Einleitung
Die Behandlung von adoleszenten idiopathischen Skoliosen (AIS) im Bereich von circa 20 bis 45 Grad nach Cobb mit modernen Korsetten ist gängige Praxis. Vorzugsweise kommen Derotationskorsette nach Chêneau/Rigo zum Einsatz. In Europa gilt dies als Goldstandard. Die hohe Wirksamkeit der Korsetttherapie wurde 2013 in einer international beachteten Studie von Weinstein et al. 1 belegt. In den letzten Jahren ist die Problematik der adulten Skoliose durch die gestiegene Lebenserwartung deutlich relevanter geworden: Im Gegensatz zur adoleszenten Skoliose, bei der eine Verringerung der Krümmungswerte und eine korrekte Lenkung des Wirbelsäulenwachstums absolute Priorität haben, steht bei der konservativen Behandlung der adulten Skoliose die Entlastung der Verkrümmung und eine Wiederherstellung der lotrechten Wirbelsäulenstatik im Vordergrund. Ziel der Versorgung ist es, einen schmerzfreien Zustand zu erreichen (Abb. 1). Von einer adulten Skoliose spricht man definitionsgemäß nach vollständigem Wachstumsabschluss mit klinisch relevanter Manifestation, meist nach der vierten Lebensdekade.
Es werden drei Typen von adulten Skoliosen beschrieben:
- Die primär degenerative Skoliose wird durch eine Degeneration der Bandscheiben verursacht, die dann zu asymmetrischer Lastverteilung der Wirbelsäule führt. Daraus resultiert eine Endlordosierung der Lendenwirbelsäule bis hin zur Kyphose.
- Die sekundär degenerative Skoliose entsteht durch strukturelle Knochenveränderungen wie Osteoporose und Osteochondrose oder nach asymmetrischer Schwächung, zum Beispiel nach Operationen.
- Die progressive idiopathische Skoliose hat sich aus einer adoleszenten idiopathischen Skoliose entwickelt. Die primär und die sekundär degenerative Skoliose werden auch als De-novo-Skoliose bezeichnet 2.
Symptome bei adulter Skoliose
Patienten mit adulter Skoliose leiden unter lumbalen Rückenschmerzen, oft schon bei kurzen Gehstrecken. Sie haben eine deutliche Fehlstatik mit drastischer Seitabweichung der Wirbelsäule und eine eingeschränkte pulmonale Kondition. Es kommt zu Fehlbelastungen der Rumpfmuskulatur und der unteren Extremität. Außerdem ist meistens die Statik in der sagittalen Ebene deutlich verändert und zeigt mit zunehmendem Fortschreiten der Skoliose ein nach vorn gebeugtes Gangbild, bis hin zur Kamptokormie, einer Haltungsanomalie in vorgebeugter Haltung 3. Die Prävalenz der adulten Skoliose wird mit mehr als 2,5 Prozent und deutlich darüber angegeben.
Evidenzbasierte Therapie der adulten Skoliose
Auf der Suche nach Studien zur konservativen Behandlung der adulten Skoliose mit Korsetten stößt man auf eine nur geringe Anzahl von Veröffentlichungen. Zu Beginn einer Therapie wird in der Literatur einheitlich als erster Schritt die Einleitung konservativer Maßnahmen empfohlen. Neben medikamentöser Behandlung werden Physiotherapie und eine Orthesenanpassung beschrieben 4.
Aus Frankreich stammen zwei Publikationen jüngeren Datums. Eine Studie untersuchte 271 Patienten mit einem Durchschnittsalter von 61,3 Jahren und einem durchschnittlichen Skoliosewinkel von 49,6 Grad nach Cobb 5. 38 Probanden wurden mit einem Korsett versorgt. Die Studie zeigt eine deutliche Verbesserung des Skoliosewertes, zumindest aber eine Verhinderung der Progredienz. Die zweite Studie schloss 739 Patienten über 17 Jahre ein, von denen alle mit einer Orthese und einem spezifischen Physioprogramm behandelt wurden. Art und Ausführung der Orthese wurden lediglich als zweischaliges Kunststoffkorsett nach Gipsabdruck beschrieben. Untersucht wurden Patienten mit einem Durchschnittsalter von 57 Jahren und einem durchschnittlichen Skoliosewinkel von 35,5 Grad 6. Als Ergebnis dieser Studie kann man ebenso zusammenfassen, dass die Behandlung mit einem korrigierenden Korsett und Physiotherapie das erste Mittel der Wahl vor einer Operation ist.
Ein Fallbeispiel von 2016 zeigt die wirkungsvolle Behandlung einer 37-jährigen Patientin mit Cobb-Winkeln von 56 Grad thorakal und 50 Grad lumbal in Deutschland. Das Korsett wird als korrigierendes „Gensingen Brace“, eine moderne Weiterentwicklung der Skolioseorthese, beschrieben 7. Zwei weitere Fallbeispiele befassen sich mit der softwaregestützten Fertigung von Korsetten bei adulten Skoliosen 8.
Adulte Skoliose als Begleiterkrankung
Die adulte Skoliose ist oft mit anderen Erkrankungen verbunden, die sich in der Beschwerdelage des Patienten durchaus als führend darstellen können. Krankheiten und Einschränkungen wie beispielsweise Parkinson, Osteoporose, Schrittmacher, Rollstühle oder Sondenzugänge erfordern individuelle Lösungen durch die Orthopädie-Technik, die sich meistens umsetzen lassen 9. Patienten mit einem Korrekturkorsett berichten von einer Entlastung oft nur beim Tragen des Korsetts während alltäglicher Tätigkeiten und auch nur stundenweise. Die Tragedauer ist grundsätzlich geringer als bei einer idiopathischen adoleszenten Skoliose, bei der das Korsett wachstumslenkend 23 Stunden pro Tag getragen werden muss. Ein begrenzender Umstand ist oft die schon sehr rigide Skoliose, die keine vollständige Korrektur mehr zulässt. Hier gilt es einen für den Patienten gangbaren Weg zu erarbeiten (Abb. 2a u. b).
