Mit unterhaltsamen Einblicken in sein Leben, seine Reisen und seine sportlichen Erfolge eröffnete Heinz Frei, vielfacher Weltmeister und Para-Olympiasieger, die Konferenz am Freitag. Der Pionier des Schweizer Rollstuhlsports zog mit seinem erfrischenden Bericht die Zuhörer:innen direkt in seinen Bann und machte deutlich, wie wichtig das „gute“ Sitzen ist. Denn: Alle Aktivitäten gehen nur, wenn kein Dekubitus den Menschen im Rollstuhl davon abhält. Dass junge Erwachsene andere Ansprüche an ihre Rollstühle haben, erläuterte Inge Eriks Hoogland, Leitende Ärztin Paraplegiologie, SPZ Nottwil, im Anschluss. Mittels der Kriterien des Persönlichkeitsmodells „The Big Five“ stellte die Ärztin praxisnah dar, worauf es jungen Menschen bei der Wahl des richtigen Rollstuhls ankommt: Der muss schick aussehen, vielleicht durch rosa Räder oder einen besonderen Reifenschutz begeistern, aber gleichzeitig wegen der hohen Mobilität junger Erwachsener sehr belastbar sei. Danach erläuterte Bart van der Heyden, Physiotherapeut aus Belgien, kurz, wie er die „Ishear-Messmatte“ von Vicair in seinem Arbeitsalltag einsetzt, nämlich zum Visualisieren von Scherkräften. Das Problem sei dabei weiterhin, wie man die Daten optimal in die Versorgung mit einbinden könne.
Dekubitus mit neuen Technologien verhindern
„Entlasten lassen – ein automatisiertes Kissen macht es möglich. Vom Konzept zum Prototyp“: Schon der Titel versprach Innovation und die Zuhörer:innen wurden nicht enttäuscht. Seit Jahren arbeitet das Team um Uwe Schonhardt, Stv. Leitung Ergotherapie und Fachbereichsleiter Querschnitt, Rehab Basel, an diesem Projekt. Angetrieben wird er dabei von dem Gedanken, dass es seiner Ansicht nach heutzutage nicht mehr sein kann, dass Menschen im Rollstuhl nicht unbekümmert leben können, sondern immer daran denken müssen, sich regelmäßig zu entlasten, um einen Dekubitus zu vermeiden. Dank seines Vortrags gewannen die Zuhörer:innen einen guten Eindruck davon, wie vielversprechend dieses Kissen – sollte es seine Erwartungen erfüllen – sein könnte. Ein spannender Impuls, der deshalb auch viele Fragen des Auditoriums nach sich zog. Die Präsentation eines Feedbacksystems für Rollstuhlfahrer des Herstellers Sensomative GmbH, bei dem die „Sensomative Matte“ mit einer App verbunden ist, rundete seine Ausführungen ab.
Im Anschluss stellte Stephan Mausen, Inhaber Sitz-Kultur, in seinem Vortrag „EINE Rückenschale für ALLE Fälle“ eine neuartige Form einer Rückenschale aus Carbonlamellen und einem besonderen Schaumstoffausbau vor. Ziel seiner Innovation: die Menschen im Rollstuhl noch individueller zu versorgen.
3D-Druck – Stand der Technik
Welche Vorteile die Herstellung einer 3D-Rückenschale im Vergleich mit einer herkömmlichen Versorgung hat, zeigte Andreas Walter, OTler bei der Ortho-Team GmbH. Die Mitarbeiter:innen des Unternehmens scannen den Vakuumabdruck und modellieren diesen Scan anschließend am Computer. Am Ende des Prozesses wird die Schale über den 3D-Drucker ausgedruckt. Man müsse sich den 3D-Druck der Schale so vorstellen, erläuterte Walter den Prozess, dass man ein bisschen Sand nehme, dann Sofortkleber, dann wieder eine Schicht Sand, Kleber, Sand usw.
Gedanklich einen Schritt weiter geht das Projekt „Individuelle Sitzkissen aus dem 3D-Drucker“, das Andreas Gautschi, Projektleiter Innovation, Schweizer Paraplegiker Stiftung (SPS), Nottwil, vorstellte. Noch befinde sich das Projekt in einem sehr frühen Forschungsstadium. Die Herausforderungen seien weiterhin die riesige Datenmenge, die zu einer langen Druckdauer führe, das Gewicht und die Tatsache, dass eine Nachbearbeitung des Kissens wie bei der herkömmlichen Fertigung aus Schaumstoff nicht möglich sei.
