Das Poh­lig-Bio­nic-Socket-Sys­tem (PBSS) – Neue Per­spek­ti­ven bei der Pro­the­sen­ver­sor­gung nach Oberschenkelamputation

M. Schäfer, K. Pohlig
Das Pohlig-Bionic-Socket-System (PBSS) (Abb. 1) ist eine konzeptionelle Neuentwicklung im Bereich der prothetischen Schafttechnologie. Dabei wurden herkömmliche Wege der Schaftformfindung hinterfragt, anwenderspezifische Bedürfnisse eruiert und eine weiterführende Methodik der Schaftgestaltung entwickelt. Ausgehend von der These, dass der Prothesenschaft als direktes Bindeglied zwischen dem Anwender und der Prothese das wichtigste Bauteil einer Prothese darstellt, wurden in einem Team erfahrener Prothetiker mit dem PBSS neue Ansätze zur Ermittlung des Schaftdesigns sowie zur individuellen Schaftgestaltung definiert. Während manche Überlegungen sich noch in der konzeptionellen Phase befinden, konnten die ersten Ansätze wesentlicher Neuerungen im Versorgungsbereich der Oberschenkelprothetik bereits an ca. 80 durchgeführten Prothesenversorgungen erprobt werden.

Ein­lei­tung

Bereits die Väter der Ortho­pä­die-Tech­nik und alle nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen beschäf­tig­ten sich inten­siv mit dem Gedan­ken, Pro­the­sen­schäf­te zu opti­mie­ren, um die Betrof­fe­nen in die Lage zu ver­set­zen, die vie­len unter­schied­li­chen All­tags­si­tua­tio­nen bes­ser, schmerz­frei­er und kom­for­ta­bler zu bewältigen.

Bei der pro­the­ti­schen Ver­sor­gung nach Ober­schen­kel­am­pu­ta­ti­on spielt das Sitz­bein eine ent­schei­den­de Rol­le, was sich auch bei den Ein­bet­tungs­tech­ni­ken zeigt. Die mitt­ler­wei­le in die Jah­re gekom­me­nen zweck­form­ori­en­tier­ten que­r­ova­len und qua­dri­la­te­ra­len Schaft­for­men, die trotz der anti­quier­ten Ein­bet­tungs­tech­ni­ken noch heu­te ver­brei­tet sind, fokus­sie­ren sich mit ihrer Tuber-unter­stüt­zen­den Sitz­bank auf den distal sehr schma­len Becken­kno­chen. Bis zu 80 Pro­zent des Kör­per­ge­wichts wer­den wäh­rend der Stand­pha­se punk­tu­ell über­tra­gen bzw. auf­ge­nom­men. Dar­aus resul­tie­rend liegt die Bel­at­tungs­li­nie (der Flä­chen­schwer­punkt) in der Fron­tal­ebe­ne ent­lang der medio-late­ra­len Schaft­ach­se bei 40 Pro­zent Abstand nach medi­al und 60 Pro­zent nach late­ral. Da der Sitz­bein­hö­cker ana­to­misch sehr weit medi­al und unglück­li­cher­wei­se auch weit dor­sal zur Belas­tungs­li­nie posi­tio­niert ist, sind für Pro­the­sen­trä­ger bei die­sen Schaft­for­men sta­ti­sche Pro­ble­me pro­gram­miert. Bei der Last­auf­nah­me ent­steht ein Dreh­mo­ment. In der Sagit­tal­ebe­ne rotiert das Becken nach vor­ne unten. Der Becken­nei­gungs­win­kel ver­grö­ßert sich 1. In der Fron­tal­ebe­ne betrach­tet kippt das Becken zur gesun­den Sei­te ab. Der Pro­the­sen­schaft „shif­tet” nach lateral.

Das ver­ti­ka­le Last­auf­nah­me­prin­zip in der Form des Tuber­sit­zes ver­än­der­te sich 1983 ele­men­tar, als der aus Okla­ho­ma stam­men­de John Sabo­lich die soge­nann­te CAT-CAM-Tech­nik (Con­tou­red Adduc­ted Tro­chan­te­ric­Con­trol­led Ali­gnment Method) vor­stell­te 2. Sei­ne Pro­the­sen­schäf­te ent­behr­ten sowohl einer Tuber­sitz­bank als auch der ven­tra­len Pelot­te in Höhe des Scarpa’schen Drei­ecks, die bei den bis­he­ri­gen Schaft­for­men zur Posi­ti­ons­si­che­rung des Tubers auf der Sitz­bank benö­tigt wurde.

