Ein­füh­rung in die ICF – ICF in der Theorie

A. Seidel
Die International Classification of Functioning, Disability and Health (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, ICF) ist eine Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie basiert auf einem bio-psycho-sozialen Modell und versteht Behinderung als Interaktion zwischen einer Person und ihrer Umwelt. Mit der ICF können die bio-psycho-sozialen Aspekte von Krankheitsfolgen unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren systematisch erfasst werden. Sie stellt eine gemeinsame Sprache für die Beschreibung des Gesundheitszustands zur Verfügung, um die Kommunikation zwischen verschiedenen Benutzern zu verbessern. In der ICF wird somit ein systematisches Kodierungssystem für die Beschreibung von Gesundheit bereitgestellt.

Hin­ter­grund

Die ICF, die 2001 von den Mit­glieds­staa­ten der WHO rati­fi­ziert wur­de, gehört zur „Fami­lie” von Klas­si­fi­ka­tio­nen der WHO für die Anwen­dung auf ver­schie­de­ne Aspek­te der mensch­li­chen Gesund­heit 1 2. Die ICF-CY als Ver­si­on für Kin­der („child­ren”) und Jugend­li­che („youth”) wur­de 2007 ver­ab­schie­det und liegt in der deut­schen Über­set­zung seit 2011 vor 3 4. Im Fol­gen­den wird für bei­de Klas­si­fi­ka­tio­nen die Abkür­zung ICF verwendet.

Die ICF soll eine gemein­sa­me und dis­zi­pli­nen­über­grei­fen­de Spra­che für die Beschrei­bung des Gesund­heits­zu­stan­des und der mit Gesund­heit zusam­men­hän­gen­den Zustän­de zur Ver­fü­gung stel­len, um die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen ver­schie­de­nen Benut­zern, wie Fach­leu­ten aus dem Gesund­heits­we­sen, aus der Päd­ago­gik, aus der Jugend- und Sozi­al­hil­fe, For­schern, Poli­ti­kern und der Öffent­lich­keit ein­schließ­lich Men­schen mit Behin­de­run­gen und deren Ange­hö­ri­gen, zu ver­bes­sern. Dabei wird der Fokus bei der Beur­tei­lung des Gesund­heits­zu­stan­des eines Men­schen auf des­sen mög­li­che oder beein­träch­tig­te Teil­ha­be am Leben in der Gemein­schaft und auf mög­li­che Ein­schrän­kun­gen bzw. Res­sour­cen im Bereich der Kon­text­fak­to­ren gelegt 2 4. Die prak­ti­sche Bedeu­tung einer Nut­zung der ICF wird auch dadurch deut­lich, dass die Ter­mi­no­lo­gie der ICF in der deut­schen Sozi­al­ge­setz­ge­bung, im Teil­ha­be­be­richt oder im neu­en Teil­ha­be­ge­setz benutzt wird 5 6 7. Im Fach­be­reich Ortho­pä­die wird die ICF bei Kin­dern, Jugend­li­chen und Erwach­se­nen zuneh­mend in der Kli­nik und Reha­bi­li­ta­ti­on genutzt 8 9 10 11.

Krank­hei­ten, Gesund­heits­stö­run­gen und Ver­let­zun­gen wer­den inner­halb der Inter­na­tio­na­len Klas­si­fi­ka­tio­nen der WHO haupt­säch­lich in der ICD-10 (Kurz­be­zeich­nung für die Inter­na­tio­na­le Klas­si­fi­ka­ti­on der Krank­hei­ten, 10. Revi­si­on) klas­si­fi­ziert, die einen ätio­lo­gi­schen Rah­men lie­fert 12. Funk­ti­ons­fä­hig­keit und Behin­de­rung, ver­bun­den mit einem Gesund­heits­pro­blem, sind in der ICF klas­si­fi­ziert. Des­halb ergän­zen die ICD-10 und die ICF ein­an­der 13 (Tab. 1).

