OT: Was sind die häufigsten Fehler bei der Antragstellung?
Nina Sörensen: Die Fehler liegen meist weit vor der Antragstellung: zu wenig Anamnese, zu geringe medizinische Kenntnisse, zu wenig Beobachtung der Patienten in deren „Rest“-Funktionen und leider zu wenig Selbstvertrauen gegenüber den verordnenden Ärzten. Letzteres führt in vielen Fällen dazu, dass die Rollstuhlversorger das Rezept des Arztes einfach abarbeiten, ohne es zu hinterfragen. Sie verzichten auf eine eigenständige Anamnese der Patienten. Dabei liefert die Anamnese entscheidende Erkenntnisse für eine bedarfsgerechte Versorgung und damit Argumente für stichhaltige Detailbegründungen der angestrebten Versorgung, die für die Antragstellung auf Kostenübernahme durch die Krankenkassen wesentlich sind. Hinzu kommt, dass Reha-Techniker nicht selten keine erweiterten medizinischen Kenntnisse zu den verschiedenen Diagnosen ihrer Patienten besitzen. Multiple Sklerose (MS) ist nicht gleich Multiple Sklerose und Querschnittlähmung ist nicht gleich Querschnittlähmung. Die Symptombreite ist ungemein groß und beeinflusst selbstverständlich die funktionellen Fähigkeiten des Patienten mit Hilfsmitteln umzugehen. Ein an MS erkrankter Patient leidet beispielsweise oft an Taubheitsgefühlen in den Händen und braucht daher eventuell einen Antigrippreifreifenüberzug für die Antriebsräder seines Rollstuhls. Andere Diagnosen wie Rheuma können die Handkraft so negativ beeinflussen, dass das Anheben eines Standard-Rollators am Bordstein unmöglich wird, sodass hier klar ein Leichtgewichtrollator begründbar ist, um einen wirklichen Behinderungsausgleich im Alltag zu erreichen. Bei MS kann aber auch die Balancefähigkeiten eines Patienten eingeschränkt sein, welche sich wiederum auf den Transfer in oder aus dem Rollstuhl auswirken. Deshalb sollten Reha-Techniker jeden Patienten gründlich befragen und vor allem auch bei den entsprechenden Handlungen beobachten. Bei der Rollstuhlversorgung heißt es, etwa rauszufinden, wie der Patient ein- und aussteigt, wie positioniert er sich im Stuhl, wie stark stützt er sich auf die Armlehne auf. Stützt sich ein Patient zum Beispiel schon beim Sitzen permanent auf seiner Armlehne auf, ist der Rollstuhl nicht richtig angepasst. Zusammengefasst: Die spätere Begründung der Rollstuhlversorgung ergibt sich nicht nur aus der Hauptdiagnose, sondern aus den konkret vorliegenden und daher zu hinterfragenden funktionellen Fähigkeiten des einzelnen Patienten.
OT: Inwieweit kann die Anamnese bereits eine Stolperfalle für ein Genehmigungsverfahren sein?
Sörensen: Eine gründliche Anamnese kann keine Stolperfalle sein. Die wahre Falle ist es, keine Anamnese durchzuführen. Um es greifbarer zu machen, schildere ich Ihnen gern ein weiteres Beispiel: Als erfahrener Reha-Techniker haben Sie für den gerade vor Ihnen sitzenden Patienten bereits verschiedene Versorgungsmöglichkeiten mit ihren Vor- und Nachteilen im Hinterkopf. Um aber die richtige auszuwählen, müssen Sie den Patienten die passenden Fragen stellen. Wenn ich über ein zusätzliches teures Versorgungselement wie eine Sitzkantelung nachdenke, muss ich den Patienten fragen oder noch besser: zeigen lassen, ob er sich im Rollstuhl selbst zurechtrücken kann, ob er seine Sitzposition aus eigener Kraft verändern kann und ob er genug Oberkörperstabilität besitzt, um aufrecht im Stuhl zu sitzen. Auch wenn dieser bergab fährt (also nach vorn geneigt ist). Kann der Patient all dies ohne Hilfe leisten und die Sitzposition stimmt, braucht er aus medizinischer Sicht keine Sitzkantelung und kann ich diese bei der Kasse nicht begründen. Mit der Anamnese kann der Versorger Schritt für Schritt alle möglichen Zusatzausstattungen ausschließen oder als maßgeblich erachten. Maßgeblich und damit begründbar sind nur Ausstattungen, die dazu dienen, den vom Gesetzgeber in § 33 SGB V geforderten „Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, oder einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen.
OT: Welche Rolle spielt die Pflegesituation beim Antrag auf Hilfsmittelversorgung?
Sörensen: Hat ein Patient einen Pflegegrad und damit eine Pflegeperson, erweitert sich das Begründungsspektrum. Die bedarfsgerechte Versorgung richtet sich dann nicht mehr nur nach der zu pflegenden Person, sondern jetzt auch nach der pflegenden Person. Bleiben wir bei dem Beispiel Sitzkantelung: Der Nutzen einer Sitzkantelung kann nunmehr mit dem Bedarf des Patienten aber auch mit der Entlastung des Pflegepersonals begründet werden. Siehe § 40 SGB XI: „Pflegebedürftige haben Anspruch auf Versorgung mit Pflegehilfsmitteln, die zur Erleichterung der Pflege oder zur Linderung der Beschwerden des Pflegebedürftigen beitragen oder ihm eine selbstständigere Lebensführung ermöglichen.“
OT: Können Sie uns Beispielbegründungen für die nach § 12 SGB V geforderte ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung nennen?