Die sitz­be­in­um­grei­fen­de Schaft­form setz­te sich in der Ortho­pä­die- Tech­nik aller­dings nur sehr lang­sam durch, da die Anpas­sung tech­nisch schwie­rig und auch nur mit sehr hohem per­so­nel­lem und mate­ri­el­lem Auf­wand durch­zu­füh­ren ist. Grund­la­ge für eine erfolg­rei­che Ver­sor­gung ober­schen­kel­am­pu­tier­ter Pati­en­ten mit Pro­the­sen­schäf­ten in sitz­be­in­um­grei­fen­der Schaft­form sind eine äußerst prä­zi­se Modell­ab­nah­me des Ober­schen­kel­stump­fes und eine sys­te­ma­ti­sche, spe­zi­ell auf die Kri­te­ri­en des längs­ova­len Schaf­tes abge­stimm­te Model­lier­tech­nik 2.

Die Nomen­kla­tur änder­te sich im Lau­fe der Zeit. Aus dem CAT-CAM-Schaft wur­de der IC-Socket (Ischi­al Con­tain­ment Socket). Neue Vari­an­ten und abge­wan­del­te Bet­tungs­prin­zi­pi­en wie zum Bei­spiel die ramus­um­grei­fen­de Gestal­tung der M.A.S.-Schafttechnik (Mar­lo Ana­to­mic­al Socket) kamen dazu. Mar­lo Ortiz inte­grier­te 2002 in sei­ne M.A.S.-Technik Kom­po­nen­ten des qua­dri­la­te­ra­len Schaft­sys­tems. Er schreibt dazu: „1999 bestand einer der Pati­en­ten auf einen extrem nied­ri­gen pos­te­rio­ren Schaft­ab­schluss, um das kos­me­ti­sche Erschei­nungs­bild sei­nes Gesä­ßes zu ver­bes­sern. Über­ra­schen­der­wei­se wur­de dabei fest­ge­stellt, dass es so viel ein­fa­cher ist, die Tube­ro­si­tas ischii und einen Teil des Ramus pubis voll­stän­dig zu umfas­sen, da es in die­sem Schaft kei­ne Unter­stüt­zung oder Umfas­sung des Glutaeus gibt. Um eine bes­se­re Rota­ti­ons­kon­trol­le zu schaf­fen, wur­de der Fron­tal­be­reich des Schaf­tes so modi­fi­ziert, dass er der klas­si­schen qua­dri­la­te­ra­len Form ähnelt. Die ante­rio­re Wand wur­de radi­kal abge­senkt, um den vol­len Umfang der akti­ven und pas­si­ven Hüft­be­we­gung zu erlau­ben.” 3

Beson­ders von Pro­the­sen­trä­ge­rin­nen wird die unauf­fäl­li­ge gesäß­freie und kör­per­na­he Form­ge­stal­tung des Schaf­trand­ver­laufs sehr geschätzt. Sei­ne maxi­ma­le Reduk­ti­on erschwert aller­dings die Schaft­an­fer­ti­gung. Unab­hän­gig von der Reduk­ti­on der Last­auf­nah­me­flä­chen und der dar­aus resul­tie­ren­den Mehr­be­las­tun­gen ein­ge­bet­te­ter Stumpf­an­tei­le kann eine zu tie­fe Gestal­tung der Schaf­trand­ver­läu­fe zu einem Ver­sa­gen des Sys­tems füh­ren 3.

Noch deut­lich tie­fer ver­läuft der Schaf­trand bei Anwen­dung des Mil­wau­kee-Designs. Den Autoren fol­gend ver­zich­tet die­se Metho­de gänz­lich auf die supratro­chan­tä­re late­ra­le Schaft­wand­kom­po­nen­te sowie die star­re Ein­gren­zung des Ramus. Eine aus­rei­chen­de Sta­bi­li­tät beim Gehen hin­ge­gen bezieht sich im Wesent­li­chen auf eine „mus­ku­lä­re Ver­blo­ckung”. Beglei­tend soll das dista­le Femur bei die­ser Schaft­form durch eine L‑förmige late­ra­le pos­te­rio­re Stütz­struk­tur Sta­bi­li­sie­rung erfah­ren 4.