Funk­ti­ons­fä­hig­keit ist ein Ober­be­griff in der ICF, der alle Kör­per­funk­tio­nen und Akti­vi­tä­ten sowie Par­ti­zi­pa­ti­on (Teil­ha­be) umfasst; ent­spre­chend dient „Behin­de­rung” als Ober­be­griff für Schä­di­gun­gen, Beein­träch­ti­gun­gen der Akti­vi­tät und Beein­träch­ti­gung der Par­ti­zi­pa­ti­on. Die ICF lis­tet dar­über hin­aus Umwelt­fak­to­ren auf, die den Lebens­hin­ter­grund von Men­schen beschrei­ben und mit den genann­ten Kon­struk­ten in Wech­sel­wir­kung ste­hen 1 3.

Zie­le der ICF

Die ICF wur­de von der WHO als Mehr­zweck­klas­si­fi­ka­ti­on für ver­schie­de­ne Dis­zi­pli­nen und Anwen­dungs­be­rei­che ent­wi­ckelt 1 3. Die spe­zi­fi­schen Zie­le, die auch mit­ein­an­der in Bezie­hung ste­hen, wer­den wie folgt benannt:

  • ICF lie­fert eine wis­sen­schaft­li­che Grund­la­ge für das Ver­ste­hen und das Stu­di­um des Gesund­heits­zu­stands und der mit Gesund­heit zusam­men­hän­gen­den Zustän­de, der Ergeb­nis­se und der Determinanten;
  • sie stellt eine gemein­sa­me Spra­che für die Beschrei­bung des Gesund­heits­zu­stands und der mit Gesund­heit zusam­men­hän­gen­den Zustän­de zur Ver­fü­gung, um die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen ver­schie­de­nen Benut­zern zu verbessern;
  • sie ermög­licht Daten­ver­glei­che zwi­schen Län­dern, Dis­zi­pli­nen im Gesund­heits­we­sen, Gesund­heits­diens­ten sowie im Zeitverlauf;
  • sie stellt ein sys­te­ma­ti­sches Ver­schlüs­se­lungs­sys­tem für Gesund­heits­in­for­ma­ti­ons­sys­te­me bereit.

Eigen­schaf­ten der ICF

Die ICF ist uni­ver­sell anwend­bar. Sie umfasst alle Aspek­te der mensch­li­chen Gesund­heit sowie eini­ge gesund­heits­re­le­van­te Kom­po­nen­ten des Wohl­be­fin­dens und beschreibt die­se in Form von Gesund­heits­do­mä­nen und mit Gesund­heit zusam­men­hän­gen­den Domä­nen. Bei­spie­le für Gesund­heits­do­mä­nen sind Sehen, Hören, Gehen, Ler­nen und Sicherin­nern; sol­che für mit Gesund­heit zusam­men­hän­gen­de Domä­nen sind Trans­port, Bildung/Ausbildung oder sozia­le Inter­ak­tio­nen 1 3. Die ICF klas­si­fi­ziert nicht Per­so­nen, son­dern sie lie­fert eine Beschrei­bung von Situa­tio­nen bezüg­lich mensch­li­cher Funk­ti­ons­fä­hig­keit und ihrer Beein­träch­ti­gun­gen und dient als Orga­ni­sa­ti­ons­rah­men die­ser Infor­ma­tio­nen 13.

Über­blick über die Kom­po­nen­ten der ICF

In der ICF wer­den Infor­ma­tio­nen in zwei Tei­le geglie­dert (Tab. 2). Der eine Teil befasst sich mit Funk­ti­ons­fä­hig­keit und Behin­de­rung, der ande­re Teil umfasst die Kon­text­fak­to­ren (Umwelt­fak­to­ren und per­so­nen­be­zo­ge­ne Fak­to­ren) 1 3 13.