Besser Sitzen – mehr Lebensqualität
Wie man mit einfachen Mitteln ein Sitzkissen noch besser machen kann, schilderte Markus Maria Stübner, Werner Wicker Kliniken Bad Wildungen. Der Ergotherapeut und Maschinenbauingenieur ist ein Tüftler. Auf der letzten IKSM-Konferenz vor vier Jahren begeisterte er mit der Vorstellung, wie man Sitzkissen mit einfachen Mitteln im Notfall selbst herstellen kann. Dieses Mal zeigte er Möglichkeiten auf, wie man sich behelfen kann, wenn ein Dekubitus droht oder bereits vorhanden ist und die Bewilligung der Krankenkasse für ein neues Sitzkissen noch nicht vorliegt. Ebenso praxisbezogen berichtete Bart van der Heyden von seinen ersten Ansätzen zur Überarbeitung des Assessments rund um das Thema „Sitzen“ und der damit verbundenen umfassenden Datenerhebung. Mit seinem Vortrag regte er zum Nachdenken an über Fragen wie beispielsweise: Welche Daten benötigt man wirklich und wie kann man die Befundung kurz und knackig halten?
Einen Perspektivwechsel bot der nächste Programmpunkt. Im Rahmen eines Interviews schilderte Roger Suter, langjähriger Tetraplegiker, Vorstandsmitglied SPS und Verwaltungsratspräsident Orthotec Nottwil AG, die Herausforderungen der Sitzanpassungen aus Sicht eines Betroffenen. Seine Erfahrung: Die Expert:innen sagen etwas, aber in der Realität kann deren Sitzanpassung mitunter auch dazu führen, dass die Beweglichkeit des Einzelnen eingeschränkter ist als vorher. Nach der aktuellen Anpassung sei ihm beispielsweise am Bankomaten die Bankkarte eingezogen worden, weil er sich nicht mehr so abstützen konnte wie vor der Anpassung. Nach der Praxis folgte erneut die „virtuelle“ Theorie: Anhand dreier Beispiele zeigte Bart van der Heyden zusammen mit Dr. Alexander Siefert, MSc. Computergestützter Mechanik an der Universität Stuttgart, Dr.-Ing. an der Technischen Universität Darmstadt, welche Möglichkeiten die numerische Analyse mit dem Virtual Human Jo bei der Bewertung von Interventionen für Rollstuhl-Set-ups bietet.
Fokus: Schulter
Wirkt sich die Sitzposition auf die Schulter aus? Was können Betroffene im Alltag für ihre Schulter tun? Praxisnah berichtete Jessica Decker, Physiotherapeutin und Co-Leiterin Therapiemanagement, SPZ Nottwil, im letzten Themenblock aus dem Versorgungsalltag und betonte die Bedeutung der richtigen Sitzhaltung für den Schultergürtel. In diesem Zusammenhang stellte Wiebe de Vries, Group Leader der Schweizer Paraplegiker-Forschung, Abteilung: Shoulder Health & Mobility Group, eine aktuell von ihnen durchgeführte Studie vor, bei der Sensoren messen, wie, wo und wann die Belastung auf die Schulter ausgeübt wird. Anschließend präsentierte Arne Compernolle, Clinical und Training Manager Permobil, sein neues Projekt, bei dem die Entwicklung einer Methodik zum Testen der Stabilitätseigenschaften von Sitzauflageflächen für Rollstühle im Mittelpunkt steht.