Rand­all Alley ging 2011 neue Wege mit der Krea­ti­on des HiFi-Inter­face-Moduls und des trans­fe­mo­ra­len Kom­pres­si­ons­schafts. Er brach­te damit die neue Idee der Osse­oper­zep­ti­on ein, maß die Kom­pres­si­ons­fä­hig­keit der Weich­tei­le und ver­klam­mer­te die Mus­ku­la­tur des Stumpf­füh­rungs­be­reichs mit­tels vier lon­gi­tu­di­nal um das Femur her­um ver­lau­fen­der und kräf­tig aus­ge­bil­de­ter Stüt­zen, die im 90°-Winkel zuein­an­der ange­ord­net sind 5. Die Posi­tio­nie­rung und auch die Stär­ke der Kom­pres­si­on die­ser Zonen erfolgt beim Gips­ab­druck mit einer stan­dar­di­sier­ten Vor­rich­tung („Imager”), deren Metall­stüt­zen hori­zon­tal an den Stumpf her­an­ge­führt wer­den. Durch die­se Metho­de sei es, so Alley, in vie­len Fäl­len mög­lich, auf eine Ein­bet­tung des Beckens (Tuber ischia­di­cum) in den Pro­the­sen­schaft zu ver­zich­ten. Der par­ti­ell kom­pri­mie­ren­de HiFi-Sta­bi­li­sa­ti­ons­schaft setzt eine – zwei­fel­los inno­va­ti­ve – Idee um. Ob die Tech­nik den euro­päi­schen Ansprü­chen gerecht wer­den kann, bleibt aller­dings abzuwarten.

Trotz aller Vari­an­ten ist die hydro­sta­ti­sche Abstüt­zung für eine effek­ti­ve Kraft­über­tra­gung genau­so Stan­dard geblie­ben wie eine knö­cher­ne Ver­rie­ge­lung. Es kann natür­lich sein, dass ein mus­ku­lö­ser lan­ger Ober­schen­kel­stumpf durch die Kon­trak­ti­ons­fä­hig­keit der Mus­ku­la­tur in die Lage ver­setzt wird, die gang­sta­bi­li­sie­ren­de media­le Anla­ge am pro­xi­ma­len Schaft­en­de wäh­rend des Gehens zu kom­pen­sie­ren. Wie sieht dies jedoch bei wenig mus­ku­lö­sen, bin­de­ge­web­ig sehr wei­chen oder gar kur­zen Ober­schen­kel­stümp­fen aus? Die Bio­me­cha­nik des Gehens und der damit in Ver­bin­dung ste­hen­de Kraft­vek­tor, der in der Stand­pha­se durch das Ver­la­gern des Kör­per­schwer­punk­tes über das pro­the­ti­sche Bein ent­steht, kann nicht eli­mi­niert wer­den. Gera­de bei den oben ange­ge­be­nen Stumpf­be­schaf­fen­hei­ten ist die Mus­ku­la­tur oft­mals nicht oder nicht mehr in der Lage, die­se Sta­bi­li­sie­rung zu bewir­ken; daher darf die zen­trie­ren­de und sta­bi­li­sie­ren­de Funk­ti­on der media­len Umgrei­fung des Ramus- oder Sitz­bein­as­tes nicht in Fra­ge gestellt wer­den. Die­se ist effi­zi­ent und ver­mag – an der rich­ti­gen Stel­le plat­ziert – die gewünsch­te medio-late­ra­le Sta­bi­li­sie­rung effek­tiv zu sichern und damit ein Shif­ten des Pro­the­sen­schaf­tes in der Stand­pha­se zu verhindern.

Beson­ders bewährt hat sich hier­bei eine dreh­ba­re Lage­rung der media­len Umgrei­fung, wel­che ein­ge­bet­tet in einen HTV-Sili­kon-Kon­takt­schaft ein adap­ti­ves Ver­hal­ten an unter­schied­li­che Belas­tungs­si­tua­tio­nen ermög­licht (Abb. 2).