Kom­po­nen­ten der Funk­ti­ons­fä­hig­keit und Behinderung

Hier­zu gehö­ren die Kör­per­funk­tio­nen und ‑struk­tu­ren sowie die Akti­vi­tä­ten und die Par­ti­zi­pa­ti­on (Teil­ha­be). Kör­per­funk­tio­nen sind die phy­sio­lo­gi­schen Funk­tio­nen von Kör­per­sys­te­men und wer­den in der ICF in 8 Kapi­teln aufgeführt:

  1. Men­ta­le Funktionen
  2. Sin­nes­funk­tio­nen und Schmerz
  3. Stimm- und Sprechfunktionen
  4. Funk­tio­nen des kar­dio­vas­ku­lä­ren, häma­to­lo­gi­schen, Immun- und Atmungssystems
  5. Funk­tio­nen des Verdauungs‑, des Stoff­wech­sel- und des endo­kri­nen Systems
  6. Funk­tio­nen des Uro­ge­ni­tal- und repro­duk­ti­ven Systems
  7. Neu­ro­mus­ku­los­ke­letta­le und bewe­gungs­be­zo­ge­ne Funktionen
  8. Funk­tio­nen der Haut und der Hautanhangsgebilde

Kör­per­struk­tu­ren sind ana­to­mi­sche Tei­le des Kör­pers, wie Orga­ne, Glied­ma­ßen und ihre Bestand­tei­le. In der ICF wer­den die­se in 8 Kapi­teln differenziert:

  1. Struk­tu­ren des Nervensystems
  2. Das Auge, das Ohr und mit die­sen in Zusam­men­hang ste­hen­de Strukturen
  3. Struk­tu­ren, die an der Stim­me und dem Spre­chen betei­ligt sind
  4. Struk­tu­ren des kar­dio­vas­ku­lä­ren, des Immun- und des Atmungssystems
  5. Mit dem Verdauungs‑, Stoff­wech­sel- und endo­kri­nen Sys­tem in Zusam­men­hang ste­hen­de Strukturen
  6. Mit dem Uro­ge­ni­tal- und dem Repro­duk­ti­ons­sys­tem in Zusam­men­hang ste­hen­de Strukturen
  7. Mit der Bewe­gung in Zusam­men­hang ste­hen­de Strukturen
  8. Struk­tu­ren der Haut und Hautanhangsgebilde

Schä­di­gun­gen sind Beein­träch­ti­gun­gen einer Kör­per­funk­ti­on oder ‑struk­tur, wie z. B. eine wesent­li­che Abwei­chung oder ein Ver­lust. Als Akti­vi­tät wird die Durch­füh­rung einer Auf­ga­be oder Hand­lung durch einen Men­schen bezeich­net. Par­ti­zi­pa­ti­on (Teil­ha­be) beschreibt das Ein­be­zo­gen­sein in eine Lebens­si­tua­ti­on. Die Klas­si­fi­ka­ti­on der Akti­vi­tä­ten und Par­ti­zi­pa­ti­on (Teil­ha­be) erfolgt gemein­sam in 9 Kapiteln:

  1. Ler­nen und Wissensanwendung
  2. All­ge­mei­ne Auf­ga­ben und Anforderungen
  3. Kom­mu­ni­ka­ti­on
  4. Mobi­li­tät
  5. Selbst­ver­sor­gung
  6. Häus­li­ches Leben
  7. Inter­per­so­nel­le Inter­ak­tio­nen und Beziehungen
  8. Bedeu­ten­de Lebensbereiche
  9. Gemeinschafts‑, sozia­les und staats­bür­ger­li­ches Leben

Beein­träch­ti­gun­gen der Akti­vi­tät sind Schwie­rig­kei­ten, die ein Mensch bei der Durch­füh­rung einer Akti­vi­tät haben kann. Beein­träch­ti­gun­gen der Par­ti­zi­pa­ti­on (der Teil­ha­be) sind Pro­ble­me, die ein Mensch beim Ein­be­zo­gen­sein in eine Lebens­si­tua­ti­on erlebt.

Die ver­schie­de­nen Lebens­be­rei­che (Domä­nen) der Kom­po­nen­te „Akti­vi­tä­ten und Par­ti­zi­pa­ti­on” sind in einer ein­zi­gen Lis­te ent­hal­ten, die alle Lebens­be­rei­che umfasst. Es bedarf wei­te­rer ope­ra­tio­na­ler Regeln, um zwi­schen Akti­vi­tä­ten und Par­ti­zi­pa­ti­on (Teil­ha­be) auf der Grund­la­ge der Domä­nen der Akti­vi­tä­ten- und Par­ti­zi­pa­ti­ons­kom­po­nen­te zu unter­schei­den 1 3 13.

