Euro­pa wächst der Gesund­heits­markt zuneh­mend. Aller­dings steigt der Kos­ten­druck durch die Kran­ken­kas­sen gera­de auch in schwie­ri­gen Zei­ten wie die­ser spür­bar. Alles in allem ist aber unbe­strit­ten, dass man die Arbeit unse­rer Bran­che drin­gend braucht. Unter den ver­schärf­ten Coro­na-Bedin­gun­gen haben etli­che Sani­täts­häu­ser mas­si­ve Ein­schnit­te erlebt, weil vie­le Kli­ni­ken nicht im Nor­mal­mo­dus lie­fen, Behand­lun­gen ver­scho­ben wur­den bzw. die Men­schen nicht in die Geschäf­te gekom­men sind. Etwas weni­ger schlimm sah es bei den Indi­vi­du­al­ver­sor­gern aus, die indi­vi­du­el­le Hilfs­mit­tel für Men­schen mit Behin­de­run­gen fer­ti­gen. Sie gin­gen durch ein kür­ze­res Tal, weil ihre Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten nicht lan­ge auf ihre drin­gend benö­tig­ten Hilfs­mit­tel ver­zich­ten konnten.

Ver­sor­gung in Coro­na-Zei­ten im Fokus

OT: Die Ver­sor­gung unter Pan­de­mie-Bedin­gun­gen wird im Kon­gress der OTWorld.connect eben­falls eine Rol­le spielen.

Schä­fer: Ich freue mich, dass wir den Vor­trags­block zur Ver­sor­gung unter Coro­na-Bedin­gun­gen kurz­fris­tig orga­ni­sie­ren konn­ten. Wir beleuch­ten, wie aus wirt­schaft­li­cher, poli­ti­scher und medi­zi­ni­scher Sicht sowie aus Sicht der Ver­sor­ger mit die­ser Aus­nah­me­si­tua­ti­on umge­gan­gen wird. Wel­che pro­fes­sio­nel­len Kon­zep­te haben die Betrie­be ent­wi­ckelt, wie stel­len sie sich auf die neue Markt­si­tua­ti­on ein? Wie sehen bei­spiel­wei­se die Schutz­kon­zep­te aus, wenn der Außen­dienst zu Ver­sor­gun­gen ins Pfle­ge­heim fährt? Vie­le Unter­neh­men haben ihre Teams gesplit­tet, damit im Fall von Infek­tio­nen im Team wei­ter ver­sorgt wer­den kann. Nicht zuletzt ist die Mit­ar­bei­ter­mo­ti­va­ti­on eine Her­aus­for­de­rung, denn die Beleg­schaft arbei­tet unter erschwer­ten Bedingungen.

OT: Sie sind Erfin­der eines neu­en For­mats im Kon­gress der OTWorld.connect, das inter­dis­zi­pli­nä­re Leucht­tür­me der Ver­sor­gung vor­stellt. Gemein­sam mit John Migue­lez von Advan­ced Arm Dyna­mics wid­men Sie sich dem The­ma „Moder­ne Pro­the­tik der obe­ren Extre­mi­tä­ten“. Was darf das Publi­kum erwarten?

Schä­fer: John Migue­lez ist eine abso­lu­te Kory­phäe, spe­zia­li­siert auf die pro­the­ti­sche Ver­sor­gung der obe­ren Extre­mi­tä­ten sowie auf die Anpas­sung der Schnitt­stel­len zwi­schen Mensch und Pro­the­se. Ziel ist, die obe­re Extre­mi­tät mit­tels der Tech­nik mög­lichst exakt zu spie­geln. Für ent­spre­chen­de Pro­jek­te inves­tier­te die Defen­se Advan­ced Rese­arch Pro­jects Agen­cy (DARPA), eine Behör­de des US-Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums, zur Jahr­tau­send­wen­de weit mehr als 100 Mil­lio­nen Dol­lar an For­schungs­gel­dern. Migue­lez lei­tet mit Advan­ced Arm Dyna­mics eines der füh­ren­den Ver­sor­gungs­teams welt­weit und liegt in den USA an der Spit­ze. Er ist eng ver­netzt mit Medi­zin und Therapie.

OT: Was macht Migue­lez’ Arbeit besonders? 

Schä­fer: Er und sein Team arbei­ten kon­ti­nu­ier­lich dar­an, den Erfolg neu­er Tech­no­lo­gien erkenn­bar zu machen, ent­wi­ckeln eige­ne Assess­ments und pfle­gen schon lan­ge eine sehr enge inter­dis­zi­pli­nä­re Zusam­men­ar­beit mit Medi­zin und The­ra­pie. Das ist wich­tig, weil auch in den USA die Kos­ten­trä­ger Nach­wei­se for­dern, wie die Men­schen von den neu­en Tech­no­lo­gien pro­fi­tie­ren wie zum Bei­spiel mul­ti­ar­ti­ku­lie­ren­den Hän­den oder Tar­ge­ted Mus­cle Rein­ner­va­ti­on (TMR, Ner­ven­trans­fers). Sol­che gut funk­tio­nie­ren­den inter­dis­zi­pli­nä­ren Bei­spie­le und das dahin­ter­ste­hen­de Know-how sol­len in die Bran­che getra­gen wer­den, denn die Ver­sor­gun­gen wer­den immer kom­ple­xer. Am Markt exis­tiert in die­ser Hin­sicht nach wie vor ein Vaku­um. Zwar wird viel von Inter­dis­zi­pli­na­ri­tät gespro­chen, doch es gibt nur weni­ge tat­säch­li­che inter­dis­zi­pli­nä­re Kon­zept­teams, bei denen Tech­ni­ker, The­ra­peu­ten und Medi­zi­ner tat­säch­lich den engen Aus­tausch am und mit dem Pati­en­ten pflegen.