Form­er­fas­sung und Erstel­lung der initia­len Funk­ti­ons­form des Pro­the­sen­schaf­tes stel­len jedoch nach wie vor extre­me Unsi­cher­heits­fak­to­ren dar. Das Ver­sor­gungs­er­geb­nis weicht, bei Anwen­dung glei­cher Rou­ti­nen, von OT-Tech­ni­ker zu OT-Tech­ni­ker deut­lich ab. Auch eine form- und volu­men­ge­naue Repro­duk­ti­on der Schaft­form scheint nicht mög­lich zu sein.

Dar­über hin­aus wird die Qua­li­tät des Gips­ab­drucks durch das hand­werk­li­che Geschick des Tech­ni­kers genau­so beein­flusst wie durch die ange­wand­te Wickel­tech­nik, den Zug der Gips­bin­den sowie – wegen des Abform­griffs – die Form der Füh­rungs­zo­nen. Die Weich­tei­le wer­den dabei von den Ortho­pä­die-Tech­ni­kern auf unter­schied­lichs­te Wei­se mani­pu­liert – mit der Fol­ge unge­nau­er und nur schwer kon­trol­lier­ba­rer Verschiebungen.

Bei der Initi­ie­rung neu­er Ver­sor­gungs­for­men soll­ten neben der Form­ge­stal­tung des Pro­the­sen­schaf­tes auch die Wün­sche und Bedürf­nis­se der Anwen­der zum Tra­gen kom­men. Aus die­sem Grund initi­ier­te man im Vor­feld zur Ent­wick­lung der PBSS-Tech­no­lo­gie eine Pati­en­ten­um­fra­ge zum The­ma „Phan­tom­schmerz, Stumpf­schmerz, Wün­sche und Bedürf­nis­se”, an der sich 120 Anwen­der betei­lig­ten.­ Hier­von konn­ten 87 kom­plett aus­ge­füll­te Fra­ge­bö­gen in die Aus­wer­tung ein­flie­ßen. Neben ver­schie­de­nen Metho­den zur erfolg­rei­chen Behand­lung der Phan­tom­schmer­zen wur­den hier­bei auch diver­se Pro­ble­me aus dem All­tag geschil­dert, die ein­deu­tig auf Form­ge­bung und bau­li­che Kon­struk­ti­on des Pro­the­sen­schaf­tes zurück­zu­füh­ren waren.

Als wesent­li­che Kri­tik­punk­te konn­ten fol­gen­de Häu­fun­gen fest­ge­stellt werden:

  • man­geln­der Kom­fort beim Sitzen
  • Ver­lust der opti­ma­len Haf­tung nach län­ge­rem Tra­gen der Prothese
  • Wund­scheu­ern bei Kurz­stümp­fen und mesh­graft­ge­deck­ten Stümpfen
  • mus­ku­lä­re Engegefühle
  • Ver­stär­kung des Käl­te­ge­fühls durch kal­ten Schweiß
  • Tran­spi­ra­ti­on bzw. Luft­ein­la­ge­run­gen nach län­ge­rem Benut­zen der Prothese
  • man­geln­der Kom­fort im medio­pro­xi­ma­len Schaftbereich

Letzt­end­lich waren die meis­ten der ergän­zend auf­ge­führ­ten Ver­bes­se­rungs­wün­sche auf die Kon­struk­ti­on und das Mate­ri­al im Schaft­bau zurück­zu­füh­ren. Die Adap­ti­vi­tät an die All­tags­si­tua­ti­on ist dabei genau­so her­vor­zu­he­ben wie der Wunsch nach einer tem­pe­ra­tur­ab­hän­gi­gen Ther­mo­re­gu­la­ti­on im Pro­the­sen­schaft. Ver­schie­de­ne Anwen­der berich­te­ten davon, den Phan­tom­schmerz erfolg­reich mit Aku­punk­tur bzw. Aku­pres­sur beho­ben zu haben, ande­re wie­der­um durch Wär­me-Käl­te-Anwen­dun­gen. Einig waren sich alle Anwen­der in der Bewer­tung und Her­aus­stel­lung des Sitz­kom­forts. Die niveau­kon­gru­en­te Sitz­po­si­ti­on, wie sie beim M.A.S.-Schaft gege­ben ist, wur­de von allen Anwen­dern als enor­me Berei­che­rung und „Must-have” im Pro­the­sen­schaft beschrieben.