Durchbewegen als Prävention
Mit dem Vortrag von Samuel Koch, prominenter Schauspieler und Autor sowie ehemaliger Patient des RSZ Nottwil, fand der Kongress seinen unterhaltsamen Abschluss. Durch ihn bekam das Motto der Veranstaltung ein Gesicht. Er gilt für viele Menschen als ein Paradebeispiel dafür, wie sehr man das Leben auskosten und ausnutzen kann. Wie immer, wenn er spricht, hatten die Zuhörer:innen das Gefühl, für ihn gäbe es keine Grenzen und das obwohl er eine sehr hohe Tetraplegie aufweist. Zum Thema „Prävention“ wurde ein Auszug seines Bewegungsprogramms für Menschen im Rollstuhl gezeigt, das er gemeinsam mit seinem Bruder entwickelt und auf Youtube hochgeladen hat. Damit postuliert er nachdrücklich die Wichtigkeit des Durchbewegens, auch von Körperteilen, die man nicht spürt und nicht benutzt.
Persönlicher Austausch ist intensiver
Im Gespräch mit der OT-Redaktion zeigt sich Verena Zappe, Ergotherapeutin Rollstuhl-Sitz-Zentrum Nottwil (RSZ) und fachliche Leitung des Kongresses, nicht nur begeistert vom ehemaligen Patienten Samuel Koch, sondern auch von der gesamten Präsenzveranstaltung.
OT: Nach vier Jahren Pause: Wie war es für Sie?
Verena Zappe: Einfach großartig. Es haben sich alle gefreut, dass man sich wieder treffen konnte. Ganz viele haben bis zuletzt gedacht, das findet dann doch wieder nur online statt. Man konnte spüren, wie sehr es alle genossen haben, sich live und in persona zu treffen. Die Stimmung war deshalb auch durchweg positiv. Das Feedback, das ich persönlich im Nachgang bekommen habe, auch. Eins ist mir dabei bewusst geworden: Man kann die Vorträge natürlich online abhalten, Referentin Jessica Decker war auch online dazugeschaltet, aber ein Austausch ist, wenn man sich trifft, ein ganz anderer – viel intensiver.
OT: Nach welchen Kriterien haben Sie den Kongress zusammengestellt?
Zappe: Die Themen entwickeln sich immer aus unserem Berufsalltag heraus. Das, was wir sehen und denken, was eventuell für die Kolleg:innen interessant sein könnte, das versuchen wir in dem Kongress widerzuspiegeln. Außerdem habe ich dieses Jahr unter den Teilnehmenden am Ende der Veranstaltung einen Aufruf gestartet, dass man mir Wunschthemen näherbringen kann. Einige haben bereits Ideen eingereicht. Ein Wunsch ist beispielsweise langstreckige Wirbelsäulenaufrichtung als Thema mitaufzunehmen. Und ich denke, dass wir das auch beim 7. IKSM in zwei Jahren aufgreifen werden. Denn das ist so eine Alltagsherausforderung, der wir uns täglich stellen müssen und über die wir uns gerne im Kongress austauschen.
OT: Der Kongress hatte einige Vorträge zum Thema „Digitalisierung und 3D-Druck“: Wie beurteilen Sie aktuell den Stellenwert?
Zappe: Ich glaube schon, dass das ein Weg sein wird, der in der Zukunft seinen Platz finden wird. Aber dafür bedarf es noch einiger weiterer technischer Weiterentwicklungen. Gerade in Bezug auf Druckdauer, Datengröße usw., wie es Andreas Gautschi in seinem Vortrag auch beschrieben hat. Vorteile gibt es aber schon jetzt zu sehen. Zum Beispiel bei der Rückenschale. Die Individualität ist aktuell aus meiner Sicht der größte Vorteil, insofern als die Betroffenen individualisierte Muster und Farben wählen können. Im Allgemeinen sehe ich das ähnlich wie die Entwicklung der Handys, wenn man vergleicht, was früher das Handy konnte und was es heute leistet. In fünf bis zehn Jahren kann dementsprechend die Entwicklung dieser Hilfsmittel schon eine ganz andere Dimension angenommen haben. Aber aktuell haben wir bei uns im RSZ 3D-Drucker im Einsatz, wenn es darum geht, Alltagshilfsmittel herzustellen zum Beispiel, um die Wiedereingliederung von Patient:innen zu unterstützen. Ich halte diese Entwicklung trotzdem für sehr vielversprechend. Aus meinem Gefühl heraus ist die Digitalisierung der Rückenschale näher an einer Verwirklichung als das Sitzkissen. Aber beides wird sehr wahrscheinlich in Zukunft kommen.
Die Fragen stellte Irene Mechsner.
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