Akti­vi­tä­ten wer­den näher bestimmt durch die Beur­tei­lungs­merk­ma­le für Leis­tung („per­for­mance”) und für Leis­tungs­fä­hig­keit („capa­ci­ty”). Das Beur­tei­lungs­merk­mal für Leis­tung beschreibt, was ein Mensch in sei­ner gegen­wär­ti­gen, tat­säch­li­chen Umwelt tut (Beob­ach­tungs­ebe­ne). Die­se Leis­tung ist somit durch den sozia­len Kon­text und ande­re Umwelt­fak­to­ren mit­be­stimmt. Das Beur­tei­lungs­merk­mal der Leis­tungs­fä­hig­keit beschreibt die Fähig­keit eines Men­schen, eine Auf­ga­be oder eine Hand­lung „in einer stan­dar­di­sier­ten Umwelt” durch­zu­füh­ren, um dabei das höchst­mög­li­che Niveau der Funk­ti­ons­fä­hig­keit zu beschrei­ben (Kon­strukt­ebe­ne). Die Beur­tei­lungs­merk­ma­le der Leis­tungs­fä­hig­keit und Leis­tung kön­nen sowohl unter Berück­sich­ti­gung von Hilfs­mit­teln oder per­so­nel­ler Assis­tenz als auch ohne deren Berück­sich­ti­gung ver­wen­det wer­den 1 3 13.

Kom­po­nen­ten der Kontextfaktoren

Hier­zu zäh­len die Umwelt­fak­to­ren sowie die per­so­nen­be­zo­ge­nen Fak­to­ren. Umwelt­fak­to­ren bil­den die mate­ri­el­le, sozia­le und ein­stel­lungs­be­zo­ge­ne Umwelt ab, in der Men­schen leben und ihr Dasein ent­fal­ten. Sie wer­den in der ICF in 5 Kapi­teln dargestellt:

  1. Pro­duk­te und Technologien
  2. Natür­li­che und vom Men­schen ver­än­der­te Umwelt
  3. Unter­stüt­zung und Beziehungen
  4. Ein­stel­lun­gen
  5. Diens­te, Sys­te­me und Handlungsgrundsätze

Als „För­der­fak­tor” sol­len posi­tiv wir­ken­de Fak­to­ren beschrie­ben wer­den, nega­tiv wir­ken­de Fak­to­ren sol­len als „Bar­rie­ren” bezeich­net wer­den. Per­son­be­zo­ge­ne Fak­to­ren beschrei­ben Ein­flüs­se von Merk­ma­len einer Per­son und wer­den, anders als die ande­ren Kom­po­nen­ten der ICF, nicht kodiert 1 3 13.

Modell der Funk­ti­ons­fä­hig­keit und Behinderung

Um die ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven der Funk­ti­ons­fä­hig­keit zu inte­grie­ren, wird in der ICF ein „bio-psycho-sozia­ler” Ansatz ver­wen­det. Damit wer­den die ein­ge­schränk­ten Sicht­wei­sen eines bio­me­di­zi­ni­schen oder sozia­len Kon­zep­tes oder Modells von Krank­heit und Behin­de­rung über­wun­den. Dies ermög­licht eine kohä­ren­te Sicht der ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven von Gesund­heit auf bio­lo­gi­scher, indi­vi­du­el­ler und sozia­ler Ebe­ne 1 3 9 13.