Das Poh­lig-Bio­nic-Socket-Sys­tem (PBSS)

Vie­le Pro­ble­me blie­ben unge­löst, so zum Bei­spiel die Fra­ge nach einer Metho­de zur Form­er­fas­sung, die den Stumpf nicht mal­trä­tiert. Das Schaft­de­sign muss eine opti­ma­le Sta­bi­li­tät ver­mit­teln. Dar­über hin­aus gilt es die Haf­tung zu ver­bes­sern, Schmer­zen zu redu­zie­ren, iatro­ge­ne Schä­den sowie Fehl­ver­sor­gun­gen zu ver­mei­den. Die­se Ansprü­che waren Anlass, über ein bio­ni­sches Pro­the­sen­schaft­sys­tem nach­zu­den­ken. Um die­se Zie­le zu errei­chen, soll­ten bis­her in der Ortho­pä­die-Tech­nik unbe­rück­sich­tigt geblie­be­ne Para­me­ter und Metho­den Anwen­dung fin­den. Die Pro­jekt­be­zeich­nung „PBSS” gab die Rich­tung vor. „Bio­nic” ist eine Wort­kom­bi­na­ti­on aus „Bio­lo­gie” und „Tech­nik”. Die­se Wort­schöp­fung skiz­ziert die tech­ni­sche Umset­zung und Anwen­dung eines moder­nen Pro­the­sen­schaft­sys­tems, das die bio­lo­gi­schen Mus­ter in die Anfor­de­run­gen ampu­tier­ter Glied­ma­ßen inte­griert. Alle Maß­nah­men soll­ten sich an Vor­gän­gen der Natur ori­en­tie­ren und so wenig wie mög­lich die ana­to­mi­sche Form und Funk­ti­on des mensch­li­chen Kör­pers ver­än­dern. Mit zuneh­men­der Erfah­rung und Ent­wick­lung die­ser Gedan­ken kris­tal­li­sier­te es sich immer mehr her­aus: PBSS wird kei­ne Tech­nik, son­dern ein an die indi­vi­du­el­len Gege­ben­hei­ten des Ampu­tier­ten ange­pass­tes „schnür­ba­res Paket” ver­schie­dens­ter funk­tio­na­ler Einheiten.

Mit Blick auf die umfang­rei­chen Ent­wick­lungs­auf­ga­ben wur­den nach jah­re­lan­gem Abwä­gen und Ver­glei­chen diver­ser Sys­te­me im Jahr 2009 meh­re­re 3‑D-Inter­fa­ce­mo­du­le erwor­ben und video­ba­sier­te Scan­sys­te­me instal­liert. Ab Herbst 2011 konn­te man, nach den posi­ti­ven Erfah­run­gen in der Orthe­tik, auch bei PBSS pri­mä­re Ideen umset­zen und ers­te Test­ver­sor­gun­gen durch­füh­ren. Die Form­er­fas­sung erfolgt berüh­rungs­los via video­ba­sier­ten Scan­ner. Das ist zunächst noch nichts Revo­lu­tio­nä­res im Ver­gleich zum Gips­ab­druck. Neu ist aller­dings, dass der Scan – bei zweck­ori­en­tier­ter Posi­tio­nie­rung des Pati­en­ten auf einem spe­zi­ell für PBSS-Belan­ge kon­stru­ier­ten Stuhl – bei maxi­mal ange­spann­ter Mus­ku­la­tur erfolgt (Abb. 3). Nur 45 Sekun­den dau­ert der defi­ni­ti­ve Scan, dem aller­dings eine lan­ge Vor­be­rei­tung vor­aus­geht. Län­ger als 60 Sekun­den sind Pati­en­ten kaum in der Lage, ihre Mus­ku­la­tur anzu­span­nen, wes­halb sich ein der­art per­fek­tes Reli­ef wie beim Scan­ver­fah­ren per Gips­ab­druck nicht rea­li­sie­ren lässt.

