Einleitung
Die Mobilisierungstherapie im Sinne von abschulbaren Orthesensystemen zeigt bereits bei der Anwendung im Bereich der Wirbelsäule 1 und des Sprunggelenks 2 einige Vorteile auf. Gerade bei akuten Erkrankungen und Schädigungen des Bewegungsapparates ist eine anfänglich hohe externe Stabilisierung durch Orthesen mit anschließender sukzessiver Reduzierung der Stützung im Verlauf der Therapie angezeigt. Auch im Bereich der Kniegelenke können Orthesen mit Mobilisierungsfunktion die Patientenversorgung positiv beeinflussen. Im Folgenden werden die Vorzüge dieser Therapieform praktisch anhand eines Versorgungsbeispiels verdeutlicht.
Fallbeschreibung und Anamnese
In diesem Versorgungsbeispiel wird ein 30-jähriger männlicher Patient mit sportlicher Statur betrachtet. Nach einem Sportunfall klagt dieser akut über starke Belastungs- sowie Ruheschmerzen im rechten Kniegelenk. Beim Versuch zu belasten beschreibt der Patient ein unkontrolliertes Wegknicken des Gelenks, bekannt als „Giving-way-Phänomen“ 3. Vorschädigungen im Bereich der unteren Extremitäten sind nicht bekannt. Während der Anamnese ist eine deutliche Instabilität in Form einer vorderen Schublade im Gelenkspalt feststellbar. Das MRT bestätigt eine Kombinationsverletzung aus Ruptur des vorderen Kreuzbands (ACL) mit Beteiligung des Innenbands sowie des Innenmeniskus – eine sogenannte „Unhappy Triad“ 4 liegt vor. Zur Behandlung wird eine arthroskopische Rekonstruktions-Operation des vorderen Kreuzbands angesetzt. Im Zeitraum bis zur Operation sowie darauffolgend wird eine Knieorthese zur Führung, Stabilisierung und Mobilisierung mit Abrüstmöglichkeit (GKV-Hilfsmittelverzeichnis-Produktart: 23.04.02.1) verordnet, um den Patienten zu unterstützen. (Abb. 1) Begleitende Physiotherapie soll die Mobilisierung des heilenden Gelenks im Rehabilitationsprozess fördern.
Versorgungskonzept
Durch die starke Schädigung im Kniegelenk ist die körpereigene Gelenkstabilität deutlich herabgesetzt. Es gilt, diesen Stabilitätsverlust so lange durch externe Mittel auszugleichen, bis der Körper wieder selbst in der Lage ist, das Kniegelenk ausreichend zu stabilisieren.
Zu diesem Zweck wird der Patient mit der modularen Knieorthese Tigges „GenuSet 5“ versorgt – ein modulares Orthesensystem mit Mobilisierungsfunktion. Durch Umbau der Orthese kann diese an die verschiedenen Stufen des Rehabilitationsprozesses angepasst werden. Die Orthese bietet zu Therapiebeginn eine hohe Stabilisierungswirkung, welche anschließend stufenweise reduziert werden kann. Somit ist es möglich, die externe Gelenkstabilisierung durch die Orthese auf die Bedürfnisse des Patienten im Therapieverlauf anzupassen.
Anpassung der Hartrahmenorthese
Das neuartige Orthesensystem bietet hohe Flexibilität und gute Adaptionsmöglichkeiten an individuelle Anatomien. Zur Anpassung der Orthese wird zunächst die richtige Größe ermittelt. Es besteht die Möglichkeit, die Aluminiumspangen, welche den Oberschenkel und den Unterschenkel fassen, frei miteinander zu kombinieren. Mit dieser Funktion kann auch bei nicht normativem Zusammenhang der Umfänge von Ober- zu Unterschenkel eine genaue Passform realisiert und die Parallelität der beiden Orthesengelenke gewährleistet werden. Leichte Anpassungen in der Tiefe der Spangen können schnell über seitliche Schrauben vorgenommen werden und ermöglichen somit einen passgenauen Sitz bei unterschiedlichsten Beinanatomien.
Bei dem hier versorgten Patienten passen die Spangen in Größe 3 am Ober- sowie Unterschenkel auf Anhieb gut. Die Spangentiefe wird noch justiert, um die Position der seitlichen Schienen mittig zum Beinverlauf sicherzustellen. Weiterhin können die seitlichen Schienen noch mit Schränkhaken geformt werden.
Aufgrund der Körpergröße des Patienten von 185 cm ist es sinnvoll, die Orthese in ihrer Länge zu erweitern. Über seitliche Schrauben kann die Orthesenlänge auf verschiedene Beinlängen eingestellt werden. Um die Wirkungspunkte der Orthese am Oberschenkel höher und am Unterschenkel tiefer zu platzieren und somit eine effektivere Kraftaufnahme zu realisieren, wird die Orthese in beide Richtungen verlängert. Somit kann die Knieorthese besser auf die einzelnen Bewegungsebenen einwirken.
Zur Verbesserung der Handhabung und Patientencompliance werden mitgelieferte Nummerierungen auf den einzelnen Gurten der Orthese aufgebracht. Somit weiß der Patient, in welcher Reihenfolge die Gurte zu verschließen sind und es kann eine indikationsbezogene Wirkung zur Stabilisierung des Gelenks gewährleistet werden.
Ebenfalls ist der Bewegungsumfang, den die Orthese zulässt, einstellbar. Hierzu können die Bewegungsintervalle 0°, 30°, 60°, 90° oder 120° bzw. uneingeschränkt gewählt werden und nach individuellen Bedürfnissen in 5‑Grad-Schritten zusätzlich angepasst werden. Bis zur anstehenden Operation trägt der Patient die Orthese ohne Einschränkung des Bewegungsumfangs. Postoperativ wird jedoch eine Bewegungslimitierung notwendig sein.