In Abbil­dung 1 ist die Funk­ti­ons­fä­hig­keit eines Men­schen in einer spe­zi­fi­schen Domä­ne als Wech­sel­wir­kung oder kom­ple­xe Bezie­hung zwi­schen Gesund­heits­pro­blem und Kon­text­fak­to­ren (d. h. Umwelt­fak­to­ren und per­son­be­zo­ge­ne Fak­to­ren) dar­ge­stellt 1 3. Die Wech­sel­wir­kun­gen wir­ken in zwei Rich­tun­gen. Somit besteht eine dyna­mi­sche Wech­sel­wir­kung zwi­schen die­sen Grö­ßen. Inter­ven­tio­nen bezüg­lich einer Grö­ße kön­nen eine oder meh­re­re der ande­ren Grö­ßen ver­än­dern. Es ist des­halb bedeut­sam, Daten über die ver­schie­de­nen Kon­struk­te der ICF unab­hän­gig von­ein­an­der zu erhe­ben und anschlie­ßend Zusam­men­hän­ge und kau­sa­le Ver­knüp­fun­gen zwi­schen ihnen zu unter­su­chen 1 3 13.

Die ICF lie­fert einen mehr­per­spek­ti­vi­schen Zugang zu Funk­ti­ons­fä­hig­keit und Behin­de­rung im Sin­ne eines inter­ak­ti­ven und sich ent­wi­ckeln­den Pro­zes­ses. Um die­se Inter­ak­ti­on zwi­schen den ver­schie­de­nen Kom­po­nen­ten leich­ter erfass­bar zu machen, kön­nen deren kom­ple­xe und dyna­mi­sche Wech­sel­wir­kun­gen im bio-psy­cho­so­zia­len Modell der ICF betrach­tet wer­den (sie­he Abb. 1).

Die Begrif­fe „Funk­ti­ons­fä­hig­keit” und „Behin­de­rung” sind die für das Ver­ständ­nis der ICF wich­tigs­ten und kom­ple­xes­ten Begrif­fe 1 3 13.

Der Begriff der Funk­ti­ons­fä­hig­keit eines Men­schen umfasst alle Aspek­te der funk­tio­na­len Gesund­heit. Eine Per­son ist funk­tio­nal gesund, wenn (vor dem Hin­ter­grund ihrer Kontextfaktoren)

  • ihre kör­per­li­chen Funk­tio­nen (ein­schließ­lich des men­ta­len Bereichs) und Kör­per­struk­tu­ren denen eines gesun­den Men­schen ent­spre­chen (Kon­zep­te der Kör­per­funk­tio­nen und ‑struk­tu­ren),
  • sie all das tut oder tun kann, was von einem Men­schen ohne Gesund­heits­pro­blem (ICD) erwar­tet wird (Kon­zept der Aktivitäten),
  • sie ihr Dasein in allen Lebens­be­rei­chen, die ihr wich­tig sind, in der Wei­se und dem Umfang ent­fal­ten kann, wie es von einem Men­schen ohne gesund­heits­be­ding­te Beein­träch­ti­gung der Kör­per­funk­tio­nen oder ‑struk­tu­ren oder der Akti­vi­tä­ten erwar­tet wird (Kon­zept der Partizipation/Teilhabe an Lebensbereichen).

Behin­de­rung ist nach der Defi­ni­ti­on der ICF das Ergeb­nis der nega­ti­ven Wech­sel­be­zie­hung zwi­schen einer Per­son mit einem Gesund­heits­pro­blem (nach ICD) und ihren Kon­text­fak­to­ren auf ihre funk­tio­na­le Gesund­heit. Behin­de­rung kann damit nicht mehr allein in einem kau­sa­len Zusam­men­hang mit der gesund­heit­li­chen Ein­schrän­kung (zum Bei­spiel einer Dia­gno­se nach ICD-10) eines Men­schen gese­hen wer­den. Der Behin­de­rungs­be­griff der ICF ist der Ober­be­griff für jede Beein­träch­ti­gung der Funk­ti­ons­fä­hig­keit eines Men­schen 1 3 13. Er ist damit umfas­sen­der als der Behin­de­rungs­be­griff des SGB IX. Um Miss­ver­ständ­nis­se zu ver­mei­den, soll­te im Sozi­al­be­reich in Deutsch­land nur der Behin­de­rungs­be­griff des SGB IX ver­wen­det wer­den 14.