Die Daten­er­fas­sung ist deut­lich umfang­rei­cher als bei den eta­blier­ten Methoden:

  • Alle Stumpf­um­fang­ma­ße wer­den zur Ermitt­lung der Reduk­ti­ons­quo­ti­en­ten mit einem spe­zi­el­len mit einer Gas­druck­fe­der aus­ge­stat­te­ten Maß­band ermit­telt (Abb. 4).
  • Die Erhe­bung sono­gra­fi­scher Daten lie­fert inter­es­san­te Aus­künf­te über den Ver­lauf der Mus­ku­la­tur und mög­li­che Ver­knö­che­run­gen oder Exostosen.
  • Wegen ihrer beson­de­ren Bedeu­tung sind sono­gra­fisch die axia­len Mus­kel­lü­cken zu ermit­teln und zu kenn­zeich­nen, an deren Posi­ti­on die PBSS-Stumpf­sta­bi­li­sa­to­ren in den Schaft inte­griert wer­den (Abb. 5).

Auf bio­ni­schen Daten basie­rend folgt dann die 3‑D-Model­lie­rung, die der­zeit 43 Aktio­nen beinhal­tet. Auch hier­bei wird streng dar­auf geach­tet, dass das Reli­ef der Stumpf­ober­flä­che opti­mal bei­be­hal­ten wird, um der Mus­ku­la­tur Frei­räu­me anzu­bie­ten, in die hin­ein sie sich bei der Kon­trak­ti­on aus­deh­nen kann.

Die PBSS-Stumpf­sta­bi­li­sa­to­ren, deren Aus­prä­gung etwa 4 bis 6 mm beträgt, die­nen dem bio­me­cha­ni­schen Ziel, die Mus­kel­lü­cken zu nut­zen und die Mus­ku­la­tur sanft aus­ein­an­der­zu­schie­ben. Durch die Mani­pu­la­ti­on ver­län­gert sich die Distanz zwi­schen Ursprung und Ansatz. Von die­ser Akti­on pro­fi­tiert die Vor­span­nung der Mus­ku­la­tur, was sich äußerst posi­tiv auf den Stumpf zur Steue­rung der Pro­the­se aus­wirkt (Abb. 6). Stumpf­sta­bi­li­sa­to­ren die­nen nicht dem Ziel, die Weich­tei­le des Stump­fes stär­ker zu kom­pri­mie­ren. Das Gegen­teil ist der Fall. Ver­gleicht man die in PBSS-Tech­nik kon­stru­ier­ten Schäf­te mit CAT-CAM- oder M.A.S.-Sockets, dann stellt PBSS bei opti­mier­ten Füh­rungs­ei­gen­schaf­ten sogar ein grö­ße­res Volu­men zur Ver­fü­gung. Dass ein sol­ches auch dem Schaft­kom­fort zugu­te kommt, ist nachvollziehbar.

Die best­mög­li­che Adhä­si­on zwi­schen Stumpf und Pro­the­sen­schaft wird in der Ober­schen­kel­pro­the­tik durch unter­druck­sta­bi­li­sier­te HTV-Sili­kon-Kon­takt­schäf­te erzielt, die in Abhän­gig­keit von den Stumpf­ver­hält­nis­sen in ver­schie­de­nen Shore-Här­te­gra­den gefer­tigt wer­den kön­nen 6. Fer­ner bie­tet die­se Fer­ti­gungs­me­tho­dik die viel­fäl­tigs­ten Mani­pu­la­ti­ons­mög­lich­kei­ten, so dass der Berück­sich­ti­gung und Inte­gra­ti­on ver­schie­dens­ter kon­struk­ti­ver Zusät­ze im Pro­the­sen­schaft nichts im Wege stand.