OT: Auf wel­che High­lights freu­en Sie sich noch?

Schä­fer: Ich freue mich, dass wir 250 Vor­trä­ge auf die Bei­ne gestellt haben! Uns sind sehr gute Koope­ra­tio­nen gelun­gen, zum Bei­spiel mit der Deut­schen Gesell­schaft für Unfall­chir­ur­gie (DGU), der Gesell­schaft für Ortho­pä­disch-Trau­ma­to­lo­gi­sche Sport­me­di­zin (GOTS) und der Gesell­schaft für Fuß- und Sprung­ge­lenk­chir­ur­gie (GFFC). Ich bin gespannt auf die von der Medi­zin bei­gesteu­er­ten Bei­trä­ge, auf die Debat­te über aktu­el­le Tech­no­lo­gien, über Mensch-Maschi­ne-Schnitt­stel­len und wel­che weg­wei­sen­den Mög­lich­kei­ten sich für die Chir­ur­gie andeu­ten. So steu­ern die Chir­ur­gen zuneh­mend direkt auf die Ner­ven als zuver­läs­si­ge Signal­quel­len zu. Von neu­ro­mus­ku­lä­rer Sti­mu­la­ti­on bis zur Über­tra­gung sen­si­bler Umge­bungs­in­for­ma­tio­nen auf den Stumpf – die Ver­bes­se­rung der Schnitt­stel­len zwi­schen Mensch und Tech­nik ist ein gro­ßes The­ma auf der OTWorld.connect. Denn oft müs­sen wir fest­stel­len, dass unse­re Hilfs­mit­tel zu wenig Detail-Per­for­mance bie­ten und wir im All­tag im Ver­gleich zur Natur ein­fach noch viel zu pri­mi­tiv unter­wegs sind. Wir müs­sen uns noch viel mehr anstren­gen, dem natür­li­chen Vor­bild näher­zu­kom­men. Die deut­sche und euro­päi­sche For­schungs­land­schaft zieht über­dies mit der TAR Con­fe­rence (Tech­ni­cal­ly Assis­ted Reha­bi­li­ta­ti­on) ein. Hier geht es um sehr zukunfts­ori­en­tier­te Inhal­te, die teils weit­ab von der Ver­sor­gungs­rea­li­tät lie­gen. Es scha­det unse­rer Bran­che aber nicht, sich schon heu­te damit aus­ein­an­der­set­zen – eine wirk­lich gro­ße Bereicherung.

Labor für neue Digitalformate

OT: War­um loh­nen die Live-Streams der OTWorld.connect in beson­de­rem Maße?

Schä­fer: Ganz klar: Wer beim Wis­sens­aus­tausch über die ver­schie­de­nen OT-Dis­zi­pli­nen die Nase vorn haben will, der muss dabei sein! Außer­dem wer­den die Her­stel­ler eben­falls Kanä­le bespie­len und neue Tech­no­lo­gien vor­stel­len. Im Mit­tel­punkt des digi­ta­len For­mats steht ganz klar der Wis­sens­trans­fer. Die OTWorld.connect ist sozu­sa­gen ein Pro­to­typ, ein Labor für neue Digi­tal­for­ma­te, von denen wir etli­che sicher­lich künf­tig wie­der­se­hen werden.

OT: Die OTWorld.connect ist also kein Platz­hal­ter, son­dern ein Schrittmacher?

Schä­fer: Das wird kei­ne ein­ma­li­ge Sache! Es ist rich­tig, den digi­ta­len Weg zu beschrei­ten, um für die Zukunft gerüs­tet zu sein. Gera­de bei inter­na­tio­na­len Kon­gres­sen bie­ten sich so Chan­cen, welt­weit For­scher zuzu­schal­ten, die kei­ne lan­ge Rei­se auf sich neh­men wol­len oder kön­nen. Digi­ta­le For­ma­te wer­den die Mes­se- und Kon­gress­land­schaft dau­er­haft berei­chern. Die Hemm­schwel­le, Fra­gen zu stel­len, könn­te online gerin­ger sein als in einem voll­be­setz­ten Vor­trags­saal, des­halb hof­fe ich auf vie­le Fra­gen und inten­si­ve Diskussionen.

 

Die Fra­gen stell­te Cath­rin Günzel.

 

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