OT: Bei welchen Krankheitsfeldern kommen diese Gelenke zum Einsatz?
Norbert G. Günther: Unser Hüftgelenk wurde für Patienten mit angeborenen – wie Spina Bifida – oder erworbenen Rückenmarksläsionen zwischen L3 und TH5 sowie für Patienten mit spinaler Muskelatrophie entwickelt. Allerdings sollten die Patienten ein gutes Raum- und Gleichgewichtsgefühl besitzen und keine Aufmerksamkeitsstörungen oder motorische Perzeptionsstörungen aufweisen.
OT: Welche Funktionen erfüllt das mechanische Hüftgelenk?
Günther: Das 2‑Achs-Hüftgelenk lässt durch seine schräg gelagerte Achse eine Zirkumduktion zu. Aufgrund des zweiachsigen Gelenkaufbaus rotiert das Beckenteil um seine eigenen Achsen, während die Beine in Laufrichtung ausgerichtet bleiben. Unter maximaler Ausnutzung der Beweglichkeit des Rumpfes wird dem Patienten ein energiesparendes Gehen ermöglicht. Bei hohen Lähmungen garantiert das Hüftgelenk in Kombination mit dem Beckenteil, dass die Patienten frei sitzen oder frei aufrecht stehen können, ohne Zuhilfenahme ihrer Hände. Zudem kann der Beckenkorb bei Skoliose korrigierend wirken.
OT: Warum haben sie Ihr Hüftgelenk überarbeitet?
Günther: Es ist uns eine Herzensangelegenheit, unsere kleinen Patienten mit ihren großen Mobilitätsdefiziten so gut wie möglich zu versorgen. Das bisherige Hüftgelenk Twister war aufgrund seiner Größe und seines Gewichts für Kinder im Vorschulalter nicht einsetzbar. Außerdem wollten wir den Rotationswinkel verändern, damit die Patienten noch weniger Kraft beim Gehen aufwenden müssen.
OT: Wie lange haben Sie für die Weiterentwicklung gebraucht?
Günther: Viel zu lange! (lacht) Den ersten Anlauf haben wir bereits vor zehn Jahren genommen, landeten aber zwischendrin in einer Sackgasse. Die letzten knapp vier Jahre haben wir dann intensiv an der Weiterentwicklung des Gelenks gearbeitet, infrage kommende Materialien getestet und berechnet, eine O‑Serie erstellt, Tragezyklen abgeschlossen und ausgewertet, um die Schwachstellen und Verbesserungspotenziale zu entdecken und so das Gelenk immer weiter verbessern zu können. Insbesondere bei den Tragezyklen muss man sehr sensibel vorgehen. Kinder, die ja bei uns im Fokus der Versorgung stehen, sind häufig ängstlich. Hier muss die Funktion perfekt sein.
OT: Was hat sich gegenüber dem Vorgängermodell geändert?
Günther: Vieles! Wir haben das Hüftgelenk komplett überarbeitet: Das neue Design ist sehr organisch gehalten. Die Dicke des Gelenkes konnten wir um zehn Millimeter reduzieren und das Gelenk allgemein verschlanken. Bei gleicher Stabilität ist das neue Gelenk 100 Gramm leichter und liegt enger am Körper. Diese Verbesserung haben wir erzielt, weil wir – anders als bisher – das Lager für das Gelenk selber produzieren. Das ist einzigartig, was unser Team da geleistet hat.
Außerdem liegt der Rotationswinkel nun bei 35° statt bisher 30°. Das entspricht dem Beugestreckwinkel des Beines. Biomechanisch bewirkt der neue Winkel, dass die Nutzer nicht mehr so viel Kraft beim Aufrichten oder Gehen aufwenden müssen, weil sie viel weniger gegen die Schwerkraft ankämpfen müssen. Mit einer leichten Seitneigung des Patienten wird das Bein mitbeschleunigt.
Zudem ist das Gelenk kleiner, sodass wir bereits Patienten im Alter von drei bis vier Jahren damit versorgen können.
Als Material verwenden wir Flugzeugaluminium, also ein hochfestes Aluminium mit einem geringen Gewicht. Beim Vorgängermodell nutzten wir zwar auch Aluminium, allerdings eine andere Legierung.
OT: Wie sind Ihre Erfahrungen mit dem Genehmigungsverfahren gegenüber den Krankenkassen?
Günther: Bei Gehapparaten für Patienten mit hohen Lähmungen gibt es immer einen hohen Gesprächsbedarf vonseiten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK). Aber das klärt sich in der Regel schnell, zumal wir in diesem Fall ja kein Neuprodukt vorgestellt haben, sondern eine Weiterentwicklung eines bereits zugelassenen Produktes.
OT: Warum haben Sie sich für eine klassische Fertigung des Hüftgelenks entschieden?
Günther: Wir beschäftigen uns seit etwa zehn Jahren mit additiver Fertigung. Tatsächlich haben wir die Prototypen und Anschauungsmodelle im 3D-Druck gefertigt. Noch ist der 3D-Druck aber nicht präzise und ausgereift genug. Der Orthopädietechniker muss noch viel nacharbeiten, sodass das Verfahren für uns nicht rentabel wäre. Das neue Hüftgelenk sollte ja besser und gleichzeitig nicht wesentlich teurer werden. Was uns auch gelungen ist. Hinzu kommt, dass wir permanent Materialinnovationen für den Kunststoffdruck erleben. Da ist noch viel Bewegung drin.
OT: Wie werden Orthesen und Prothesen im Jahr 2030 gefertigt?
Günther: Hoffentlich aus einem Kunststoff, der biologisch abbaubar oder zumindest sehr nachhaltig ist. Ich kann mir vorstellen, dass das 3D-Druck-Verfahren in zehn Jahren auch präzise genug ist für eine rentable Fertigung von Prothesen und Orthesen durch Orthopädie-Technik-Betriebe.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
Zur Person
Norbert G. Günther (63) ist seit 1994 Inhaber und Geschäftsführer der F. Gottinger Orthopädietechnik Gruppe. Den Grundstein für die Firma legte Ferdinand Gottinger 1901 mit der Gründung seiner Orthopädietechnik-Meisterwerkstatt. Auch Norbert G. Günther ist Orthopädietechnik-Meister. Er erwarb 1981 an der Bundesfachschule für Orthopädie-Technik e. V. (BUFA) seinen Meistertitel und arbeitet noch heute – in seinem 49. Berufsjahr – viel am Patienten. Sein Schwerpunkt liegt auf der Versorgung von Kindern.
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