Mit dem Mehrkostenbericht hat der Gesetzgeber den Spitzenverband der Krankenkassen damit beauftragt, Transparenz zu schaffen, wann Versicherte sich privat dafür entscheiden, eine über das medizinisch Notwendige hinausgehende Ausstattung zu wählen. Es geht dem Gesetzgeber um die Sicherung des Sachleistungsprinzips – und damit um die genaue Abgrenzung zwischen Zuzahlung und Aufzahlung bei den verschiedenen Versorgungsgebieten, sprich Produktgruppen.
Datenqualität 1: Unterscheidung von Zuzahlung und Aufzahlung nicht sicher möglich
In dieser Hinsicht muss auch der dritte Bericht vermelden, dass die Datenqualität mindestens auch für das Berichtsjahr 2020 seinen Zweck verfehlt. Waren 2019 schon aufgrund der technischen Möglichkeiten Auf- und Zuzahlung nicht sicher und valide abzugrenzen, so kommt der Bericht ein weiteres Mal zu dem Urteil: „Wie in der Vergangenheit kann auch für den dritten Bericht nicht ausgeschlossen werden, dass in einzelnen Abrechnungen fälschlicherweise die gesetzliche Zuzahlung oder aber von den Versicherten zu tragende Eigenanteile als Mehrkosten ausgewiesen wurden.“
Datenqualität 2: Technische Probleme und falsche Zuordnung der Versorgungsbereiche
Neben den technischen Problemen erbt der Mehrkostenbericht wiederholt die strukturellen Probleme des überarbeiteten Hilfsmittelverzeichnisses, in dem aus verschiedenen Gründen Produktgruppen umgruppiert wurden: „Darüber hinaus hat die vom GKV-Spitzenverband aufgrund des Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetzes bis Ende 2018 durchgeführte Gesamtfortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses in einigen Produktbereichen zu erheblichen strukturellen Änderungen geführt.“ Daher vermerkt der Bericht auch zu Recht hervorgehoben: „Aufgrund von Strukturveränderungen des Hilfsmittelverzeichnisses ist eine Vergleichbarkeit der Daten mit denen des Vorjahresberichts nicht immer möglich.“
Die Zuordnung kann von den Leistungserbringern (oder deren Abrechnungszentren) noch nicht korrekt überführt werden, da noch nicht alle Verträge an die neue Struktur angepasst wurden: „Die notwendigen Anpassungen der Verträge an die strukturellen Änderungen im Hilfsmittelverzeichnis erfolgen sukzessive, sodass Veränderungen der Mehrkostendaten in diesen Produktbereichen auch auf hierdurch bedingte Verschiebungen von Abrechnungen zwischen den verschiedenen Produktgruppen zurückzuführen sind.“ Über diese Umgruppierungen war es bereits in der Vergangenheit in der Folge möglich, dass Daten zu Mehrkosten in Produktgruppen, die qua Vertrag gar keine Mehrkosten zulassen, wie z. B. in der PG 24 (Beinprothesen), plötzlich den Eindruck erwecken, dass sich Versicherte für die Übernahme von Mehrkosten entschieden haben. Auch der Bericht 2020 weist mehr als 20 Prozent Mehrkosten in der PG 24 aus. Mit der überaus schlechten Datenqualität wird jede Aussagekraft hinfällig.
Datenqualität 3: Fehleingaben höher als 1.000 Euro und 10.000 Euro
Die Verfälschungen der Datenqualität berücksichtigt der Bericht, indem er auf seine Korrekturversuche hinweist: „Um Fehleingaben nicht in die Datenauswertung einießen zu lassen, wurden aus Plausibilitätsgründen und unter Berücksichtigung vorliegender Erkenntnisse zu Abrechnungen Angaben zu den Mehrkosten von über 1.000 Euro je Versicherter bzw. je Versichertem extra ausgewiesen; bei Hörhilfen-Versorgungen wurde dieser Wert auf 10.000 Euro festgesetzt.“
Datenqualität 4: Eingaben Leistungserbringer bzw. Abrechnungsdienstleister nicht valide
Nachdem der Bericht auf seine eigenen technischen und strukturellen Unschärfen der Daten verweist und auch deutlich darauf hinweist, dass hier Abrechnungsdienstleister an Vorgaben gebunden sind, die nichts anderes zulassen und daher die „Fehler“ wegen zugrundeliegender Vertragspflichten der Leistungserbringer nicht zu vermeiden sind, weist der Bericht dann auch noch darauf hin, dass auch Leistungserbringer vor Fehlern nicht gefeit sind: „Unabhängig hiervon ist auch in Rechnung zu stellen, dass die dem Bericht zugrundeliegenden Mehrkostendaten auf den Angaben der Leistungserbringer (oder deren Abrechnungsdienstleistern) im Rahmen der Abrechnung gemäß § 302 Absatz 1 SGB V beruhen und die Validität der Daten damit von der vollständigen und korrekten Mitteilung durch die Leistungserbringer abhängig ist.“
Statistische Berichte und ihre Aussagekraft können nur so gut sein, wie die Daten, die ihnen zugrunde liegen. Die Einschränkungen, die der GKV-Spitzenverband bezüglich der Datenqualität im Bericht vermerkt, verweisen darauf, dass hier grundlegende Mängel vorliegen.