Erfahrungen
Der Autor hat mittlerweile Erfahrungen mit 17 Versorgungen bei adulter Skoliose in unterschiedlichster Ausprägung gesammelt. Die Progredienz mancher Patienten ließ sich zunächst für einige Jahre aufhalten, bei vielen geriet die adulte Skoliose durch das Fortschreiten der Begleiterkrankung deutlich in den Hintergrund. Andere Patienten profitieren wiederum in hohem Lebensalter immer noch von der Therapie mit einem korrigierenden Korsett und angepasster Physiotherapie. Die Korsettversorgung der adulten Skoliose dient der Symptomreduktion.
Korsettanpassung
Der Autor bevorzugt individuell nach Gipsabdruck gefertigte Korrekturkorsette in Anlehnung an die Konstruktionsparameter von Chêneau/Rigo 10 11. Durch eine möglichst lotrechte Korrektur der skoliotisch verformten Wirbelsäule und der dadurch entstandenen Rumpfüberhänge soll die Orthese für den Patienten eine deutliche Schmerzreduktion erreichen. Dies wird durch gezielte Druckzonen und korrespondierende Freiräume im Sinne einer Skoliose-Korrekturorthese umgesetzt (Abb. 3a–c). Ein wichtiges Detail dieser Korsette steht bei der adulten Skoliose allerdings nicht im Vordergrund: die Derotation der Wirbelsäule durch entsprechend konstruierte Druckzonen in der Orthese. Das Korsett wird nach einem Gipsabdruck vom stehenden Patienten angefertigt. Um ein optimales Ergebnis zu erreichen, sollte man möglichst in entlasteter, aufrechter Positionierung gipsen. Hilfreich ist eine direkt vor dem Gipstermin durchgeführte Physiotherapie oder, noch besser, eine Unterstützung während des Gipsabdruckes durch einen Physiotherapeuten.
Das Korsett wird aus thermoplastisch verformbarem Polyethylen gefertigt. Dieses Material kann ausreichend dünn gewählt werden und trotzdem die nicht geringen Kräfte zur Korrektur flächig auf den Patienten übertragen. Nach mehreren Anproben wird das Korsett an den Hauptdruckzonen mit weichen Materialien gepolstert. Das Korsett ist einteilig gefertigt und wird frontal mittels Unterleglasche und Klettriemen verschlossen. Wichtig ist eine sorgfältig abgestimmte Fensterung der Orthese, um die Stabilität nicht zu gefährden und eine maximale Luftzirkulation zu erreichen.
Korsett tragen
Das Korsett wird idealerweise auf einem speziellen Korsettshirt getragen, welches dünn, nahtfrei, dehnbar und schweißtransportierend ist. Das Anziehen der Orthese sollte dem Patienten selbstständig gelingen. Hilfreich ist ein endgültiges Verschließen des Korsetts bis zur optimalen Korrektur der Fehlhaltung im Liegen: So lassen sich wirkungsvoll vertikale Kräfte aufheben. Nach einer Eingewöhnungszeit von wenigen Tagen kann eine Tragedauer von vier bis acht Stunden erreicht werden.
Therapieevaluation
Als Therapieerfolg sind eine Verhinderung der Progredienz und eine reduzierte Schmerzsymptomatik der adulten Skoliose anzusehen. Eine Aufrichtung der Wirbelsäulenstatik kann verlorene Mobilität wiederherstellen oder erhalten. Die beschriebene Wirkungsweise muss von allen Beteiligten im Versorgungsteam verstanden werden.
Kostenfaktor
Von Kostenträgern und deren Gutachtern wird die Behandlung mit lediglich fixierenden Rahmenstützkorsetten oder Leibbinden aus Kostengründen favorisiert beziehungsweise als medizinisch ausreichend erachtet (Abb. 4a u. b). Keinesfalls können Fertigprodukte bei der Versorgung dieser Patienten eine zufriedenstellende Lösung sein. Wegen der noch dünnen Studienlage ist eine Argumentation in solchen Fällen mühsam und selbst über Sozialgerichtsurteile nicht immer zu erreichen.
Fazit
Das Behandlerteam sollte dem Patienten realistische Versorgungsziele kommunizieren, um keine falschen Erwartungen und anschließende Therapiefrustration zu provozieren. Dies setzt bei Physiotherapeuten und verordnenden Ärzten viel Erfahrung in der konservativen Behandlung von Skoliosen voraus. Auch der Orthopädie-Techniker sollte über große Erfahrung in der Versorgung von Skoliosen im Allgemeinen und der adulten Skoliose im Besonderen verfügen. Diese Erfahrung sollte in den Dialog mit Patient, Facharzt und Kostenträger eingebracht werden. Inadäquat sind Fertigorthesen oder lediglich fixierende und bettende Rumpforthesen, die nicht korrigieren können und letztendlich nur den Stand der Orthopädie-Technik der vergangenen Jahrzehnte widerspiegeln. Ein gut angepasstes, individuelles und modernes Korrekturkorsett ist wirksam und kann dem Patienten zu einem schmerzfreieren Alltag mit erhöhter Mobilität verhelfen.
Zuerst abgedruckt in: PT – Zeitschrift für Physiotherapeuten, 2017; 69 (4): 48–52
Der Autor:
Rainer Hilker, OTM
Am Hasenberg 8
23701 Bujendorf
r.hilker1@freenet.de
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