Im bio-psycho-sozia­len Modell der ICF ist die Rol­le der Kon­text­fak­to­ren beson­ders deut­lich (sie­he Abb. 1). Auch die Bun­des­re­gie­rung wies mit der Kam­pa­gne „Behin­dern ist heil­bar” im Natio­na­len Akti­ons­plan von 2011 auf die Bedeu­tung von Umwelt­fak­to­ren hin 6. Die Kon­text­fak­to­ren ste­hen in Wech­sel­wir­kung mit dem Men­schen mit einem Gesund­heits­pro­blem und bestim­men das Aus­maß der Funk­ti­ons­fä­hig­keit die­ses Men­schen. Umwelt­fak­to­ren lie­gen außer­halb des Indi­vi­du­ums (z. B. die Ein­stel­lun­gen der Gesell­schaft, Cha­rak­te­ris­ti­ka der Archi­tek­tur, das Rechts­sys­tem) und sind in der Klas­si­fi­ka­ti­on der Umwelt­fak­to­ren auf­ge­lis­tet. Per­son­be­zo­ge­ne Fak­to­ren hin­ge­gen sind bis­lang in der ICF nicht klas­si­fi­ziert. Zu ihnen gehö­ren Geschlecht, eth­ni­sche Her­kunft, Alter, Fit­ness, Lebens­stil, Gewohn­hei­ten, Bewäl­ti­gungs­sti­le und ande­re der­ar­ti­ge Fak­to­ren 1 3. Es wird jedoch (auch in Deutsch­land) dar­über dis­ku­tiert, ob eine Kodie­rung von per­son­be­zo­ge­nen Fak­to­ren erfol­gen kann oder soll­te 15.

Gebrauch der ICF

Der Gesund­heits­zu­stand und die mit Gesund­heit zusam­men­hän­gen­den Zustän­de einer Per­son wer­den in der ICF in einer Rei­he von Kodes abge­bil­det, wel­che die bei­den Tei­le der Klas­si­fi­ka­ti­on umfas­sen. Dabei wird ein alpha­nu­me­ri­sches Sys­tem benutzt, bei dem die Buch­sta­ben „b” für Kör­per­funk­tio­nen („body func­tions”), „s” für Kör­per­struk­tu­ren („body struc­tures”), „d” für Akti­vi­tä­ten und Partizipation/Teilhabe („life domains”) sowie „e” für Umwelt­fak­to­ren („envi­ron­men­tal fac­tors”) ver­wen­det wer­den. Jedem Buch­sta­ben folgt ein nume­ri­scher Kode, der mit der Kapi­tel­num­mer (eine Zif­fer) beginnt, gefolgt von der zwei­ten Glie­de­rungs­ebe­ne (zwei­ziff­rig) sowie der drit­ten und vier­ten Ebe­ne (jeweils ein­ziff­rig). Die­se Kodes kön­nen durch Beur­tei­lungs­merk­ma­le ergänzt wer­den 1 3 13. Das ers­te Beur­tei­lungs­merk­mal soll für alle kodier­ten Kom­po­nen­ten das Aus­maß von Pro­ble­men beschrei­ben (Tab. 3).

Ein Bei­spiel für eine sol­che Kodie­rung: Schmerz ist in der ICF mit b280 kodiert. Rücken­schmer­zen wer­den durch den (wei­ter dif­fe­ren­zier­ten) alpha­nu­me­ri­schen Code b28013 beschrie­ben (lt. ICF: „Emp­fin­den eines unan­ge­neh­men Gefühls, das mög­li­che oder tat­säch­li­che Schä­den einer Kör­per­struk­tur anzeigt, im Rücken”). Bei einem Pati­en­ten mit Lum­ba­go wer­den Rücken­schmer­zen mit erheb­li­cher Aus­prä­gung mit dem ers­ten Beur­tei­lungs­merk­mal („Qua­li­fier”) dann durch b28013.3 kodiert.