Forderungen des Spitzenverbandes nach noch mehr Daten verletzt Patientenrechte
Verständlich, dass der GKV-Spitzenverband die Qualität des Mehrkostenberichts selbst in seinen Stellungnahmen immer wieder kritisch kommentiert. Statt zu Protokoll zu geben, dass die Erhebung der Mehrkosten bislang außer einem immensen bürokratischen Aufwand nur das Ergebnis gebracht hat, dass sich die überwiegende Mehrheit der Versicherten im Rahmen der aufzahlungsfreien Versorgung bewegt und daher es durchaus vertretbar sei, den Sinn des Mehrkostenberichts als Ganzes in Frage zu stellen – fordert der GKV-Spitzenverband regelmäßig die Erhebung von noch mehr Daten. Die Interessensvertretung der Krankenkassen habe „sich mehrfach dafür eingesetzt, von den Leistungserbringern weitergehende Informationen zu erhalten, um den Mehrkostenberichten mehr Aussagekraft zu verleihen“.
So möchte der Spitzenverband der Krankenkassen gerne ausgerechnet von den Leistungserbringern die Erhebung der genaueren Gründe für die Entscheidung jener 20 Prozent, die sich laut Mehrkostenbericht privat und freiwillig nach der entsprechenden Beratung für eine „höherwertige“ Versorgung entscheiden.
Der Interessenverband äußert diese Forderung immer wieder – auch wenn ihm bewusst ist, dass der Gesetzgeber hier klare Grenzen zieht und hier die Privatautonomie der Entscheidung eines Patienten, Mehrkosten für eine höherwertige Versorgung zu tragen, entschieden schützt. Leistungserbringer sind im Gegenteil dazu aufgefordert, lediglich notwendige Daten zu erheben, wie es im Bericht korrekt heißt: „Allerdings sind die Leistungserbringer gemäß § 302 Absatz 1 SGB V bei der Abrechnung der Leistungen nur verpichtet, die Höhe der von den Versicherten gezahlten Mehrkosten anzugeben, nicht aber auch die Gründe hierfür.“
Fazit: Eine Branche unter dauerhaftem Generalverdacht
Bereits der dritte Mehrkostenbericht stellt mit seiner Mischung aus – unter immensem Aufwand erstellter – äußerst schlechter Datenlage und Forderung nach noch mehr Daten nur eines klar: Es gibt eigentlich keinen plausiblen Grund, den Mehrkostenbericht fortzusetzen.
Er trägt damit nur zu einem bei: Hier wird eine ganze Branche unter den dauerhaften Generalverdacht gestellt, dass Leistungserbringer Versicherte nicht über ihre gesetzlichen Leistungsansprüche informieren und sie zu Mehrkosten drängen. Damit werden Versicherte, die sich in freier Entscheidung für eine höherwertige Versorgung aussprechen,
ebenso diskriminiert und innovative Gesundheitsleistungen mit einem Mehrwert für den Patienten ausgebremst.
Der „3. Bericht des GKV-Spitzenverbandes über die Entwicklung der Mehrkostenvereinbarungen für Versorgungen mit Hilfsmittelleistungen“ ist als Download verfügbar.
Laut Definition von „digitalwiki“ kommt dem Begriff „Datenqualität“ folgende Bedeutung zu: „Datenqualität ist die Bewertung von Datenbeständen hinsichtlich ihrer Eignung, einen bestimmten Zweck zu erfüllen (fitness for use). Als Kriterien gelten dabei die Korrektheit, die Relevanz und die Verlässlichkeit der Daten, sowie ihre Konsistenz und Verfügbarkeit auf verschiedenen Systemen.“
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