4‑Stufen-Mobilisierungsfunktion
1. Stufe
Die Hartrahmenorthese bietet dem Patienten eine starke zusätzliche Stabilisierung des Kniegelenks. Postoperativ wird der Bewegungsumfang der Orthese auf maximal 30° Knieflexion begrenzt, um das Operationsergebnis zu sichern und Überbelastungen der wiederhergestellten Strukturen zu vermeiden. Mit dem Ziel, den Patienten stufenweise von dieser hohen Stabilisierungsfunktion abzutrainieren und das regenerierende Kniegelenk langsam an höhere Belastungen zu gewöhnen, wird eine schrittweise Mobilisierungstherapie angewendet (Abb. 2).
2. Stufe
Vier Wochen nach der Operation wird die Hartrahmenorthese zu einer Knieführungsorthese im 4‑Punkt-Prinzip umgebaut (Abb. 3). Hierzu werden die Verschraubungen an der seitlichen Schiene gelöst und die Spangen entfernt. Gepolsterte Schalen werden an Schienen montiert und die Gurte wieder eingefügt. Da die an der nun entstandenen Führungsorthese verwendeten seitlichen Aluminiumschienen bereits auf die Beinanatomie des Patienten angepasst wurden, ist keine erneute Anpassung notwendig. Lediglich das freigegebene Bewegungsintervall der Orthese wird auf eine Flexionsbegrenzung von 90° erhöht. Die Orthese bewirkt eine Führung des Kniegelenks in zwei Ebenen sowie andauernde Entlastung des Bandapparates.
3. Stufe
Sechs Wochen postoperativ erfolgt der nächste Mobilisierungsschritt. Es wird auf eine Knieführungsorthese mit Gelenkschienen abgeschult (Abb. 4). Die technische Umsetzung erfolgt durch das Entfernen der Kunststoffschalen und Kondylenpolster von den Aluminiumschienen. Die einzelnen Schienen sind in einer Bandage zu fixieren. Zusätzlich werden auf der Bandage noch die bereits verwendeten Gurte montiert. Die Bewegungslimitierung wird nun aufgehoben, sodass das Gelenk den vollen Bewegungsumfang nutzen kann. Durch den Umbau der Orthese werden wieder mehr Bewegungen ermöglicht und die externe Entlastungs- und Stabilisierungswirkung weiter reduziert.
4. Stufe
Acht Wochen nach der Operation erfolgt die letzte Abschulung der Orthese. Durch das Entfernen der seitlichen Schienen und der Gurte entsteht eine Weichteilkompressionsbandage mit Silikonpelotte (Abb. 5). Das Kompressionsgestrick wirkt weiterhin leicht stabilisierend auf das Gelenk ein. Die Bandage wird zunächst dauerhaft tagsüber getragen und kann im späteren Verlauf nur noch für anstehende Aktivitäten mit hoher Belastung angewendet werden.
Fazit
Die 4‑Stufen-Mobilisierungstherapie mit modularen Knieorthesen bietet auf Basis der GKV-Hilfsmittelverzeichnis-Produktart 23.04.02.1 ein neues Behandlungskonzept in der Patientenversorgung. Eine externe Stabilisierung durch die Orthese wird an die sukzessive steigende Belastungsintensität des geschädigten Kniegelenks angepasst. Das stufenweise Heranführen des Patienten an normale Belastung ist zentraler Bestandteil des 4‑stufigen Therapiekonzepts. Durch den Umbau der bestehenden Orthese und durch die Weiterverwendung von Orthesenkomponenten über mehrere Rehabilitationsphasen wird die Versorgung für den Techniker effizienter und ebenfalls ressourcenschonend. Die zahlreichen Anpassungsmöglichkeiten machen die modulare Knieorthese Tigges „GenuSet 5“ zu einem funktionalen Versorgungssystem, welches sich zwischen konfektionierter Knieorthese und individueller Versorgung einordnet.
Hinweis:
Der Autor hat zur Erstellung des Versorgungsbeispiels Unterstützung von dem Unternehmen Hausladen Medotech Vertriebs-GmbH (Straubing) erhalten und bedankt sich hierfür recht herzlich.
Der Autor:
Dr. med. univ. Thomas Kral
Facharzt für Orthopädie/Unfallchirurgie
Orthozentrum Bogen GbR
Mussinanstraße 31
94327 Bogen
info@orthozentrum-bogen.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Kral T. 4‑Stufen-Mobilisierungstherapie bei Kombinationsverletzungen des vorderen Kreuzbandes – ein Fallbeispiel. Orthopädie Technik, 2023; 74 (3): 40–43
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- Schott C. Überlegenheit modularer Lumbalorthesen mit Mobilisierungsfunktion bei Lumbalgie und Lumboischialgie gegenüber äquivalenten einstufigen Orthesen. Orthopädie Technik, 2020; 71 (1): 42–49
- Andric V, Weber C, Kinkelin M, Traupe F, Waizy H. Orthesenbehandlung nach OSG-Distorsion. Orthopädie Technik, 2016; 67 (5): 82–90
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- Memmel C. Analyse aktueller Nachbehandlungskonzepte nach operativer Versorgung des Kniegelenkes. Publikationsserver der Universität Regensburg, 2020. https://epub.uni-regensburg.de/41711/1/Promotion.pdf (Zugriff am 04.01.2023)