Sörensen: Dieser Paragraf ist selbstverständlich sehr wichtig für die Hilfsmittelversorgung, kann aber nicht allein betrachtet werden. Denn er ist nicht isoliert gültig, auch wenn er gern so aufgeführt wird in den Ablehnungsschreiben. Der 12er steht nie allein. Er muss in Verbindung mit zum Beispiel dem 33er oder dem 40er betrachtet werden. Ausreichend und zweckmäßig Um den Ausgleich der Behinderung oder den Erfolg der Krankenbehandlung oder der Erleichterung der Pflege etc. zu erreichen. Ich habe zuvor schon das Beispiel des Leichtgewichtrollators erwähnt. Betrachten wir zwei Patientinnen: gleich alt, gleiche Diagnose, gleiche Körpergröße, gleiches Gewicht. Für beide scheint ein Standardrollator auf den ersten Blick ausreichend, um den Ausgleich der Behinderung (hier Gangunsicherheit) zu gewährleisten. Damit ist der Standardrollator hier ausreichend und zweckmäßig. Wenn aber nun die eine der Frauen aufgrund einer Zusatzdiagnose wie Handkraftverlust, schmerzhafte Schultern, Gleitwirbel, Bandscheibenvorfall in der HWS etc. nun nur ein wesentlich geringeres Gewicht heben darf, als ein Standardrollator wiegt, so wäre es für diese Patientin bereits am Bordstein gegenüber ihres Hauses mit dem Ausgleich der Behinderung erledigt. Sie kann die Bordsteinkante nicht überwinden oder in einen Bus einsteigen. Für diese Patientin wäre also der Standardrollator nicht mehr geeignet, um den Behinderungsausgleich zu schaffen. Daher also nach § 12 nicht ausreichend – und damit auch egal wie billig – nicht mehr wirtschaftlich. Eine Kostenübernahme des teureren Rollators ist hier von der Krankenkasse zu gewähren. Gleiches gilt bei der Rollstuhlversorgung. Ich will das mal auf die Spitze treiben: Ein Patient X könnte zum Beispiel mit zwei sehr ähnlichen Rollstühlen versorgt werden. Einziger Unterschied wäre etwa die Entriegelungsart der Fußrasten. Für einen Spastiker kann es oft sein, dass er nur eine bestimmte Art der Fußrastenentriegelung bedienen kann. Kann er bei einem der beiden Modelle diese nicht bedienen, so könnte er den Rollstuhl nicht selbstständig verlassen – obwohl ihm das vom Krankheitsbild (Teilfußgänger) möglich wäre. In diesem Fall muss die Kasse den Rollstuhl übernehmen, bei welchem dieser betreffende Patient die Entriegelung sicher bedienen kann. Mal ist das der günstigere, mal der teurere. Um den Preis darf es nicht gehen. Und zwar in aller Deutlichkeit: weder der Kasse, noch dem Sanitätshaus! Wie gesagt, entscheidend ist bei der Betrachtung des § 12 nicht die Wirtschaftlichkeit im Sinne vom Preis, sondern, ob ein Hilfsmittel bei diesem speziellen Patienten den Erfolg der Krankenbehandlung, die Vorbeugung einer drohenden Behinderung oder den Ausgleich einer Behinderung erreicht, wie in § 33 beschrieben. Nur wenn mehrere Hilfsmittel bei einem Patienten die gleichen Ausgleichsmöglichkeiten erzielen, darf die Krankenkasse das günstigste Hilfsmittel für die Versorgung auswählen. Und umgekehrt hat auch das Sanitätshaus hier die Pflicht, keine Überversorgung rauszuhauen“. Zugunsten der Krankenkassen möchte ich betonen, dass Komfort, Freizeit oder Optik nicht Aufgabe der Krankenkassen sind. Möchte ein Patient seinen Speichenschutz etwa mit einem Fan-Logo verzieren lassen, ist das Privatangelegenheit. Ein Logo dient keinem Behinderungsausgleich oder Behandlungserfolg. Der „nackte“ Speichenschutz ist medizinisch ausreichend und zweckmäßig, um Hände vor Speichen zu schützen. Wenn wir als Versorger versuchen, die Kosten für medizinisch nicht begründbare Hilfsmittel oder Ausstattung dieser Hilfsmittel erstattet zu bekommen, verspielen wir unsere Glaubwürdigkeit bei den Kassen und damit Vertrauen. Darunter leiden am Ende die Patienten.
OT: Gibt es Schulungen für Mitarbeiter von Sanitätshäusern im Bereich der Antragsbegründungen?
Sörensen: Selbstverständlich. Sanitätshausmitarbeiter finden hierzu Angebote bei verschiedenen Seminaranbietern. Ich selber halte Vorträge, Kurse und Seminare zu den Themen Rollstuhlanpassung, Versorgungsbegründung und Krankheitsbilder unter anderem bei der Einkaufsgenossenschaft Egroh und der Bundesfachschule für Orthopädie-Technik e.V. (BUFA) oder halte bei ausreichender Teilnehmerzahl auch Inhouseseminare. Das Seminar für zielführende Begründungspraxis gibt es zurzeit nur bei der Egroh.
Das Interview führte Ruth Justen.