Das Volu­men eines Ober­schen­kel­stump­fes ist nicht kon­stant. Durch Erkran­kun­gen, Gewichts­ab­nah­me oder bei sport­li­cher Akti­vi­tät kann sich eine Inkon­gru­enz zwi­schen Stumpf- und Schaft­auf­nah­me­vo­lu­men erge­ben – mit der Fol­ge, dass sich die Füh­rungs­ei­gen­schaf­ten deut­lich ver­schlech­tern. Das Air Cont­act Sys­tem (ACS) ermög­licht dem Pro­the­sen­trä­ger die Anpas­sung des Pro­the­sen­schaf­tes an die aktu­el­le Dimen­si­on des Stump­fes 3. Bei sport­li­cher Akti­vi­tät kann mit den Füll­kam­mern die Ver­bin­dung zwi­schen Stumpf und Schaft opti­miert wer­den, indem der Flä­chen­quer­schnitt varia­bel ein­ge­stellt wird. Genau genom­men haben die Luft­kam­mern einen ähn­li­chen Effekt und wur­den in der Pra­xis auch ähn­lich ange­ord­net wie die bereits erwähn­ten Sta­bi­li­sa­to­ren. Die ACS-Tech­no­lo­gie konn­te für das PBSS-Kon­zept zur PBSS-AIR-Sys­tem­kom­po­nen­te wei­ter­ent­wi­ckelt wer­den. Neu hier­bei ist, dass die Luft­kam­mern direkt in den HTV-Sili­kon-Kon­takt­schaft inte­griert wur­den und sich beim Auf­pum­pen form­kon­gru­ent zur Stumpf­form adap­tie­ren (Abb. 7).

Über die neue Metho­de der Form­er­fas­sung und des bio­ni­schen Designs hin­aus bie­tet das PBSS-Kon­zept inno­va­ti­ve Funk­ti­ons­sys­te­me an.

Das Pohli­therm-Ele­ment (Abb. 8) sorgt bio­sen­so­risch für ein kli­ma­tisch kom­for­ta­bles Tem­pe­ra­tur-Niveau, so dass sich der Stumpf, unab­hän­gig von der Außen­tem­pe­ra­tur, im Pro­the­sen­schaft wohl­füh­len kann. Es nutzt die Funk­ti­on eines Pel­tier-Ele­ments zur Wär­me-Erzeu­gung und wird zur geziel­ten Wär­me­ab­ga­be im Scar­pa-Drei­eck, exakt über der A. femo­ra­lis com­mu­nis, platziert.

Das Insti­tut für Phy­sio­lo­gie und Expe­ri­men­tel­le Patho­phy­sio­lo­gie der Uni­ver­si­tät Erlan­gen-Nürn­berg, Prof. Dr. Cle­mens Fors­ter, unter­such­te beglei­tend zu den Ent­wick­lungs­ar­bei­ten an den Schaft­kom­po­nen­ten, wel­che Wir­kung eine punkt­för­mi­ge Appli­ka­ti­on von kalo­ri­scher Wär­me im Bereich der Leis­te (über der Ober­schen­kel­arte­rie) auf die unte­re Extre­mi­tät ausübt.

Die Ergeb­nis­se wur­den von einer hoch­auf­lö­sen­den Ther­mo­gra­fie-Kame­ra gelie­fert. Die Resul­ta­te signa­li­sie­ren, dass die Sen­so­rik durch eine exter­ne Appli­ka­ti­on erfolg­reich mani­pu­liert wer­den kann.

Im eige­nen Haus erfolg­te neben wei­te­ren Unter­su­chun­gen zur Wir­kung der Pohli­therm-Tech­nik eine ärzt­lich beglei­te­te Fall­stu­die mit einem ober­schen­kel­am­pu­tier­ten männ­li­chen Pro­ban­den. Der Mess­vor­gang dau­er­te ins­ge­samt 18 Minu­ten, die sich zusam­men­setz­ten aus 8 Minu­ten Auf­heiz­pha­se und wei­te­ren 10 Minu­ten gere­gel­ter Wär­me­zu­fuhr zwi­schen 41 und 42 °C. Mit einem Infra­rot-Ther­mo­me­ter wur­den die Kör­per­tem­pe­ra­tu­ren vor und nach Been­di­gung der Wär­me­zu­fuhr an fol­gen­den Loka­li­sa­tio­nen ermittelt:

  • Mit­te Stumpf links medi­al 31,5 °C/34,2 °C
  • Mit­te Ober­schen­kel rechts medi­al 33,0 °C/33,0 °C
  • late­ra­les Stump­fen­de links 29,0 °C/31,5 °C
  • Knie­keh­le und Mit­te Unter­schen­kel rechts 31,0 °C/31,0 °C