Eine exak­te und „objek­ti­ve” Abgren­zung auf der 5‑stufigen Ska­la ­(0–4) für die Schwe­re­gra­de von „Pro­blem nicht vor­han­den” bis „Pro­blem voll aus­ge­prägt” ist nicht immer ein­deu­tig mög­lich. Der Wunsch nach einer ein­heit­li­chen Ope­ra­tio­na­li­sie­rung bedarf mög­li­cher­wei­se einer ein­deu­ti­ge­ren Ska­lie­rung für eine rou­ti­ne­mä­ßi­ge Anwen­dung 13 14.

Die maxi­ma­le Zahl von Kodes ist pro Per­son auf der ein­ziff­ri­gen Ebe­ne (ers­te Glie­de­rungs­stu­fe) gleich 34 (jeweils 8 Kodes für Kör­per­funk­tio­nen und für Kör­per­struk­tu­ren, 9 für Leis­tung und 9 für Leis­tungs­fä­hig­keit). Auf der drei­ziff­ri­gen Ebe­ne (zwei­te Glie­de­rungs­stu­fe) ist die Gesamt­zahl der Kodes gleich 362. Auf den stär­ker detail­lier­ten Glie­de­rungs­stu­fen kann die Gesamt­zahl der Kodes bis auf 1424 anwach­sen. Eine voll­stän­di­ge Kodie­rung mit­tels ICF ist im Arbeits­all­tag nicht ange­mes­sen und auch nicht zu leis­ten. In der prak­ti­schen Anwen­dung der ICF dürf­te eine Kode­zahl von 3 bis 18 für die Beschrei­bung eines Fal­les mit der Genau­ig­keit der zwei­ten Glie­de­rungs­stu­fe (drei­ziff­rig) aus­rei­chend sein. All­ge­mein ist die stär­ker detail­lier­te Vier-Ebe­nen-Ver­si­on für spe­zi­el­le Diens­te (z. B. Reha­bi­li­ta­ti­ons­er­geb­nis­se, Ger­ia­trie) vor­ge­se­hen, wäh­rend die Zwei-Ebe­nen-Klas­si­fi­ka­ti­on für Erhe­bun­gen und Ergeb­nis­eva­lua­ti­on im Kran­ken­haus­be­reich ver­wen­det wer­den kann. Bei der täg­li­chen Arbeit und ins­be­son­de­re der Kodie­rung mit der ICF ist die All­tags­taug­lich­keit immer im Blick zu behal­ten, da auch nach Ein­ar­bei­tung und rou­ti­ne­mä­ßi­ger Anwen­dung die­ser Klas­si­fi­ka­ti­on ins­be­son­de­re die Doku­men­ta­ti­on einen erhöh­ten Zeit­be­darf für die Anwen­der dar­stellt 1 3 13 14.

Die Kodie­rung soll aus der Sicht der Per­son erfol­gen, deren Situa­ti­on beschrie­ben wird. Ein wich­ti­ges Ziel der ICF ist es, die Aus­kunfts­per­son mit ein­zu­be­zie­hen in die Fest­stel­lung der Art und des Aus­ma­ßes ihrer Funk­ti­ons­fä­hig­keit im Kon­text ihrer Umwelt. Dies ist ins­be­son­de­re bei der Kodie­rung von Par­ti­zi­pa­ti­on wich­tig. Bei sehr jun­gen Kin­dern und bei Kin­dern mit ein­ge­schränk­ter sprach­li­cher Aus­drucks­fä­hig­keit kön­nen pri­mä­re Bezugs­per­so­nen stell­ver­tre­tend ant­wor­ten 2 4 14.

Wei­te­re Kodie­rungs­leit­li­ni­en wer­den im Anhang der ICF aus­führ­lich beschrie­ben. Für die Anwen­dung der ICF wird von der WHO eine Schu­lung emp­foh­len 1 3 13.

Der Autor:
Prof. Dr. med. Andre­as Seidel
Pro­fes­sor für Sozialpädiatrie
Fach­arzt für Kin­der- und Jugendmedizin/Neuropädiatrie
Hoch­schu­le Nordhausen
Wein­berg­hof 4
99734 Nord­hau­sen
Seidel@fh-nordhausen.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
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