Neben dem Ein­fluss der kli­ma­ti­schen Ver­hält­nis­se stel­len Stumpf- und Phan­tom­schmer­zen eben­falls eine zen­tra­le Pro­ble­ma­tik für ampu­tier­te Men­schen dar. Das PBSS-Port­sys­tem (Abb. 9) eröff­net den Ärz­ten neue Behand­lungs­op­tio­nen mit dem Ziel, Medi­ka­men­te nicht mehr sys­te­misch, son­dern nur noch lokal wir­kend ein­zu­set­zen, was zu einer deut­li­chen Reduk­ti­on von Schmerz­mit­teln wie z. B. Opi­aten füh­ren kann. Die kau­sa­le Schmerz­be­hand­lung wird sowohl medi­ka­men­tös via Ser­vices-Ports als auch durch die Inte­gra­ti­on von Kom­po­nen­ten der Tra­di­tio­nel­len Chi­ne­si­schen Medi­zin (TCM) mög­lich sein. Ent­lang von sog. Meri­dia­nen wer­den die im PBSS-Schaft imple­men­tier­ten Aku­pres­so­ren posi­tio­niert, die vom Anwen­der in vom Arzt fest­ge­leg­ten Inter­val­len manu­ell akti­viert wer­den. Zu jung sind jedoch noch die Erfah­run­gen und vor allem die Gestal­tungs­viel­falt der Aku­pres­so­ren­spots. Akti­vie­rungs­tie­fe und Här­te der Spots wer­den aktu­ell noch erprobt (Abb. 10).

Das PBSS-Kon­zept hat einen inter­dis­zi­pli­nä­ren Anspruch und sieht vor, die behan­deln­den Ärz­te sowie die The­ra­peu­ten aktiv in die pro­the­ti­sche Ver­sor­gung ein­zu­bin­den. Die dia­gnos­ti­schen sono­gra­fi­schen Infor­ma­tio­nen sind, das haben die bis­her mehr als 70 Ver­sor­gun­gen bestä­tigt, unver­zicht­bar. Die umfang­rei­che Daten­ba­sis mit ihren mul­ti­plen Ansprü­chen eröff­net neue Per­spek­ti­ven in der Bein­pro­the­sen­ver­sor­gung und ermu­tigt dazu, das Sys­tem wei­ter zu ver­fei­nern. Die erfri­schend posi­ti­ve Reso­nanz der mit PBSS ver­sorg­ten Pati­en­ten bestärkt uns, den ein­ge­schla­ge­nen Weg weiterzuverfolgen.

Die Autoren:
Micha­el Schä­fer, OTM
Kurt Poh­lig, OMM
Poh­lig GmbH Orthopädietechnik
Gra­ben­stät­ter Stra­ße 1
83278 Traun­stein
m.schaefer@pohlig.net

Begut­ach­te­ter Beitrag/Reviewed paper

Zita­ti­on
Schä­fer M, Poh­lig K. Das Poh­lig-Bio­nic-Socket-Sys­tem (PBSS) – Neue Per­spek­ti­ven bei der Pro­the­sen­ver­sor­gung nach Ober­schen­kel­am­pu­ta­ti­on. Ortho­pä­die Tech­nik, 2014; 65 (5): 62–68
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  2. Sabo­lich J. Con­tou­red Adduc­ted Tro­chan­te­ric-Con­trol­led Ali­gnment Method (CAT-CAM): Intro­duc­tion and Basic Prin­ci­ples. Cli­ni­cal Pro­sthe­tics & Ortho­tics, 1985; 9: 15–26
  3. Poh­lig K. Opti­mie­rung von Pro­the­sen­schäf­ten mit dem Air Cont­act Sys­tem (ACS). Medi­zi­nisch Ortho­pä­di­sche Tech­nik, 1994; 114 (6): 272–276
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  5. Alley R, Wil­liams TW, et al. Pro­sthe­tic sockets sta­bi­li­zed by alter­na­ting are­as of tis­sue com­pres­si­on and release. Jour­nal of Reha­bi­li­ta­ti­on Rese­arch & Deve­lo­p­ment, 2011; 48 (6): 679–696
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